Die Corona-Pandemie hat in noch nie dagewesener Weise das Potenzial des Internets für die Wissenschaft aufgezeigt. Dank der beispiellosen Zusammenarbeit von Forscher:innen aus aller Welt konnten in Rekordzeit Therapien und Impfstoffe gegen das Virus entwickelt werden. Die Pandemie hat damit nicht nur der Digitalisierung massiv Vorschub geleistet, sondern auch Diskussionen um Open Science, hier verstanden als Oberbegriff für Bemühungen, das kommunikative Potenzial des Internets zu nutzen, um Forschung in ihren verschiedenen Stadien allgemein zugänglich und weiterverwendbar zu machen, frischen Aufwind verliehen.
Das Wissenschaftssystem befindet sich zurzeit im Umbruch, und angesichts der wichtigen Rolle, die der Wissenschaft bei der Lösung globaler Herausforderungen zugeschrieben wird, überrascht es nicht, dass zahlreiche nationale und internationale Akteure massiv für Open Science eintreten. In einem gemeinsamen Aufruf setzen sich CERN, OHCHR, UNESCO und die WHO für Open Science ein; die UNESCO arbeitet zurzeit an einer Open-Science-Empfehlung, und der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat Open Science jüngst gar als eine Dimension des sog. „Right to Science“ nach Art. 15 des Sozialpakts anerkannt.Daneben schließen sich in der Bemühung um Open Science auch immer mehr Wissenschaftler:innen, Bibliotheken, Wissenschafts- und Förderinstitutionen zusammen.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellen die Entwicklungen im Wissenschaftssystem jedoch auch Herausforderung dar. Open-Science-Richtlinien können zu Spannungen mit der Freiheit der Forschenden und Eigentumsrechten von Verlagen führen, wie eine zurzeit vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht anhängige Klage von Angehörigen der Universität Konstanz zeigt, in der sich diese unter Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit gegen eine Open-Access-Veröffentlichungspflicht wehren.Geschäftsmodelle, bei denen statt Leserinnen und Leser nun Autor:innen zur Kasse gebeten werden, schaffen neue Ausgrenzungen und bergen sogar die Gefahr, bestehende Ungleichheiten im globalen Wissenschaftssystem weiter zu verschärfen. Darüber hinaus sind die zentralen Akteure der aktuellen Entwicklungen nicht Gesetzgeber unter formeller öffentlicher Aufsicht, sondern informelle transnationale Netzwerkkoalitionen wie die mächtige „cOAlitionS“sowie private Unternehmen. Seit vielen Jahren weisen Experten auf die oligopolistische Stellung einer Handvoll kommerzieller Verlage im Wissenschaftssystem hin; in jüngster Zeit zeigen Berichte, dass sie sich unter dem Deckmantel von OS dem Geschäft mit der Datenanalyse zuwenden und davor warnen, dass sie bald ganze Forschungszyklen kontrollieren könnten. Das Ergebnis ist ein Mangel an öffentlicher Beteiligung, Konsultation und Rechenschaftspflicht bei den Regeln, die das Wissenschaftssystem bestimmen.
Ziel dieses Projekts ist es, die laufenden Prozesse aus einer öffentlich-rechtlichen Perspektive umfassend zu beleuchten, um zu einem besseren Verständnis der Herausforderungen beizutragen, vor denen das Wissenschaftssystem im digitalen Zeitalter steht, und Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und allen an den aktuellen Transformationsprozessen beteiligten Akteuren eine informierte Grundlage zu bieten. Dazu soll zunächst die bestehende Open-Science-Landschaft kartiert und die verschiedenen Regulierungsansätze herausgearbeitet werden. Wer sind die zentralen Akteure und was die geltenden Standards? Wie verhalten sich diese zu klassischen rechtlichen Instrumenten? Ausgehend von der schweizerischen Rechtsordnung und mit Seitenblicken auf die Nachbarländer soll Open Science sodann aus verfassungsrechtlicher Perspektive untersucht werden. Lässt sich Open Science im digitalen Zeitalter grund- und menschenrechtlich begründen, und was sind umgekehrt die Grenzen und Anforderungen, die Grund- und Menschenrechte an Open Science stellen? Um diese Erkenntnisse zu untermauern, soll schließlich empirisch untersucht werden, wie sich Open Science auf die Diskurse in der internationalen Rechtswissenschaft auswirkt, der juristischen Teildisziplin, in der OS als besonders relevant angesehen wird.
Raffaela Kunz