Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law Logo Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law

You are here: Publications Archive 2000

Tätigkeitsbericht für das Jahr 2000


X. Symposien und Tagungen

A. Symposium „Religionsfreiheit und rechtliche Bindung“ aus Anlaß des 75jährigen Bestehens des Instituts

Vom 12. bis 15. April fand aus Anlaß des 75jährigen Bestehens des Instituts ein Kolloquium über „Religionsfreiheit und rechtliche Bindung“ statt, an dem neben den Mitarbeitern und Gastwissenschaftlern am Institut über 40 geladene Gäste aus dem In- und Ausland teilnahmen. Fragen nach dem Umfang und den Grenzen des rechtlichen Schutzes individueller wie kollektiver religiöser Betätigung haben in den letzten Jahren zunehmend die deutschen Gerichte und die breitere Öffentlichkeit beschäftigt. Davon ausgehend hat sich auch die fachwissenschaftliche Diskussion dieses Themas wieder verstärkt angenommen. Dabei werden jedoch die völkerrechtlichen und rechtsvergleichenden Aspekte der Problematik häufig ausgeblendet. Vor diesem Hintergrund hatte es sich das Symposium zum Ziel gesetzt, die in der Praxis gebräuchlichen grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Instrumente daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit sie einen wirksamen Beitrag zur Lösung der sich aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften in den multireligiösen Gesellschaften der Gegenwart ergebenden Konflikte leisten können.

Den Ausgangspunkt der Referate, die sich im ersten Tagungsabschnitt mit der Bedeutung der Religionsfreiheit als universalem Konzept beschäftigten, bildeten die Gewährleistungen des internationalen Menschenrechtsschutzes. In seinem einführenden Referat hob Prof. Frowein hervor, daß alle international verbindlichen Texte Religion und Weltanschauung gleich stellten und auch den Unglauben schützten. Die einschlägigen Normen des Völkerrechts schlössen zwar die Anerkennung einer Staatskirche nicht aus, verböten aber jede Diskriminierung wegen Zugehörigkeit zu einer Minderheitsreligion. In gegenständlicher Hinsicht werde die Religionsfreiheit durch die internationalen Texte umfassend geschützt. Grenzen ergäben sich aber für die Missionierung in Abhängigkeitsverhältnissen. Auch entbinde die Berufung auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit nicht von der Beachtung neutraler staatlicher Rechtsnormen. Andererseits treffe den Staat die Pflicht, die Religionsausübung in staatlichen Einrichtungen zu ermöglichen und im Schulunterricht auf religiöse Haltungen Rücksicht zu nehmen. Das Prinzip der religiösen Toleranz müsse die Grundlage der staatlichen Rechtsordnung sein. Umgekehrt könne aber auch von neu auftretenden Minderheitsreligionen eine Rücksichtnahme auf die historisch und kulturell verankerte Mehrheitsreligion verlangt werden.

