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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2000


II. Forschungsvorhaben

H. Europarecht

Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß: wechselseitige Rezeption, konstitutionelle Evolution und föderale Verflechtung (Habilitationsschrift)

Die wechselseitige Rezeption und Verflechtung der europäischen und deutschen Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß ist das Thema der im Berichtszeitraum abgeschlossenen Habilitationsschrift von Dr. Thomas Giegerich. Die transnationale Konstitutionalisierung, d.h. der Staatsgrenzen und Entscheidungsebenen überschreitende Aufbau von Verfassungsstrukturen, stellt den Versuch dar, die verfassungsstaatlichen Errungenschaften der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einem Zeitalter der Globalisierung zu bewahren, in dem der abgeschlossene, souveräne Verfassungsstaat seine Entscheidungsautonomie zunehmend verliert.

Im ersten Teil der Arbeit wird gezeigt, daß die transnationale Konstitutionalisierung sich auch als Reaktion auf das Versagen der Staaten bei Aufbau und Wahrung demokratisch-rechtsstaatlicher Verhältnisse in Europa, das zum Ausbruch zweier Weltkriege beigetragen hat, erklärt. Vor diesem Hintergrund ist nach 1945 gerade in Europa mit Europarat, OECD, WEU/NATO und OSZE ein Netzwerk zur institutionellen Gewährleistung von demokratisch-rechtsstaatlicher Sicherheit aufgebaut, stetig fortentwickelt und territorial ausgeweitet worden, das einer Wiederholung derartiger Katastrophen entgegenwirken soll.

Dieser institutionellen Verflechtung entspricht ein ständig verdichtetes Regelwerk materieller Vorgaben zur Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den europäischen Staaten, die teils - wie insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Protokolle sowie die Europäische Sozialcharta - Rechtsqualität besitzen, teils - wie insbesondere die Charta von Paris für ein neues Europa - politischen Charakter haben. Aus institutioneller Verflechtung und materiellen Vorgaben ist eine europäische Verfassung im weiteren Sinne entstanden, als deren Schlüsseldokumente die EMRK, die Europäische Sozialcharta und die Charta von Paris einzustufen sind.

Im zweiten Teil der Habilitationsschrift arbeitet der Verfasser heraus, daß diese äußeren Kreise der europäischen Verfassung im weiteren Sinn ihr Zentrum im mitgliedschaftlich stetig expandierenden föderalen Kerneuropa der Europäischen Union haben, dessen Herz die Europäische Gemeinschaft bildet - ein nichtstaatliches supranationales Gebilde eigener Art mit Ähnlichkeit zum Bundesstaat. Die Europäische Gemeinschaft ist über ihre Mitgliedstaaten - durchweg stabile Verfassungsstaaten - fest in das verfassungsstrukturelle Sicherungssystem des Netzwerks der europäischen Organisationen eingebunden.

Als funktionales Äquivalent zur Verfassungsstaatlichkeit verfügt die Europäische Gemeinschaft über supranationale Konstitutionalität: Die Gemeinschaftsverfassung, die sich vor allem im EG-Vertrag mit seinen späteren Änderungen und den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen widerspiegelt, ist Quelle aller Hoheitsmacht der Europäischen Gemeinschaft, die nur nach ihrer Maßgabe und in den von ihr festgelegten Formen, Verfahren und Grenzen ausgeübt werden darf. Nurmehr seiner äußeren Form nach völkerrechtliche Vereinbarung, steht der Verfassungscharakter des EG-Vertrags infolge eines mehr als vier Jahrzehnte währenden, im Vertrag selbst angelegten und von den Mitgliedstaaten mitgetragenen Konstitutionalisierungsprozesses inzwischen ganz im Vordergrund. Denn der Vertrag kann im gegenwärtigen Integrationsstadium nur noch durch Rückgriff auf verfassungsrechtliche Kategorien angemessen verstanden und unter Benutzung verfassungsrechtlicher Terminologie zutreffend beschrieben werden.

