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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2001


II. Forschungsvorhaben

F. Europarecht

3. Die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die Rückabwicklung rechtswidriger Beihilfeverhältnisse (Dissertation)

Die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die Rückabwicklung rechtswidriger Beihilfeverhältnisse ist das Thema der Dissertation von Utz Remlinger.

Der gemeinschaftsrechtliche Beihilfebegriff gemäß Art. 92 I EGV (Art. 87 I EGV n.F.) ist im Vergleich zum deut-schen Subventionsbegriff weiter gefaßt. Er schließt unter anderem auch Verschonungssubventionen und Subventionen zugunsten öffentlicher Unter-nehmen ein und verursacht dadurch nicht unerhebliche Rechtsanwendungsprobleme. Für die deutsche Verwaltungsrechtsdogmatik erscheint schon aus diesem Grunde der Weg einer an den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts orientierten und damit weitergefaßten Neubestimmung des seit jeher stark umstrittenen Subventionsbegriffs vorgezeichnet.

Im Bereich des Rechts der Rückabwicklung von Beihilfever-hältnissen ist ein Europäisches Verwaltungsrecht nicht nur im Entstehen, sondern hat sich zumindest in Teilen auch schon herausgebildet. Darauf deu-ten ins-besondere die wachsende Zahl gemeinschaftlicher Regelungen über die Rückabwicklung von Rechtsverhältnissen und damit zusammenhängende Verfahrensfragen, die zahlrei-chen vom EuGH ent-wickelten allgemei-nen verwaltungs-rechtlichen Grundsätze, die immer stär-kere Konvergenz der Verwaltungs-rech--te der Mitgliedstaaten so-wie die Wechselwir-kung zwischen Gemeinschaftsrecht und mit-gliedstaatlichen Rechten hin.

Das deutsche Verwaltungsrecht steht dabei unter einem ganz erheblichen Anpassungs-druck des Gemeinschaftsrechts, der für den Bereich der Beihilfe-rückabwicklung vor allem von den unmittelbar wirksamen Artt. 93 II, 1. U.abs. EGV (Art. 88 II, 1. U.abs. EGV n.F.: Aufhebungs- und Rückforderungs-ent-schei-dung) und 93 III 3 EGV (88 III 3 EGV n.F.: Sperrwirkung) ausgeht. Die deutschen Gerich-te sowie - im Rah--men ihrer auf Evidenzfälle beschränkten Verwerfungsbefugnis - die Verwaltungsbehör-den sind ge-mäß Art. 5 EGV (Art. 10 EGV n.F.) dazu ver-pflichtet, diesen Vertragsnormen Geltung verschaffen, wozu es allgemein ei----ner stärkeren Aus-ein-an-der-setzung mit der Regelungsmaterie und den Zie-len des Gemein-schafts-rechts sowie einer effektiveren Kooperation mit dem EuGH be--darf.

Infolge der unmittelbaren Wirkung ergeben sich für die nationalen Rechtsanwender konkrete Handlungs- und Unterlassungsverpflichtungen. Die Rückforderungssentscheidung der Kommission gemäß Art. 93 II, 1. U.abs. EGV (Art. 88 II, 1. U.abs. EGV n.F.) ist von der Verwaltung ohne Zwischenschaltung eigehen Ermessens im Sinne von § 48 I 1 VwVfG zu befolgen. Dies ist nach der vom Autor vertretenen Auffassung mit der vom Gemeinschaftsinteresse an der Durchsetzung des Beihilferechts geforderten, eine möglichst weitgehende Rücknehmbarkeit bewirkenden quali-fi-zierten Rechtswidrigkeit von Verfahrensverstößen zu begründen.