Der historischen Entwicklung des Schutzes der Religionsfreiheit widmete sich das Referat von Dr. Grote. Er hob hervor, daß es sich bei dem vertraglichen Schutz der Religionsfreiheit im Rahmen politischer und/oder territorialer Neuordnungen um eine, wenn nicht um die Wurzel des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes handele. Der Zweck (bi- und multilateraler) völkerrechtlicher Vereinbarungen habe sich zunächst auf die Lösung der mit der Anwendung des Grundsatzes cuius regio, eius religio im Falle von Gebietsabtretungen zwischen Staaten mit unterschiedlicher konfessioneller Ausrichtung verbundenen Probleme beschränkt. Mit der Durchsetzung eines universalen Verständnisses der Religionsfreiheit im Zuge der Aufklärung sei auch die Beschränkung des Schutzes der Religionsfreiheit auf bestimmte Konfessionen in den einschlägigen vertraglichen Regelungen zunehmend weggefallen. Die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde multilaterale Vertragspraxis habe indes die Achtung der Religionsfreiheit nicht wirklich als universelle Verpflichtung begriffen, sondern als Preis, der den in Südosteuropa neu entstehenden Staaten für ihre Aufnahme in die europäische Staatengemeinschaft abverlangt werden konnte, ohne daß jedoch adäquate rechtliche Durchsetzungsmechanismen für den Fall einer Verletzung der entsprechenden vertraglichen Verpflichtungen vorgesehen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei der bi- und multilateral vereinbarte Schutz der Religionsfreiheit weitgehend hinter die entsprechenden Gewährleistungen der regionalen und universalen Menschenrechtsschutzinstrumente zurückgetreten. Eine gewisse Renaissance hätten vertraglich ausgehandelte Lösungen erst mit der krisenhaften Entwicklung in zahlreichen multiethnischen Staaten an den Rändern Europas nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes erlebt. Mit den religiösen Bürgerkriegen der frühen Neuzeit teilten die ethnisch-religiösen Konflikte der Gegenwart häufig den zerstörerischen, den Bestand des politischen Verbandes in seinen Grundlagen bedrohenden Charakter, wenn auch die Religion hier nicht mehr als primärer oder dominanter Krisenfaktor auftrete. Ihre Befriedung erfordere eine situationsspezifische Verbindung unterschiedlicher, einen wirksamen Grundrechtsschutz der verschiedenen Gruppen ebenso wie ihre unmittelbare, gleichgewichtige Einbeziehung in das System der staatlichen Institutionen gewährleistender Elemente. Den Versuch eines solchen Ausgleichs hätten in jüngster Zeit mehrere in Nordirland und auf dem Balkan abgeschlossene Friedensabkommen unternommen. Die religiöse Identität der am Konflikt beteiligten Gruppen werde von ihnen in unterschiedlicher Weise thematisiert, gemeinsam sei ihnen jedoch allen die starke Betonung der Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung der Gruppen als notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Befriedung der jeweiligen Gesellschaft.

Prof. Wolfrum beschäftigte sich in seinem Beitrag mit dem völkerrechtlichen Schutz religiöser Minderheiten. Religiöse Minderheiten definierte er dabei als diejenigen Gruppen, die über ein gemeinsames religiöses Bekenntnis und ein entsprechendes Gruppenbewußtsein verfügen. Nicht notwendig sei hingegen, daß die Gruppe seit langer Zeit auf dem Territorium eines bestimmten Staates bestehe. Der völkerrechtliche Schutz religiöser Minderheiten bzw. von Minderheitenreligionen auf universeller Ebene sei unvollkommen. Diese liege u.a. daran, daß es bisher nicht gelungen sei, universell rechtlich verbindliche Regeln zum Schutze der Religionsfreiheit bzw. gegen die Diskriminierung religiöser Richtungen oder Gruppen zu entwickeln. Diese Lücke werde nur zum Teil durch das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte geschlossen. Obwohl das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung die Diskriminierung von religiösen Minderheiten nicht ausdrücklich untersage, habe sich der Rassendiskriminierungsausschuß dennoch für ihren Schutz eingesetzt, und zwar immer dann, wenn das gemeinsame religiöse Bekenntnis zur Herausbildung einer bestimmten Volksgruppe geführt habe. Art. 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte seinerseits gewähre nach traditioneller Lesart keine Gruppenrechte. Allerdings sehe er die Möglichkeit einer kollektiven Wahrnehmung von Rechten vor. Sinn und Zweck des Art. 27 sei es, den Mitgliedern einer Minderheit die Möglichkeit zu geben, ihre Gruppenidentität zu wahren. Dies müsse sich auch auf ihre religiös begründete Identität beziehen. Allerdings begründe die Vorschrift grundsätzlich keine Förderpflicht für religiöse Minderheiten. Entschließe sich allerdings ein Staat, eine religiöse Richtung zu fördern, so ergebe sich aus dem Verbot religiöser Diskriminierung auch eine Pflicht zur Förderung anderer Gruppierungen.