Der EG-Vertrag ist zur Verfassungscharta eines Gemeinwesens geworden, das die Einzelperson zur Unionsbürgerin entmediatisiert, sie ihrem Staat als Rechtsträgerin gegenüber gestellt und damit den Staatenverein um einen Völkerverein ergänzt hat. Den Mitgliedstaaten schneidet diese Entwicklung die Flucht aus der Gemeinschaftsverfassung in das Völkerrecht etwa durch Rückgriff auf Selbsthilfemaßnahmen ebenso ab, wie sie deren völkerrechtliche Herrschaft über den EG-Vertrag negiert. Denn zur freien Verfügung über die gemeinschaftsverfassungsrechtliche Position ihrer Bürger sind die Staaten nicht mehr befugt: Unter den demokratischen Anforderungen der Gegenwart gilt mehr noch als im monarchischen Deutschland des 19.Jahrhunderts, daß eine einmal erlassene Verfassung, die Rechte - damals der Stände, heute der Völker - begründet hat, nicht ohne deren Zustimmung widerrufen werden kann.

Die Europäische Gemeinschaft ist in einer ihrer supranationalen (nichtstaatlichen) Gestalt adäquaten Weise föderal, demokratisch und rechtsstaatlich strukturiert. Dabei wird ihre Verfassungsstruktur nicht im EG-Vertrag als ihrer Gründungsurkunde fertig formuliert, sondern nur ansatzweise vorgegeben und im übrigen ihrer verfaßten einschließlich ihrer verfassungsändernden Gewalt zur Nachbesserung und Fortentwicklung im Gleichklang mit der Integrationsverdichtung aufgegeben (Optimierungsgebot).

Kennzeichen der Europäischen Gemeinschaft in föderaler Hinsicht ist ihre duale Struktur als Gemeinschaft der Verfassungsstaaten und ihrer Völker. Gemeinsam und jeweils zur gesamten Hand haben Staaten und Völker die verfassungsgebende Gewalt der Gemeinschaft inne: Diese liegt folglich bei den verfaßten und verfassungsgebenden Gewalten der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit. Nur die unmittelbare Einbindung der Völker in den pouvoir constituant der zum Durchgriff auf die Einzelperson ermächtigten Gemeinschaft wird dem Grundsatz der Volkssouveränität als Kernelement gemeineuropäischer Demokratievorstellungen gerecht.

Da föderale Systeme ohne verfassungsstrukturellen Grundkonsens keinen Bestand haben können, macht die Gemeinschaftsverfassung den mitgliedstaatlichen Verfassungen zur Wahrung der Homogenität seit jeher Vorgaben hinsichtlich eines rechtsstaatlich-demokratischen Mindeststandards. Diese verfassungsstrukturellen Mitgliedschaftsvoraussetzungen sind durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam nur verdeutlicht worden. Die Homogenitätsvorgaben implizieren auch eine verfassungsstrukturelle Kompensationspflicht der Mitgliedstaaten, die unvermeidliche integrationsbedingte Verwerfungen in ihrer Verfassungsstruktur durch Kompensationsmaßnahmen auffangen müssen, indem sie etwa ein entstandenes Übergewicht der Exekutive durch Stärkung der Legislative wieder abbauen.

Zur Unterstützung des strukturellen Integritätsinteresses der Mitgliedstaaten muß die Gemeinschaft ihrerseits Rücksicht auf die nationalen Verfassungsstrukturen nehmen. Im Rahmen der Gemeinschaftstreue erfolgt ein flexibler Ausgleich zwischen dem rechtsstaatlichen Interesse an der Effektivität des Gemeinschafts- (Verfassungs-) Rechts und dem föderalen Interesse an der Unversehrtheit der nationalen Verfassungsstrukturen: Die Rücksichtnahmepflicht der Gemeinschaft und die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Anpassung ihrer Verfassungen an die Erfordernisse der Integrationsverdichtung stehen dabei in einem Gegenseitigkeitsverhältnis.

