Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law Logo Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law

You are here: Publications Archive 2002

Tätigkeitsbericht für das Jahr 2002

II. Forschungsvorhaben

H. Rechtstheorie und -philosophie

Leistungsgrenzen des Verfassungsrechts: Europäische und nationale Identität - Integration durch Verfassungsrecht? (Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung)

Auf der diesjährigen Staatsrechtslehrertagung in St. Gallen hielt Prof. von Bogdandy einen Vortrag über kollektive Identität durch Verfassungsrecht, in dem er sowohl ihr mögliches Potential als auch ihre Gefahren aufzeigte.

Wie kann, so sorgte bereits Alexis de Tocqueville, eine Gesellschaft dem Untergang entrinnen, wenn das alle Bürger einende Band sich lockert? Viele diagnostizieren heute kulturpessimistisch die Erosion einer in Tradition begründeten kollektiven Identität der Bürger und damit einer angeblich unerläßlichen Voraussetzung demokratischer Verfaßtheit. Eine europäische Verfassung gar gilt oft wegen des Fehlens einer entsprechenden Identität der Unionsbürger als Kopfgeburt. Dieses Denken ist doppelt falsch: eine Verfassung kann selbst an der Identitätsbildung mitwirken und eine kollektive Identität ist keine unerläßliche Verfassungsvoraussetzung.

Der Gedanke, die Verfassung könne>selbst identitätsbildend auf den Bürger einwirken und so das Gemeinwesen zusammenhalten, ist nicht der Phantasie eines Barons von Münchhausen entsprungen. Es gibt diverse Wege vom Verfassungstext zur Identität des Bürgers. Der Mensch bildet seine Identität an gesellschaftlichen Rollenangeboten. Diese sind in europäischen Gesellschaften von nationalem, europäischem und zunehmend internationalem Recht durchdrungen; Identitäten ohne Recht zu denken ist eine leere Abstraktion. Ein>mittelbarer und langsamer, aber wirkungsmächtiger Weg der Identitätsbildung durch Verfassung liegt darin, daß sie rollenprägendes einfaches Recht durchdringt, die Rechtsordnung - ganz im Sinne von Art. 35 Schweizer Bundesverfassung - insgesamt "konstitutionalisiert".

Zudem hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß jede soziale Identität, und damit jede Gruppe, Frucht einer öffentlichen "Erzählung" ist, eine soziale Konstruktion. Sie bildet sich anhand von "Einträgen" in einer Art gruppenspezifischem "kollektiven Wörterbuch". Eine Verfassung ist>unmittelbar identitätsbildend, wenn sie im gruppenrelevanten öffentlichen Raum zirkulierend>selbst Kriterium der maßgeblichen Identifikationsprozesse ist, also eine breite Mehrheit der Bürger ihre Gruppenzugehörigkeit oder Handlungsdispositionen mit der Verfassung als solcher oder einzelnen Verfassungsprinzipien begründet.

Dank der starken Verfassungsgeprägtheit des deutschen öffentlichen Diskurses ist etwa das deutsche Grundgesetz ein "Eintrag" im "Wörterbuch deutscher Identität". Bedenkt man weiter die Zentralität "Europas" im deutschen öffentlichen Diskurs, so versteht man, daß auch die Mitgliedschaft in der Union einen mittels Art. 23 GG verfassungsrechtlich unterfangenen "Eintrag" bildet, die deutsche Identität also europäisiert ist: Deutschland außerhalb der EU wäre ein wesentlich anderes Land. Mit Blick auf eine genuin europäische Identität ist festzuhalten, daß dank zahlreicher europäischer Debatten ein "Wörterbuch europäischer Identität" inzwischen angelegt ist, die Einträge jedoch noch dünn sind und ein Eintrag "Verfassung" fehlt: im öffentlichen Diskurs ist, anders als in der Rechtswissenschaft, eine europäische Verfassung nicht schon Wirklichkeit, sondern nur Möglichkeit.