In dem letzten Beitrag dieses Abschnitts ging Dr. Dagmar Richter der Frage einer möglichen Relativierung universeller Menschenrechte durch Religionsfreiheit nach. Sie sah eine Gefährdung der Universalität nicht religionsbezogener Menschenrechte weniger in der Religionsfreiheit als vielmehr in bestimmten religiösen Praktiken. Charakteristisch für alle religiösen Praktiken, die sich nachteilig auf die Menschenrechte anderer auswirkten, sei das Machtgefälle zwischen den beteiligten Personen, das z.T. - etwa in Form des Elternrechts oder des Alleinentscheidungsrechts des Mannes - institutionalisiert sei. Religiöse Praktiken, die das Opfer zum Objekt fremder kultischer Handlungen herabwürdigten oder es irreversibel schädigten, seien schon vom Schutzbereich der Religionsfreiheit nicht erfaßt. Im übrigen sähen die menschenrechtlichen Schutzinstrumente Beschränkungen der Religionsfreiheit vor, insbesondere auch zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Soweit der Staat Private durch religiöses Recht ermächtige, andere Personen zu schädigen, gehe es um staatliche Verantwortung. Die pauschale Integration religiösen Rechts in die staatliche Rechtsordnung stelle allerdings keine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung dar, um Beschränkungen z.B. des Rechts auf körperliche Unversehrtheit zu legitimieren. Darüber hinaus schulde der Staat grundsätzlich Schutz gegen die religiös motivierten Übergriffe Privater in die Menschenrechte anderer Personen. Eine Schutzverpflichtung sei insoweit gegeben, als das betroffene Menschenrecht eine horizontale Wirkung habe. Im Falle des Rechts auf körperliche Unversehrtheit sei der Schutzauftrag im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und in der Kinderschutzkonvention ausdrücklich verankert. De lege ferenda komme zur Eindämmung schädlicher Praktiken eine Erweiterung des herkömmlichen Folterbegriffs um eine „kulturell bedingte Folterhandlung“ in Betracht, die analog zum zwingenden Folterverbot im Falle staatlicher Folter einen zwingenden Schutzauftrag zur Folge haben könnte.

Der zweite Teil des Symposiums behandelte das Verhältnis zwischen staatlichem und religiösem Recht in der freiheitlichen Verfassungsordnung. Im ersten Beitrag zu diesem Thema gab Dr. Benedict einen Überblick über die Bedeutung religiöser Gebote für die Anwendung staatlicher Normen. Er zeichnete in seinem Referat die unterschiedlichen dogmatischen Ansätze nach, mit denen der grundrechtliche Schutz des Glaubensgebots gegenüber dem Anwendungsanspruch der einfachgesetzlichen Norm in der Rechtsprechung der nationalen Verfassungsgerichte durchgesetzt wird. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, daß der Einfluß religiöser Gebote auf die Anwendung staatlicher Normen im freiheitlichen Verfassungsstaat beachtlich sei. Staatliche Normen blieben unangewendet, würden verfassungskonform interpretiert, erführen eine Ausweitung ihres Anwendungsbereichs, fielen der (Teil-) Nichtigkeit anheim oder würden von den Verfassungsgerichten in ihrem Wortlaut umformuliert, soweit dies zur Respektierung eines grundrechtlich geschützten religiösen Gebots notwendig sei. Als Determinanten für die Grenzziehung zwischen religiösem Gebot und Anwendungsanspruch der staatlichen Norm erwiesen sich dabei die Weite der Schutzbereichsdefinition, die Schrankensystematik der jeweiligen Verfassungsrechtsordnung sowie das Selbstverständnis und die Entschlußfreudigkeit der Verfassungsgerichte.

