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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2001


II. Forschungsvorhaben

H. Völkerrechtlicher und nationaler Minderheitenschutz

"Sprachenordnung und nationaler Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat -Relativität des Sprachenrechts und Sicherung des Sprachfriedens" (Habilitationsschrift)

Mit der inzwischen vollendeten Schrift "Sprachenordnung und Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat -Relativität des Sprachenrechts und Sicherung des Sprachfriedens" setzt sich Dr. Dagmar Richter zum Ziel, das Sprachenrecht der viersprachigen Schweiz aus der Außenperspektive heraus erstmals umfassend zu präsentieren und konzeptionell zu deuten.

Im allgemeinen Teil gibt die Arbeit einen Überblick über die in der Schweiz vertretenen Sprachen und setzt sich mit ihrer unterschiedlichen faktischen Bedeutung und Verbreitung auseinander, wobei sie sprachwissenschaftliche Aspekte (Sprachenprestige, Standardisierung etc.) einbezieht. Es folgen Ausführungen zur schweizerischen Idee von Staat und Nation sowie zu den theoretischen Grundlagen des Sprachenrechts. Auf dieser Basis erschließt sich dann das Sprachenkonzept der Eidgenossenschaft, das auf den beiden Säulen "Sprachenvielfalt" und "Sprachfrieden" ruht. Charakteristisch für das hieran ausgerichtete System des Sprachenrechts ist der Widerstreit zwischen der Sprachenfreiheit als individuellem Recht und dem Prinzip der sprachlichen Territorialität. Durch Abwägung dieser beiden gleichrangigen Verfassungs-prinzipien kommen einzelfallgerechte Lösungen zustande.

Im besonderen Teil beschäftigt sich die Arbeit mit dem Sprachenrecht der Eidgenossenschaft einschließlich des "regionalisierenden Kultursprachenrechts" auf der Basis der neuen Schweizerischen Bundesverfassung. Dem folgt das Sprachenrecht der mehrsprachigen Kantone (Bern, Freiburg, Graubünden, Wallis) mit koordinierendem Charakter und zweier einsprachiger Kantone (Jura, Tessin) mit sprachverteidigendem bzw. -schützendem Charakter. Die einzelnen Kapitel beginnen mit einer Typologie, welche das Wesentliche der jeweiligen Konstellation mit dem Ziel erfassen soll, die vorgefundenen Regelungen übertragbar und vergleichbar zu machen. Dem schließt sich eine kommentierende Darstellung aller relevanten Regelungen, Entscheidungen und Praktiken an, die den Sprachgebrauch in Behörden, Schulen, vor Gerichten sowie die politische Repräsentation der Sprachgruppen betreffen.

Die aus den einzelnen Regelungen und Entscheiden auf der Basis einer innerstaatlichen Rechtsvergleichung gewonnenen Erkenntnisse machen Entwicklungslinien und Tendenzen des Sprachenrechts deutlich und ermöglichen die Formulierung gemeinsamer Prinzipien. Hierin liegt die zentrale Idee der Arbeit. Das Kapitel über die Ergebnisse zeigt Entwicklungslinien auf wie z.B. die immer stärkere Relativierung des Territorialitätsprinzips durch Minderheitenschutz, die "Entnationalisierung" bzw. Differenzierung und Systematisierung zentraler Sprachenartikel, den Übergang von einem System der Ursprache zur simultanen Redaktionierung von Gesetzestexten oder die allmähliche Ersetzung des Begriffs der sprachlichen "Assimilierung" von Zuwanderern durch den Begriff der "Integration", konzeptionelle Ansätze wie z.B. "die Kultur der praktischen Verständigung", "Mundarten als Gegenstand von Pflege und Bekämpfung", "Immersion und Frühsensibilisierung" im Bereich der Schulsprache oder die "variable Viersprachigkeit der Schweiz", Rechtsfiguren wie z.B. die "Quasi-Teilamtssprache" oder die "inkonsequente Mehrsprachigkeit", Prinzipien wie z.B. das "helvetische Prinzip" betreffend den Sprachgebrauch im behördeninternen Bereich bzw. im Parlament, das "Prinzip der Geschichtlichkeit" im Bereich der Nomenklatur, das "Prinzip der Maßgeblichkeit der erstinstanzlichen Sprache" vor Gerichten, das "Prinzip der schöpferischen Übereinstimmung" von Gesetzestexten, aber auch das "Prinzip der Nichtregelung" im Bereich der Repräsentation von Sprachminderheiten in bestimmten Staatsorganen u.v.m. Einige der hier nur vereinzelt erwähnten Prinzipien und Konzepte lassen sich im gegenwärtigen Recht bzw. der zugehörigen Doktrin nachweisen, andere hingegen sind in der Arbeit neu formuliert worden.

Ein Schwerpunkt der Bemühungen lag auf der Deutung des sprachlichen Territorialitätsprinzips, dessen Funktionsweise als Ausdruck eines "Systems der korrespondierenden Sprachgeltungsebenen" beschrieben wird. Danach spezialisieren sich die territorialen Einheiten in sprachlicher Hinsicht von oben nach unten, das heißt, die Amtssprachengeltung (Anzahl der geltenden Sprachen) wird auf den unteren Ebenen (z.B. Gemeinden, Bezirke) allenfalls spezieller (eingeschränkter), niemals umfassender. Wird dieses System durchbrochen, handelt es sich nicht mehr um eine Regelung im Rahmen der territorialen Amtssprachengeltung, sondern um sprachlichen Minderheitenschutz. Beide Wirkungsmechanismen können so voneinander unterschieden werden.

Aus dem Vergleich der verschiedenen kantonalen Sprachenregelungen läßt sich ein Muster der Relativität des Sprachenrechts bzw. Relativität des Minderheitenschutzes erkennen. Denn das gefundene Recht fällt nicht nur im Detail, sondern auch konzeptionell, in den Grenzen der Bundesverfassung, unterschiedlich aus. Faktoren der Relativität sind vor allem der "Reservatscharakter" eines Kantons, in dem eine gesamtschweizerische Sprachminderheit die Mehrheit (sog. "relative Mehrheit") stellt: In dieser Konstellation zeigt das Sprachenrecht einen tendentiell "härteren", unnachgiebigeren Charakter gegenüber nicht offiziell anerkannten Sprachen als im umgekehrten Fall. Darüber hinaus wirken sich aber auch Faktoren wie der Zustand der Sprachen (-handelt es sich um eine Weltsprache oder aber um eine Kleinst- bzw. existenzbedrohte Sprache?), die Labilität und Unschärfe der Sprachgrenze oder die Erfahrung eines Sprachenwechsels (Wechsel von sprachlicher Mehr- und Minderheit) in der Vergangenheit auf die konkrete Gestalt der Sprachenregelungen aus.

Die Arbeit schließt mit einem Kapitel, das die schweizerischen Regeln in den internationalen Kontext stellt, das Verhalten der Schweiz in bezug auf alle sprachenrechtlich relevanten internationalen Instrumente analysiert und schließlich die Frage nach der Modellhaftigkeit des schweizerischen Sprachenrechts behandelt. Insofern wird ein differenzierender Standpunkt eingenommen, der bestimmte Prinzipien und Mechanismen zur möglichen Übernahme empfiehlt.