Wie jede Variante des von einer Durchgriffsbeziehung zwischen der föderalen Ebene und den Völkern der (Mit-) Gliedstaaten geprägten Föderalismus beruht der EG-Föderalismus auf den miteinander konfligierenden Prinzipien der Gleichheit der (Mit-) Gliedstaaten (bündisches Element) und der Gleichheit ihrer Völker (demokratisches Element). Auch er verlangt daher im Gesetzgebungsverfahren der föderalen Ebene einen Kompromiß zwischen dem Anspruch der Mitgliedstaaten auf gleiches Stimmgewicht unabhängig von der Bevölkerungszahl und dem Anspruch ihrer Völker auf gleiche Repräsentation entsprechend ihrer Zahlenstärke, wie er nur in einer Zweikammerlegislative gefunden werden kann.

Dieser Kompromiß - Lebensnerv jeder föderalen Integration - konnte in der sich erst allmählich aus der Ratsherrschaft herausentwickelnden Zweikammerlegislative der EG nicht durch reine Umsetzung des einen Anspruchs in der einen und des anderen in der anderen von zwei gleichberechtigten Kammern gelingen, sondern nur durch die je verschieden weitgehende Realisierung beider Ansprüche in der Zusammensetzung beider Kammern. Folge dieses Kompromisses ist eine doppelte Überrepräsentation - die Überrepräsentation der kleinen Völker im Parlament und die Überrepräsentation der großen Staaten im Rat.

Die Legitimität von Herrschaft beruht auf drei miteinander verknüpften Faktoren - der Input-Legitimität, der Output-Legitimität und der sozialen Legitimität. Die Input-Legitimität, welche die Legitimität von Herrschaft danach bemißt, wie groß der Einfluß der Herrschaftsunterworfenen durch Wahlakte und Verfahrensbeteiligungen auf den Entscheidungsfindungsprozeß ist, steht im Zeitalter des Demokratieprinzips im Mittelpunkt des juristischen Interesses. Demgegenüber stellt die Output-Legitimität auf die Leistungsfähigkeit des Systems ab, effiziente und effektive Problemlösungen hervorzubringen, plädiert also für Verlagerungen von Zuständigkeiten auf Ebenen mit hoher Problemlösungskapazität sowie einfache und schnelle Entscheidungsverfahren. Die soziale Legitimität knüpft schließlich an das Maß der Identifikation an, das die Herrschaftsunterworfenen dem Hoheitsträger zu erbringen bereit sind; sie verlangt einerseits Bürgernähe, steigt andererseits aber auch mit dem Output an Problemlösungen, und zwar um so mehr, je größer gleichzeitig der Input der Herrschaftsunterworfenen ist. In diesem komplexen Geflecht kann die Legitimität der Gemeinschaftsgewalt nicht allein anhand des Input-Faktors bestimmt werden, wie wichtig dieser auch sein mag.

In demokratischer Hinsicht ist die Gemeinschaft - spiegelbildlich zu ihrer dualen föderalen Struktur - gekennzeichnet durch einen doppelten Legitimationszusammenhang zwischen Gemeinschaftsgewalt und Völkern: Die Legitimation erfolgt unmittelbar durch das direkt gewählte Europäische Parlament, mittelbar auf dem Weg über die nationalen Parlamente und die von ihnen getragenen nationalen Regierungen durch den aus Vertretern dieser Regierungen zusammengesetzten Rat.

Da der Rat nach wie vor über mehr politische Macht verfügt, dominiert die mittelbare Legitimation, obwohl deren Tragfähigkeit schon bei den oft intransparent zustande gekommenen, wenngleich einstimmig verabschiedeten Kompromißentscheidungen und Paketlösungen im Rat fraglich ist. Werden zwecks Wahrung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft Mehrheitsentscheidungen im Rat zur Regel, wird der Ausbau der unmittelbaren Legitimation über ein zur echten zweiten Kammer ausgebautes Europäisches Parlament um so wichtiger.