Dr. Karin Oellers-Frahm widmete sich in ihrem Vortrag dem Verhältnis von staatlicher und religionsautonomer Gerichtsbarkeit. Die Kernfrage gehe hier dahin, ob es einen von staatlicher Justizhoheit freien Raum kirchlicher Maßnahmen gebe. Dies sei zu verneinen, da nach der rechtssystematischen Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche unter dem Grundgesetz alle, auch kirchliche, Streitigkeiten unter die Justizgewährleistung des Staates fielen. Die Gewährleistung des kirchlichen Eigenbereichs, wie er in Art. 136 ff., insbesondere in Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung verbürgt sei, komme vor den staatlichen Gerichten erst bei der Prüfung der Begründetheit zum Tragen. Das Bestehen eines kircheneigenen Rechtswegs schließe demnach die Zuständigkeit staatlicher Gerichte nicht aus. Auch die Erschöpfung eines solchen Rechtswegs sei nicht Voraussetzung für die Befassung der staatlichen Gerichte. Die Betrachtung der Gerichtsbarkeit in kirchlichen Angelegenheiten dürfe Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht unberücksichtigt lassen. Die anfängliche Auslegung der Kirchenartikel im Sinne einer Antithetik von personeller und institutioneller Freiheit sei im Zuge der Konkretisierung von Art. 4 einer Integration beider Bereiche gewichen. Art. 4 schützte die über Art. 140 gewährleisteten Rechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften umfassend. Der Umfang des materiellen Freiheitsrechts der Kirchen und gegenüber den Kirchen ergeben sich folglich ohne Einschränkung aus dem staatlichen Recht, insbesondere aus den Grundrechten; dem müsse das Prozeßrecht folgen. Nur diese Betrachtungsweise liefere auch ein tragfähiges Fundament für die Lösung der Probleme, die durch das Auftreten von Religionen hervorgerufen würden, deren Verbreitung in Deutschland bei Verabschiedung des Grundgesetzes noch nicht vorausgesehen worden sei.

Die kollektivrechtlichen Dimensionen der Religionsfreiheit leuchte Dr. Marauhn in seinem Referat aus. Die Gewährleistung der Religionsfreiheit auf verfassungsrechtlicher, regionaler und internationaler Ebene schließe sowohl das Recht auf religiöse Vereinigungsfreiheit als auch die Religionsfreiheit religiöser Organisationen ein. Das Recht auf religiöse Vereinigungsfreiheit beinhalte das Recht auf rechtliche Existenz, einschließlich der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr, ohne Anspruch auf eine bestimmte Rechtsform. Dr. Marauhn betonte, daß sich aus der grund- und menschenrechtlichen Perspektive keine Präferenz für eine bestimmte (öffentlich-rechtliche oder private) Organisationsform von Religionsgemeinschaften ergebe. Sehe die Rechtsordnung beide Organisationsformen mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen vor, so bestehe die Gefahr der Privilegierung bestimmter Religionsgemeinschaften. Historisch überkommene Privilegierungen seien daher rechtlich einzuhegen. Im Außenverhältnis müßten die Religionsgemeinschaften die gleichen religionsbezogenen Rechte anderer achten; im Verhältnis zu ihren Mitgliedern sei es ihnen verwehrt, unter Berufung auf ihr Selbstbestimmungsrecht die grund- und menschenrechtliche Ordnung, die sie selbst schützt, unberücksichtigt zu lassen. Im Verhältnis zum Staat schließlich seien die Religionsgemeinschaften nicht auf die Geltendmachung von Abwehrrechten beschränkt. Vielmehr müsse der Staat ihnen gegenüber eine positive Haltung insofern einnehmen, als die Ausgestaltung der Rechtsordnung nicht nur ihre rechtliche, sondern auch ihre tatsächliche Existenz erlauben müsse. Insbesondere dürfe der Staat die wirtschaftlichen Aktivitäten von Religionsgemeinschaften nicht ohne weiteres zum Anlaß nehmen, den korporativen Schutz der Religionsfreiheit zu reduzieren.

