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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2001


II. Forschungsvorhaben

F. Europarecht

2. Sicherheit und Unsicherheit. Zu Zwecken und Gegebenheiten des Umwelt- und Technikrechts (Habilitationsschrift)

Die der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität im Jahre 2001 eingereichte Habilitationsschrift von Dr. Peter-Tobias Stoll geht der Frage nach, wie das Verfassungs- und das Umwelt- und Technikrecht Sicherheit gewährleisten und diese Aufgabe zwischen Staat und Gesellschaft zuweisen.

Der Ausgangspunkt der Arbeit, der in einem ersten einführenden Teil erläutert wird, liegt darin, dass Sicherheit ein Grundbedürfnis des Menschen gegenüber Gesellschaft und Staat anspricht. Es wird in der neueren verfassungsrechtlichen Diskussion mit verfassungsgeschichtlichen Bezugnahmen im Sinne eines Grund- oder Menschenrechts auf Sicherheit und einem Staatszweck der Sicherheit und eines entsprechenden Staatszwecks aufgenommen. Die Thematisierung der Sicherheit ist in einem Zusammenhang mit dem soziologischen Befund der Risikogesellschaft zu sehen. Dem liegt die Vorstellung einer Gesellschaft zugrunde, in der das enger werdende Zusammenwirken ihrer Mitglieder bedrohliche Züge annimmt und die insgesamt außer Kontrolle zu geraten droht. Anders als in den grundlegenden soziologischen Betrachtungen ist die Risikogesellschaft in der rechtswissenschaftlichen Rezeption allerdings überwiegend staatsgerichtet. Der Staat soll ordnend und schützend die Gesellschaft im Grunde genommen vor sich selbst und ihrem inhärenten Gefahrenpotential und Kontrolldefizit bewahren. Damit verlieren allerdings die anderen verfassungsgeschichtlich angelegten Bedeutungsgehalte der Sicherheit, insbesondere die der Freiheit und Rechtssicherheit, weitgehend an Bedeutung.

Gerade die breite Aufnahme der Vorstellung eines starken, durch die Aufgabe der Gewährleistung von Sicherheit legitimierten Staates im Umwelt- und Technikrecht hat allerdings einen Widerspruch offengelegt. Der Staat wird mit Blick auf die Sicherheit gefordert und gerechtfertigt. Auf der anderen Seite scheint seine Leistungsfähigkeit und Gestaltungskraft in Anbetracht der schnellen Wandlungen der Gesellschaft tiefgreifend in Frage gestellt.

Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet die Untersuchung in einem zweiten Teil das Arbeitsschutzrecht, das Anlagenrecht mit Immissionsschutz, Atomrecht und Gentechnikrecht sowie das Recht der Produktsicherheit unter Einschluß des Lebensmittel- und Arzneimittelrechts. Der Überblick wird durch einen kurzen vergleichenden Hinweis auf das Übereinkommen über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen der WTO abgerundet.

Darauf aufbauend stellt die Untersuchung in ihrem dritten Teil die vielfältigen Regelungen in einen systematischen Zusammenhang, wobei als Leitgesichtspunkt die Aufgabenzuweisung an Staat und Gesellschaft dient. Dabei werden zunächst die Funktionen der Gewährleistung von Sicherheit entfaltet. Eine wesentliche erste Funktion wird darin gesehen, im Hinblick auf die letztlich nicht zu erreichende Gewißheit in Wissenschaft und Technik die an sich nützlichen Aktivitäten einer Regelung zu unterwerfen, die regelnd und kontrollierend das Schadensrisiko als Preis der Zweckerreichung beschränkt (Kapitel 1). Auf dieser Grundlage werden als wesentliche Teilfunktionen die Risikoerkenntnis und die Wissensproduktion, die Zusammenhänge von Information und Kommunikation, die technische Entwicklung und ihre Förderung, und die Regelungen zur Wiedergutmachung und Entschädigung herausgearbeitet und ausführlich diskutiert.