Die gleichzeitige unmittelbare Einbeziehung der nationalen Parlamente in das Entscheidungsverfahren auf Gemeinschaftsebene vermag dessen Exekutivlastigkeit zu mildern. Wenn dadurch weder die Entscheidungsfindung durch Organvermehrung übermäßig erschwert noch die im institutionellen Gefüge der EG sorgfältig austarierten Gewichte zwischen Gemeinschaftsinteresse und nationalen Interessen verschoben werden sollen, verbleibt nur die Möglichkeit, neben den Vertretern der nationalen Regierungen eine gleiche Anzahl von Vertretern der nationalen Parlamente in die mitgliedstaatlichen Ratsdelegationen einzubeziehen. Als Vorbild für eine solche Kombination von Bundesrats- und Senatsprinzip im föderalen Vertretungsorgan der Gemeinschaft könnte die freilich niemals praktisch erprobte Paulskirchenverfassung von 1848/49 dienen.

Prägende Merkmale der Rechtsstaatlichkeit der Gemeinschaft sind die gemeinschaftsweite Einheit und Effektivität des Gemeinschaftsrechts. Als Rechtsgemeinschaft ist die EG eine Schöpfung allein des Rechts, nicht der Macht. Sie wird daher nur durch die effektive und einheitliche Durchsetzung dieses Rechts zur politischen Wirklichkeit. Kernelemente ihrer Rechtsstaatlichkeit sind die unmittelbare Anwendbarkeit und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht jeder Art - beides Produkte des europäischen Richterrechts.

Dem Anspruch des Gemeinschaftsrechts auf unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang haben die Mitgliedstaaten sich durch ihre Ratifikation der Gemeinschaftsverfassung unterworfen. Allein infolge dieser Unterwerfung realisiert er sich im Rechtsraum jedes Mitgliedstaates, indem er dort den Einzelpersonen unmittelbar Rechte verleiht oder Pflichten auferlegt und die staatlichen Behörden und Gerichte unmittelbar verpflichtet, diese Rechte oder Pflichten durchzusetzen, ohne daß dazu neben dem gemeinschaftsverfassungsrechtlichen ein gesonderter nationaler Rechtsanwendungsbefehl erforderlich wäre. Während das herrschende dualistische Erklärungsmodell für das Verhältnis von Völker- und Staatsrecht von der rechtlichen Impermeabilität der souveränen Staaten ausgeht, die durch einen nationalen Rechtsanwendungsbefehl von innen her aufgeschlossen werden muß, um dem Völkerrecht, das selbst keinen Rechtsanwendungsbefehl enthält, Eingang ins nationale Recht zu verschaffen, beruht das Verhältnis des supranationalen Gemeinschaftsrechts zum Recht der Mitgliedstaaten gerade auf der Überwindung klassischer Souveränitätsvorstellungen: Gemeinschaftsrecht und nationales Recht sind wie Bundesrecht und Landesrecht in Deutschland als Teile einer einheitlichen föderalen Rechtsordnung aus sich heraus ohne weiteres anwendbar. Da das Gemeinschaftsrecht hinreichend demokratisch legitimiert und rechtsstaatlich kontrolliert ist, besteht - anders als möglicherweise beim Völkerrecht - keine Notwendigkeit, seiner innerstaatlichen Anwendung einen nationalen Zulassungsmechanismus vorzuschalten. Dessen Einsatz zur Ausschließung gültiger Gemeinschaftsrechtssätze von der innerstaatlichen Anwendung würde mit der Unverbrüchlichkeit der Gemeinschaftsverfassung zugleich deren Rechtsstaatlichkeit negieren.