Dr. Giegerich beschäftigte sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung der Religionsfreiheit als Gleichheitsanspruch und Gleichheitsproblem. Er führte dazu einleitend aus, daß sich ein Sonderstatus der Religionsfreiheit im Verhältnis zu anderen Menschenrechten theoretisch nicht rechtfertigen lasse, weder im Sinne einer wegen ihrer Bedeutung erhöhten noch einer wegen ihrer Gefährlichkeit verminderten Schutzintensität. Gewähre ein Verfassungs- oder Vertragstext der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit besonderen Schutz, verbiete jedoch zugleich Begünstigungen oder Benachteiligungen anläßlich der Ausübung dieser Freiheit, entstehe ein Konsistenzproblem, das nach Möglichkeit durch Auslegung zu überwinden sei. Religiöse oder weltanschauliche Diskriminierung erweise sich oft als indirekte Form der Rassendiskriminierung. Auch sonst seien die strengen Vorschriften zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung nach Möglichkeit auf religiöse Diskriminierung zu erstrecken. In Anwendung dieser Grundsätze kam Dr. Giegerich zu dem Schluß, daß der Staat verpflichtet sei, Konflikte zwischen der „positiven“ und der „negativen“ Religions- und Weltanschauungsfreiheit verschiedener Bevölkerungsgruppen im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahmepflichten beizulegen. Dabei begründe die „positive“ Religionsfreiheit der Bevölkerungsmehrheit keinen Anspruch gegen den Staat, sich mit der Mehrheitsreligion zu identifizieren, indem er deren Symbole in seinem Bereich rezipiere und die religiösen oder weltanschaulichen Minderheiten damit konfrontiere. Die Ausübung der positiven Religionsfreiheit dürfe gegenüber der Wahrnehmung der negativen Religionsfreiheit weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Im Hinblick auf „echte“ Konflikte zwischen der positiven staatlichen Rechtsordnung und religiösen Überzeugungen, d.h. solche, bei denen das religiöse Gebot ein alternatives, mit der weltlichen Rechtsordnung im Einklang stehendes Verhalten nicht zuläßt, plädierte der Referent für die Erteilung von Befreiungen, soweit nicht ein höherrangiges Gemeinschaftsinteresse entgegenstehe. Dagegen spreche bei einem bloß relativen Widerspruch zwischen beiden Pflichten, bei dem unter Inkaufnahme zusätzlicher Belastungen beide erfüllt werden könnten, das Gleichheitsinteresse in religiös-weltanschaulich diversifizierten Gesellschaften für eine restriktive Handhabung der Dispenserteilung.

Staatlicher Bildungsauftrag und religiöse Selbstbestimmung wurden in dem Referat von Dr. Christine Langenfeld zueinander in Beziehung gesetzt. Wie Dr. Langenfeld ausführte, ist staatliche Erziehung unter dem Grundgesetz den Grundsätzen religiös-weltanschaulicher Neutralität und Toleranz verpflichtet. Die christliche Gemeinschaftsschule, wie sie in einer ganzen Reihe von Bundesländern als Regelschulform bestehe, sei jedoch vor dem Hintergrund der jeweils gegebenen kulturellen Verwurzelung der dort lebenden Bevölkerung zulässig. Eine regelmäßige Befreiung von einzelnen Unterrichtsfächern bzw. an bestimmten Wochentagen aus religiös-weltanschaulichen Gründen komme im Gegensatz zur Beurlaubung an einzelnen religiösen Feiertagen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht. Demgegenüber stehe der Anspruch auf Erteilung von Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG auch religiösen Minderheiten zu. Der Staat vermöge ihn jedoch nur zu erfüllen, wenn bestimmte institutionelle Voraussetzungen geben seien, was insbesondere im Hinblick auf die Erteilung islamischen Religionsunterrichts Schwierigkeiten bereite, weil dem Staat aufgrund der theologischen Grundlagen des Islam ein eindeutig zu bestimmender Partner fehle. Insoweit genüge freilich eine privatrechtliche Organisationsform, wobei jedoch zu fordern sei, daß die Organe des Vereins nach außen für die Religionsgemeinschaft repräsentativ und verbindlich in Glaubensdingen Auskunft geben könnten. In der Frage des religiös motivierten Tragens eines Kopftuchs in der Schule plädierte Dr. Langenfeld für eine differenzierende Lösung, die die Funktionen und Grundrechtspositionen der jeweils beteiligten Personen (Lehrer, Schüler, Eltern) und die Neutralitätsverpflichtung des Staates zueinander in Beziehung setzt.