Daran schließt sich in einem zweiten Kapitel eine Bestandsaufnahme der in den Regelungen zu Ausdruck kommenden Prinzipien und Grundsätze an, die das Vorsorgeprinzip, das Prinzip der Rationalität, den zunehmend herangezogenen Gesichtspunkt der Verantwortung, das Moment der Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstregulierung und den Grundsatz der Zeitlichkeit betrachtet.

In einem dritten Kapitel wird das Regelungssystem, das damit nach seinen Funktionen und Prinzipien beschrieben ist, als Ausdruck der Gewährleistung von Sicherheit durch Ordnung verstanden und diskutiert. Dabei werden Fragen der Interessenzuordnung und ihrer rechtlichen Gewährleistung, der Mechanismen des Interessenausgleichs und die Ordnung von Durchsetzung und Überprüfung angesprochen.

Es ergibt sich daraus ein mehrfach gestufter und geteilter Ordnungszusammenhang zwischen Staat und Gesellschaft, dessen Möglichkeiten und Problematik in einem vierten Kapitel abschließend untersucht werden. Dabei wird in diesem Zusammenhang von Staat und Gesellschaft einerseits eine Chance und andererseits eine Gefahr gesehen. Insofern werden Aspekte der Verantwortungsentlastung von Enthaftungseffekten und der Problematik des Koordinationsaufwandes und der Anfälligkeit formalisierte Informations- und Kommunikationsbeziehungen diskutiert. Mit einem geläufigen Wort wird auf das Phänomen der Verantwortungsparzellierung eingegangen. Daran anschließend werden Möglichkeiten und Sinn einer Vervollständigung gesellschaftlicher Aufgabenzusammenhänge angesprochen und untersucht, wieviel Verantwortung dem Staat verbleibt. Schließlich werden bei diesem engen Zusammenwirken zwischen Staat und Gesellschaft Fragen der Legitimation geklärt.

In einem abschließenden fünften Kapitel wird schließlich der mögliche Beitrag des Parlaments zur Gewährleistung von Sicherheit untersucht.

Zu den wesentlichen Ergebnissen der Arbeit gehört die Einsicht, dass die Rolle des Staates weniger in einem abstrakten Schutz der realen Gesundheits- und Umweltverhältnisse lag und liegt. Staatliche Regulierung und Kontrolle der Technik und ihr Recht waren immer auch auf Ermöglichung und Förderung ausgerichtet. Zur "Entzauberung des Schutz- oder Umweltstaates" trägt aber auf der anderen Seite auch bei, dass seinem Wirken bei genauer Betrachtung nicht erst heute enge Grenzen gesetzt sind. Seine Einsicht in wirtschaftlich-technische Zusammenhänge, Betriebsabläufe, neue Forschungsergebnisse und technische Entwicklungen war von jeher beschränkt. Die ergänzende Förderung und Inanspruchnahme gesellschaftlicher, oft zunächst unternehmerischer Regulierungs- und Überwachungsstrukturen gehört deshalb geradezu zu den historisch überkommenen Strukturmerkmalen dieses Regelungsbereiches, die allerdings in jüngster Zeit viele neue und zum Teil vielversprechende Formen ausgebildet hat. Auf der anderen Seite sind aber auch Zweifel angebracht, ob die Gesellschaft allein für Sicherheit sorgen kann. Elemente der Haftung, der Eigenregulierung und der Selbstkontrolle und schließlich gesellschaftliche Formationen und insbesondere auch Verbände und Nichtregierungsorganisationen tragen zwar zu einer Selbstregulierung bei. Ihr Wirksamwerden ist auch im Sinne der in der Verfassung angelegten Prozips von Freiheit in Verantwortung staatlicherseits zu fördern. Vollständig ersetzen lässt sich der Staat wohl aber nicht. Er muß eine Rechts- und Friedensordnung mit Elementen des Ausgleichs zwischen Privaten unterhalten, bei Defiziten schützend eingreifen und diejenigen Belange vertreten, die ohne seine Initiative nicht wirksam genug vertreten werden können.

Das Institut hat mit einem Druckkostenzuschuß die Veröffentlichung der Arbeit in der Reihe "Ius Publium" des Verlages Mohr Siebeck, Tübingen ermöglicht. Sie wird 2002 erscheinen.