Die Regelung des § 45 I Nr. 5 VwVfG wird vom Gemeinschaftsrecht verdrängt, da eine Nach-holung von Verfahrenserfordernissen des EG-Bei-hilferechts angesichts des entgegenstehenden Gemeinschaftsinteresses nicht in Betracht kommt. Entsprechend ist § 46 VwVfG im Lichte des Gemeinschaftsrechts dahingehend auszu-le-gen, dass diese Vorschrift nicht dazu führen darf, Verstöße gegen das EG-Beihilfeverfahren im deutschen Recht als unerheblich zu behandeln.

Zweifelhaft ist dagegen, ob es gemeinschaftsrechtlich zulässig und geboten ist, wegen ei-nes Verstoßes ge-gen Art. 93 III 3 EGV (Art. 88 III 3 EGV n.F.) formell gemeinschafts-rechtswidrige Beihilfen in je-dem Fall end-gül-tig zu-rückzufordern. Eine solche Praxis erscheint deshalb als grundsätzlich problematisch, weil sich spä-ter die materielle Rechtmäßigkeit der fraglichen Beihilfemaß-nahme, d.h. ihre Vereinbar-keit mit Art. 92 - 94 EGV (Art. 87 - 89 EGV n.F.) er-geben kann und eine endgültige Rückforde-rung dann unter Um-ständen eine unbillige und unverhältnismäßige Här-te darstellte. Zu unterscheiden ist hier nach den Befugnissen der Kommission und der nationalen Gerichte:

Auch bei einer formellen Ver-tragsverletzung durch Mißachtung der Sperr-wir-kung des Bei-hilfegenehmi-gungs-verfah-rens bleibt die Kommission nach der Rechtsprechung des EuGH zu ei-ner Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der fraglichen Beihilfe verpflichtet, die dann aber gegebenenfalls in gestraffter Form auf der Grundlage der vorliegenden Informationen er-folgen kann. Der Kommission stehen zudem die Möglichkeiten vorläufiger Rück-forderung und des Erlasses von Sicherungsmaßnahmen zur Verfü-gung, die es ihr grundsätzlich ermöglichen, auf entspre-chen-de Vertragsverletzungen der Mitglied-staaten an-ge-mes-sen zu reagieren. Die Rück-forderung formell gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen er-folgt mit vorläufiger Wirkung, die sich bei anschließend festgestellter materieller Rechts-wid-rigkeit in eine end-gül-tige Wirkung umwandelt, bei Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Ge-meinsamen Markt jedoch die Möglichkeit eröffnet, die Beihilfe nach der Zurückerstattung al-ler im voraus erlangten ungerechtfertigten Vorteile nunmehr im regulären Verfahren zu ge-währen.

Die nationalen Gerichte können nach ständiger EuGH-Rechtsprechung dagegen die Rück--forderung schon allein aufgrund der Nichtanmeldung der Beihilfe anordnen. Da es den mit-gliedstaatlichen Gerichten auf der anderen Seite verwehrt ist, die materielle Rechtmäßigkeit einer Beihilfe zu beurteilen - dies ist der Kommission und gegebenenfalls dem Gerichtshof vorbehalten -, stellt dies auch die einzige Möglichkeit dar, die unmittelbare Wirkung von Art. 93 III EGV (Art. 88 III EGV n.F.) nicht leerlaufen zu lassen.

Zudem können die genannten Sanktionsmittel jeweils nur unter der Vor-aus-setzung wirksam werden, dass die Kommission von nicht angezeigten Beihilfen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt auf andere Weise Kenntnis erlangt. Die sich aus der im-mer wei-ter ansteigenden Zahl nicht ordnungsgemäß notifizierter Beihilfen indirekt ergebende ho-he Dun-kel-ziffer verdeckter Beihilfen nimmt der Kommission aber gerade jede Reaktionsmöglichkeit. Nur ein deutlich verbessertes An-zeigeverhalten der mit-gliedstaatlichen Beihilfebe-hör-den könnte des-halb die end-gül-tige Rück-forderung formell gemeinschaftsrechts-widriger Bei-hilfen durch die nationalen Gerichte entbehrlich machen.