Der zweite Teil des Symposiums wurde abgeschlossen durch das Referat von Dr. Bank zur rechtlichen Problematik des Kirchenasyls. Der Referent gelangte in seinen Ausführungen zu dem Ergebnis, daß rechtswidrig und strafbar nur das verdeckte Kirchenasyl sei, da bei offenem und stillem Kirchenasyl die zuständigen Behörden über den Aufenthalt des ausreisepflichtigen Schutzsuchenden informiert würden, so daß eine Vollziehung der Abschiebung möglich bleibe. Die Abschiebung greife allerdings in das Grundrecht der das Kirchenasyl Gewährenden aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG ein. Der Eingriff sei jedoch aus Erwägungen der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung, die die Durchsetzung von rechts- oder bestandskräftigen Entscheidungen verlange, im Regelfall gerechtfertigt. In einzelnen Fallkonstellationen könne dieser Gesichtspunkt jedoch gegenüber der Religionsausübungsfreiheit zurücktreten, wenn die Durchsetzung der staatlichen Entscheidung lediglich verzögert werde und gleichzeitig Anhaltspunkte vorlägen, die für eine Abänderung der staatlichen Entscheidung sprächen.

Im Mittelpunkt des dritten Abschnitts standen die sozialen, wirtschaftlichen und karitativen Tätigkeiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dr. Hartwig wies in seinem Referat auf das Dilemma hin, daß sich daraus ergebe, daß karitatives Handeln in vielen Bereichen an staatlichen Vorgaben gebunden sei, die auf das Selbstverständnis der karitativ tätigen Religionsgemeinschaften und Kirchen keine Rücksicht nähmen. Das gelte insbesondere insofern, als der Staat Bedingungen aufstelle, unter denen karitative Einrichtungen überhaupt in die staatliche Finanzierung bzw. die vom Staat gestaltete Sozialversicherung mit aufgenommen werden oder darüber bestimme, welche Arten der karitativen Leistungen über das staatlich organisierte Finanzierungssystem mit abgedeckt werden. Damit seien die karitativ tätigen Organisationen vor die Alternative gestellt, entweder die staatlich gesetzten Bedingungen für die Ausübung der Diakonie zu akzeptieren oder aber aus der staatlich organisierten Finanzierung derartiger Tätigkeit, die unter Umständen unverzichtbare Voraussetzung für ein entsprechendes Tätigwerden ist, ganz herauszufallen. Darüber hinaus stelle sich aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung der sozialen Dienste die Frage, inwieweit religiöse Organisationen, welche derartige Aufgaben wahrnehmen, den Normen des europäischen Wettbewerbsrechts unterlägen. Bislang deute die Rechtsprechung des EuGH darauf hin, daß die Staaten bei der Gestaltung der Daseinsvorsorge eine relative Freiheit genössen. Sollten jedoch die karitativ tätigen Einrichtungen der religiösen Gemeinschaften nur unter denselben wirtschaftlichen Bedingungen im sozialen Bereich antreten dürfen wie kommerzielle Unternehmen, dann werde die religiöse Ausrichtung ihres Handelns durch die Konkurrenzsituation zwangsläufig in nicht unerheblichem Maß beeinträchtigt.