Im dritten Teil der Arbeit widmet Dr. Giegerich sich der Problematik der deutschen Verfassung als Glied der europäischen Verfassung. Er zeigt, daß die Verfassungsverhältnisse in Deutschland als Teil der „deutschen Frage“ seit Jahrhunderten in besonderem Maße Gegenstand europäischen Interesses und europäischer Einflußnahme gewesen sind. Dies hat zu einer fruchtbaren Synthese eigener und fremder - teils rezipierter, teils oktroyierter - Vorstellungen im deutschen Verfassungsrecht geführt. Gerade strukturelle Fortschritte konnten dort häufig nicht allein aus eigener Kraft, sondern nur mit Hilfe äußerer Anstöße realisiert werden, wie sich zuletzt bei der Einführung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch das Grundgesetz gezeigt hat.

Nicht zuletzt durch seine Eingliederung in die föderale Verfassungsverflechtung der europäischen Integration ist der deutsche Staat zum stabilen Verfassungsstaat und gleichberechtigten Partner geworden, der heute weder hegemoniale Eingriffe in seine Verfassungsordnung zu fürchten hat, noch seine Nachbarn mit solchen Eingriffen bedroht. Nur auf diesem Wege hat er auch seine nationale Einheit wiedergewinnen können.

Die Entscheidung für die europäische Einigung stellt neben der Entscheidung für die staatliche Einheit die zweite grundsätzliche Weichenstellung des Verfassungsgebers dar, der in der Präambel des Grundgesetzes die europäische Integration als Staatsziel, Verfassungsauftrag und Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland der Wiedervereinigung gleichgeordnet hat. Nach Erreichung des Wiedervereinigungszieles hat der verfassungsändernde Gesetzgeber das noch unerfüllte europäische Einigungsziel folgerichtigerweise im frei gewordenen Art. 23 GG verdeutlicht, konkretisiert und ausgebaut.

Ungeachtet ihres verfassungsprägenden Charakters erklärt Art. 79 Abs. 3 GG die Integrationsfreundlichkeit des Grundgesetzes nicht für unabänderlich, doch kann der verfassungsändernde Gesetzgeber diese nicht ohne Rücksicht auf seine gemeinschaftsverfassungsrechtlichen Bindungen revidieren. Das über Art. 20 GG für ihn unantastbare Rechtsstaatsprinzip stünde jedenfalls einer Änderung des Grundgesetzes entgegen, welche die Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts für die verfaßte deutsche Staatsgewalt durch Aufhebung der Integrationsermächtigung grundsätzlich in Frage stellen würde.

Mit der Völkerrechts- und Integrationsfreundlichkeit des Grundgesetzes hat der Verfassungsgeber auch Vorstellungen von Verfassungsautarkie eine Absage erteilt und sich für die föderale Verfassungsverflechtung in Europa entschieden. Auf diesem Wege erhoffte er sich eine Überwindung der verfassungsstrukturellen Labilität, die Europa und insbesondere Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg heimgesucht hatte. Zugleich sollte der europäische Zusammenschluß die kriegszerstörten und wirtschaftlich darniederliegenden europäischen Staaten gegen den als Bedrohung empfundenen Kommunismus schützen helfen.

Die binnengerichteten Strukturmerkmale des Grundgesetzes - vor allem Föderalismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - und seine außengerichteten Strukturmerkmale - Völkerrechts- und Integrationsfreundlichkeit - bedingen einander: Wie die demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsstruktur der Gewährleistung einer friedlichen, völkerrechtsfreundlichen sowie auf Kooperation und Integration angelegten Außenpolitik dient, so wirken Völkerrechts- und Integrationsfreundlichkeit gerade im europäischen Netzwerk zur institutionellen Gewährleistung von demokratisch-rechtsstaatlicher Sicherheit daran mit, die demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsstruktur Deutschlands zu festigen.