Da sich Identität anhand sozialer Konstrukte bildet, erscheint ein mittelfristiges politisches Projekt europäischer Identitätsbildung durch einen expliziten europäischen Verfassungstext möglich. Für die gegenwärtigen Arbeiten des europäischen Verfassungskonvents unter der Leitung von Giscard d'Estaing, der unter anderem die Stärkung der europäischen Identität zur Aufgabe hat, ist zu diesem Zweck zunächst die Überwindung identifikationshemmender Diffusität anzuempfehlen: insbesondere die Gestalt der Unionsorgane, allen voran des Ministerrates, und die unübersichtlichen Interorganverhältnisse im Viereck von Kommission, Parlament, Ministerrat und Europäischem Rat erweisen sich als dringend klärungsbedürftig. Desweiteren empfiehlt sich die Verurkundlichung einiger weniger identitätstauglicher Gehalte auf einem hohen Abstraktionsniveau. Im Weiteren bedarf es deren dauerhafter Verankerung im öffentlichen Raum, was volle Rechtskraft verlangt: Proklamationen wie bei der Grundrechtscharta werden nicht genügen.

Die Verfassung kann somit an der Ausbildung einer kollektiven Identität mitwirken, doch in welchem Umfang ist eine kollektive Identität als Verfassungsvoraussetzung für den Bestand eines politischen Gemeinwesens überhaupt>erforderlich? Es ist eine erfahrungsgesättigte Binsenweisheit, daß ein Gemeinwesen nur funktionieren kann, wenn es nicht in unversöhnliche religiöse, ethnische oder soziale Gruppierungen zerfällt. Dies zu vermeiden verlangt jedoch weit weniger als eine kollektive Identität. Die Behauptung deren Notwendigkeit ist in der Regel axiomatischer Natur und integraler Teil normativer Konzeptionen, die Gemeinsinn eine hohe Bedeutung zuweisen. Es gibt keine zwingenden Beweise der Notwendigkeit kollektiver Identitäten, wohl aber plausible Hinweise, daß der gesellschaftliche Bedarf an kollektiver Identität leicht überschätzt wird. Erfolgreiche Vergesellschaftung kann unter der Prämisse des Konflikts und der Differenz erfolgen. Erforderlich sind nur die allgemeine zivilisatorische Errungenschaft der Rechtsförmigkeit des Verhaltens sowie hinreichend komplexe Verfahren der hoheitlichen Willensbildung. Eine kollektive Identität der Unionsbürger ist keine Voraussetzung für das Voranschreiten der Integration, sofern nur die Verfahren der Willensbildung so ausgestaltet sind, daß langfristig die meisten Unionsbürger ihre Interessen gewahrt sehen.

Diese Erkenntnis mag es insgesamt leichter machen, auf die Rechtsforderung einer Identifikation mit der nationalen oder europäischen Verfassung zu verzichten. Normativ ist eine solche Forderung überaus problematisch, betrifft sie doch das Individuum im Kern seiner Autonomie und Würde. Ein freiheitliches Gemeinwesen sollte nicht auf Identitäten, sondern auf das langfristige Eigeninteresse der Bürger ausgerichtet werden. Dies sollte reichen: Schon Kant> erkannte, daß selbst Teufel einen Staat begründen können, wenn sie nur verständig sind. Ein Verfassungsrecht>ex parte civium sollte auf das demokratische, rechtsstaatliche und effiziente Operieren der Politik abzielen und nicht nach der Identität und damit der Seele des Bürgers greifen. Hier zeigt sich deutlich, daß der Begriff der Identität gefährlich ist, da kryptonormativ: er kommt als soziologische Behauptung, impliziert jedoch massive Erwartungen an die Persönlichkeit der Bürger. Seine durchgängig positive Verwendung etwa in den Reden Fischers, Jospins> oder Raus> wird der Problematik nicht gerecht.