Zur grundrechtlichen Absicherung wirtschaftlicher Tätigkeiten von Religionsgemeinschaften führte Dr. Röben im Anschluß an das Referat von Dr. Hartwig aus, daß sich Ansprüche der Religionsgemeinschaften auf eine Privilegierung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG nur in dem durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. WRV anerkannten Umfang ergeben. Der einfache Gesetzgeber seinerseits sei frei, wirtschaftliche Aktivitäten von Religionsgemeinschaften zu fördern und punktuell zu privilegieren. Er sei dabei jedoch an das Neutralitäts- und Gleichbehandlungsgebot gebunden und dürfe nicht an ein bestimmtes Bekenntnis anknüpfen, sondern müsse eine sozialstaatliche Zielsetzung verfolgen. Bei der Umsetzung dieser Zwecksetzung könne er allerdings in bestimmtem Umfang Praktikabilitätserwägungen Raum geben und Typisierungen vornehmen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte entspreche diesem Modell funktionaler Differenzierung von wirtschaftlichen Aktivitäten und religiöser Aussage. Es werde durch den Rechtsvergleich mit den USA ebenso wie durch die Rechtsprechung des EuGH und des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte gestützt.

In seinem Schlußreferat verglich Dr. Walter die Leistungsfähigkeit der mit den Begriffen „Staatskirchenrecht“ und „Religionsverfassungsrecht“ bezeichneten normativen Ordnungsmodelle für die Stellung der Religionsgemeinschaften im freiheitlichen Verfassungsstaat. Während der Begriff des Staatskirchenrechts das Problem der institutionellen Einordnung der Kirchen in den staatlichen Herrschaftsverband bezeichne, begreife das Konzept des Religionsverfassungsrechts die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in erster Linie nicht als ein institutionelles, sondern als ein grundrechtliches Problem. Die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff des Religionsverfassungsrechts in der deutschen Diskussion liege vor allem in der Sorge begründet, daß er nicht in der Lage sei, die besondere Kooperation von Staat und Kirche, wie sie in den durch Art. 140 GG rezipierten Weimarer Kirchenartikeln Ausdruck gefunden habe, adäquat abzubilden. Ein Vergleich mit den Erfahrungen in den USA und Frankreich zeige jedoch, daß die Annahme, ein grundrechtsorientiertes Verständnis der Beziehungen zwischen Staat und Kirche werde notwendigerweise zu einer strengen Trennung führen, der Überprüfung bedürfe. Die vergleichende Analyse öffne den Blick für die hinter der Trennung von Staat und Kirche aufscheinende verfassungstheoretische Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Während das Staatskirchenrecht tendenziell in einem Dreieck Staat - Gesellschaft - Kirche argumentiere, folge das Religionsverfassungsrecht einem theoretischen Modell, das in der Verfassung eine Staat und Gesellschaft umfassende Ordnung sieht. Insgesamt könnten von einem grundrechtlich konzipierten Religionsverfassungsrecht eine Reihe von Vorteilen für die Bewältung der in einer „offenen“ multireligiösen Gesellschaft zwangsläufig auftretenden Probleme in den Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften erwartet werden: Es sei nicht nur offener für die Einbeziehung nicht-staatlicher Regelungen, die in einer stärker globalisierten Welt die Stellung der Religionsgemeinschaften immer stärker mitprägen würden, sondern auch anpassungsfähiger an die im Zeichen des vermehrten Auftreten nicht-christlicher Religionsgemeinschaften in Deutschland gestiegenen Ansprüche an eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Aspekten des religiösen Lebens.

Die Referate waren auf dem Symposium Gegenstand intensiver Diskussionen. Ein großer Teil der im Verlauf der mündlichen Aussprache abgegebenen Stellungnahmen werden zusammen mit den Vortragstexten im Tagungsband veröffentlicht (s. oben II. B.).



Inhalt | Zurück | Vor