In ihrer gegenseitigen Bedingtheit sind Integrationsfreundlichkeit und föderal-demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsstruktur keine Gegensätze, sondern gleichberechtigte Elemente eines einheitlichen Gesamtbildes des Grundgesetzes, die vom Verfassungsgeber gemeinsam aufgegeben und schon deshalb gemeinsam zu realisieren sind, weil sie unter den heutigen Bedingungen nur noch gemeinsam realisiert werden können. Sie stehen in einem symbiotischen Verhältnis. Daher dürfen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Strukturelemente des Grundgesetzes nicht gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Strukturelemente der Gemeinschaftsverfassung ausgespielt, d.h. die einen nicht auf Kosten der jeweils anderen angestrebt werden.

Da der Verfassungsgeber den deutschen Verfassungsstaat als in die Völkerrechtsgemeinschaft und das einige Europa eingebundenes Glied konstituieren wollte, weil seine Verfassungsstruktur in diesem Rahmen bestmöglich verwirklicht werden konnte, müssen auch die änderungsfesten Strukturprinzipien des Grundgesetzes völker- und gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden.

Im Lichte der Konstitutionalität der Europäischen Gemeinschaft und ihrer föderal-demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsstruktur dient Art. 23 GG als Wegbereiter und Wegbegleiter der europäischen Integration, nicht als Verteidigungsbastion der deutschen Verfassungsstaatlichkeit und Integrationshindernis. Denn die europäische Integration stellt für die deutsche Verfassungsstruktur eher eine Chance als eine Gefahr dar: Die Strukturprinzipien des Grundgesetzes bilden in einer Synthese mit den gleichberechtigten Strukturprinzipien der Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten das Verfassungsfundament der Europäischen Gemeinschaft als neues föderales Gemeinwesen aller Mitgliedstaaten und ihrer Völker. In dieser synthetisierten Form gewinnen sie auch Einfluß auf die Verfassungsentwicklung in den anderen Mitgliedstaaten. Schließlich kann die Integration Verfassungsreformen in Deutschland anstoßen, welche dessen Verfassungsstruktur zu stärken vermögen.

Die Eingliederung des deutschen Verfassungsstaats in die föderale europäische Integration ändert die deutsche Verfassungsstruktur in zweierlei Hinsicht: Erstens kann die Gemeinschaftsgewalt seither mit Vorranganspruch auf die Deutschen durchgreifen, ohne ihrerseits an das Grundgesetz gebunden zu sein. Dies erfordert eine Neubestimmung der Verfassungsstaatlichkeit insbesondere im Hinblick auf die demokratische Legitimation und rechtsstaatliche Kontrolle von Herrschaft, sollen die verfassungsstaatlichen Errungenschaften nicht leerlaufen. Dementsprechend verlangen regionales Völkerrecht und Grundgesetz, daß die an die Stelle der staatlichen tretende supranationale Hoheitsmacht in funktionsadäquater Weise konstitutionell eingebunden, demokratisch legitimiert und rechtsstaatlich kontrolliert wird. Das Grundgesetz hat deshalb mit der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs.1 Satz 1 GG einen gemeinschaftsgerichteten (extrovertierten) Gewährleistungsmechanismus eingeführt, welcher der Gemeinschaftsverfassung diesbezügliche konstitutionelle Vorgaben macht.

Zweitens verschiebt sich infolge der Integration das institutionelle Gleichgewicht in Deutschland vertikal von den Ländern auf den Bund, horizontal von Bundestag und Bundesrat auf die Bundesregierung. Damit derartige Verschiebungen nicht die Essentialia der deutschen Verfassungsstaatlichkeit berühren, bindet Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die deutsche Integrationsgewalt an Art. 79 Abs.3 GG. Diese binnengerichtete Verfassungsschutzklausel des neuen Integrationsartikels impliziert einen introvertierten Kompensationsmechanismus, der die deutsche verfaßte Gewalt verpflichtet, integrationsbedingte Verschiebungen im institutionellen Gleichgewicht des Grundgesetzes so aufzufangen, daß dessen änderungsfeste Essentialia - gegebenenfalls in systemimmanent modifizierter Form - gewahrt bleiben.