Von zentraler Bedeutung für die Rückabwicklung von Beihilfeverhältnissen ist die Frage-stellung, ob der für das deutsche Recht aus Art. 20 III GG abgeleitete Grundsatz des Vertrauensschutzes durch das Ge-mein--schaftsrecht ausreichend berücksichtigt wird.

Hier tritt die Wech-selwirkung zwischen gemeinschaftlichem und mitgliedstaatlichen Recht besonders deut-lich hervor: Einerseits bildet der Grundsatz des Vertrauens-schutzes-, nicht zuletzt infolge der Einwirkung des deutschen Rechts, einen Bestandteil der Gemein-schafts-rechtsordnung und wird von Ge-richtshof und Kom-mission in ständiger Praxis bei Entscheidungen herangezogen und, wenn-gleich in objektivierter Form, auch tat-säch-lich berücksich-tigt. Umgekehrt befindet sich aber auch der deutsche Vertrauensschutz-grund-satz in einem rückbezüglichen Europäisierungsprozeß, der in seiner Tragweite nicht un-terschätzt wer-den sollte. Dazu kommt die Erkenntnis, dass auch die übrigen mitgliedstaat-lichen Rechte sich hinsichtlich der Gewährung von Ver-trau-ensschutz deutlich auf-ein-ander zu be-wegen, was hauptsächlich auf die über den kleinsten gemeinsamen Nenner deutlich hinausgehende Eta-blierung des gemeinschaftsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatzes durch den Ge-richts-hof zurückzuführen ist. Wer dem EuGH vor diesem Hintergrund dennoch eine man-geln-de Vertrauensschutz-gewährleistung vorwirft, beansprucht damit für das deutsche Recht faktisch ei-ne Vorrangstellung gegenüber den übrigen mitgliedstaatlichen Rechten. Eine solche Pau-schal-kri--tik ist auch deshalb unberechtigt, weil dabei das spezifisch gemeinschaftsrechtliche Interesse an der Rückabwicklung rechtswidriger Beihilfeverhältnisse nicht ausreichend be-rück-sich-tigt wird.

Zutreffend ist aber, dass sich das deutsche Verwaltungsrecht gerade bei der Rückabwick-lung von Beihilfen weiterhin mit Rechts-an-wen-dungs-pro-blemen konfrontiert sieht, die aus dem besonders hohen Stellen-wert resultieren, den der Grundsatz des Vertrau-ens-schutzes in der deutschen Rechts-ordnung genießt. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich vor allem bei indirekten Kollisio-nen, die den An-wendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts relativieren können. Es muß deshalb versucht werden, im jeweiligen Einzelfall den Geltungsanspruch des EG-Rechts und die Nor-men des mitgliedstaatlichen Rechts in mög-lichst scho--nender Wei-se miteinander in Ein-klang zu bringen. Dazu bietet sich in erster Linie der Weg der gemeinschafts-rechts-kon-formen Auslegung des deutschen Rechts an, die allerdings ihre Grenze im äußersten mög-lichen Wort-sinn findet. Wo eine solche hierarchiekonforme Interpretation nicht möglich ist, muß grundsätzlich die Nicht-anwendung der einer effektiven Durchführung des Gemeinschaftsrechts entgegenstehenden na-tio-nalen Norm durch die Gerichte bzw. - in sel-tenen Evidenzfällen - die Verwaltung die Folge sein.