Im Kontext der europäischen Integration stellt Art. 79 Abs. 3 GG keinen richterlich zu handhabenden Prüfungsstandard auf, sondern formuliert einen an den (verfassungsändernden) Gesetzgeber gerichteten Auftrag: Statt dem Bundesverfassungsgericht die Befugnis zu geben, quasi-dezisionistisch einen Rubikon zu definieren, der im Zuge der Integration nicht überschritten werden darf, erlegt er den politischen Instanzen die Suche nach positiven Gestaltungsmöglichkeiten auf, mit denen die unabänderlichen Verfassungswerte des Grundgesetzes bei jedem Integrationsfortschritt den integrationsbedingten Einwirkungen bestmöglich akkommodiert, d.h. schonend und substanzwahrend angepaßt werden.

Die Erstreckung des Art. 79 Abs. 3 GG auf den Integrationskontext macht eine kontextgerechte Interpretation der unantastbaren Strukturmerkmale des Grundgesetzes erforderlich, die möglicherweise von ihrer Auslegung in rein binnengerichteter Perspektive abweicht, so etwa in bezug auf den Volksbegriff in Art. 20 Abs. 2 GG, der nicht allein auf das deutsche Volk beschränkt bleiben kann, wenn es um die Legitimation der nach Deutschland hineinwirkenden Gemeinschaftsgewalt geht.

Schließlich sind die unabänderlichen Strukturmerkmale des Grundgesetzes nicht nationalstaatlich-introvertiert, sondern integrationsfreundlich zu interpretieren. Denn die Grundentscheidungen des Verfassungsgebers zugunsten einerseits der europäischen Integration und andererseits des Bestandsschutzes der tragenden Verfassungsstrukturen sind gleichrangig, und nur durch interpretatorische Flexibilität läßt sich die vom Verfassungsgeber gewollte Symbiose zwischen diesen beiden Grundentscheidungen herstellen. In erster Linie müssen die unabänderlichen Strukturmerkmale des Grundgesetzes gemeinschaftsverfassungskonform ausgelegt, d.h. insbesondere so verstanden werden, daß sie den im Zuge der dynamischen Integrationsentwicklung erforderlichen systemimmanenten Modifikationen zugänglich sind.

Das integrationsfreundliche Grundgesetz konstituiert einen relativen Verfassungsstaat, der seine Strukturprinzipien im Prozeß der föderalen Verfassungsverflechtung im Zuge der europäischen Einigung nicht absolut setzt. Vielmehr unterwirft er sich den föderal-europäischen Einwirkungen auf seine Verfassungsstruktur und ist dabei offen für eine Neuinterpretation von Verfassungsprinzipien, für Verfassungsänderungen und sogar Verfassungsreformen, um seine Mitwirkung am Aufbau des konstitutionell vereinten Europas zu ermöglichen und verfassungsrechtlich abzusichern. Der deutsche Verfassungsstaat nimmt darüber hinaus etwa im Grundrechtsbereich seine partikulären Verfassungswerte zugunsten gemeinschaftlicher Verfassungswerte zurück.

Der deutsche Verfassungsstaat ist relativ auch im Hinblick auf seinen Status in der Völkerrechtsgemeinschaft: Das Grundgesetz überläßt es der verfassungsändernden Gewalt, nach ausdrücklicher Änderung des Grundgesetztextes Deutschland unter Aufgabe seiner äußeren Souveränität (Völkerrechtsunmittelbarkeit) in einen europäischen Bundesstaat einzugliedern. Eine verfassungspolitische Frage ist es dagegen, ob diese Entscheidung zur Stärkung ihrer Legitimität dem deutschen Volk als Inhaber der verfassungsgebenden Gewalt überantwortet werden sollte.



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