Die gemeinschafts--rechts-konforme Auslegung der für die Rückabwicklung von Beihilfeverhältnissen entscheidenden Vorschrift des § 48 VwVfG hat sich als möglich und grundsätzlich auch ausreichend erwiesen, um dem EG-Recht angemessene Geltung zu verschaffen. Erforderlich erscheint neben dem bereits an-ge-spro-chenen Ausschluß des Rücknahmeermessens gemäß § 48 I 1 VwVfG durch eine be-standskräftige Rückforderungsentscheidung dreierlei: erstens die Wertung des Gemeinschaftsinteresses an der Rückforderung gemeinschaftsrechtswid-ri-ger Beihilfen als öffentliches Interesse im Sinne von § 48 II 1 VwVfG, zweitens die einzelfallbezogene Überprüfung der Sorgfaltspflichten des Beihilfeempfängers im Sin-ne von § 48 II 3 Nr. 3 VwVfG bezüglich der Einhaltung des gemeinschaftsrechtlichen Bei-hil-fever-fahrens und drittens die flexible Bestimmung des Fristbeginns gemäß § 48 IV 1 VwVfG nach einem mehr-stu-figen Auslegungsverfahren, das eine effektive Durchsetzung des EG-Rechts bei gleich-zei-tiger Wahrung der berechtigten Individualinteressen gewährleistet.

Die Beihilfevergabe durch vorläufigen Verwaltungs-akt ist als ein wirksames Mittel anzusehen, die hauptsächlich durch den entgegenstehen-den Vertrauensschutz des Empfängers und die Ausschlußfrist des § 48 IV VwVfG entstehende Rückforde-rungsproblematik von vornhe-rein zu vermeiden. Es wird damit ein ähnliches Ergebnis erzielt wie beim verfassungsrechtlich problematischen generellen gesetzlichen Ausschluß des Vertrauensschutzes durch Verordnungen des MOG. Wegen der an seine Zulässigkeit zu knüpfenden Bedingungen kann der vorläufige Verwaltungsakt allerdings nicht als Allheilmittel angesehen werden: Insbesondere darf die vorläufige Subventio-nierung nicht zur unzulässi-gen Verkürzung der Rech-te des einzelnen oder zur Umgehung des Genehmigungsverfahrens des Art. 93 EGV führen, weshalb ein endgültiger Bescheid ergehen muß, sobald dies möglich und zulässig ist.

Auch im Bereich des Konkurrentenschutzes bestehen schon aufgrund der geltenden Rechts--lage im deutschen und im gemeinschaftlichen Recht ausreichende Möglichkeiten, den be--rechtigten Be-langen der Wettbewerber von Beihilfeempfängern in Zukunft angemessen Rechnung zu tragen. Vordringlich ist hierbei eine verbesserte Transparenz des Beihilfeverfahrens und eine frühere Miteinbeziehung der von einer Beihilfe betroffenen Konkurrenten in das Beihilfeverfahren. Dies würde das Wett-bewerbs-prin-zip und die Konkurrenteninteressen stärken und es der Kommission ermöglichen, ein besseres Marktverständnis zu entwickeln.

Der Rechtsschutz des Beihilfeempfängers sollte durch einen Anspruch gegen die nationale Behörde auf Anmeldung der Beihilfe gestärkt werden.

Eine sich derzeit auch noch nicht abzeichnende Gesetzesreform auf dem Gebiet des Rücknahmerechts ist nach den genannten Möglichkeiten der gemeinschaftsfreundlichen Aus-legung von § 48 VwVfG nicht vordringlich, sollte aber für die Zukunft vor dem Hintergrund der anzustrebenden Gleichbehandlung gemeinschaftsrechtlicher und sonstiger Fälle er-wogen werden. Hierbei handelt es sich jedoch um ein umfangreiches und ambitiöses Vor-ha-ben, so dass ein `Schnellschuß' weder zu erwarten noch zu wünschen ist.

Allgemein bleibt festzuhalten, dass es zur wirksamen Um-setzung der aufge-zeigten Mög-lich-keiten zur Auf-lö-sung indirekter Kollisionen im Beihil-fe-recht mehr denn je der Ge-mein-schafts--freund--lichkeit der deutschen Verwaltungs-behörden und Ge-rich-te und einer effektiveren Kooperation mit den Gemeinschaftsorganen bedarf. Anschubwirkung können diesbezüglich die im Kommissionsvorschlag für eine Verfahrensverordnung enthaltenen Maßnahmen für verbesserte Zusammenarbeit entfalten.