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Niklas Luhmanns Frühe Systemtheorie und die Vergleichende Verfassungsgerichtsbarkeit

Über das Projekt:

Fast fünfzig Jahre sind vergangen, seitdem Niklas Luhmann in Legitimation durch Verfahren dargelegt hat, wie die soziologische und sozialpsychologische Isolierungswirkung von Verfahren (etwa Gerichtsverfahren oder Parlamentswahlen) ein politisches System ebenso legitimiert und damit stabilisiert wie die latente Drohung mit physischer Gewalt. Nach wie vor aber fristet das Buch in der Rechtswissenschaft ein Schattendasein: Nach einer kurzen Phase intensiver Beschäftigung in den siebziger und achtziger Jahren, die in erster Linie auf Politikwissenschaftler und nachrangig auf Rechtswissenschaftler zurückging, ist es fest im Kanon beachtenswerter, aber skeptisch beäugter Werke angelangt, die es nur cum grano salis zu lesen gilt. Luhmanns strikter Reduktion des Legitimationsbegriffs auf das rein faktische Akzeptieren staatlich gesetzter Entscheidungen ist der Verzicht auf normative Zusatzkriterien stets entgegengehalten worden.

Dabei bieten Luhmanns Betrachtungen zur rechtssoziologischen Relevanz gerichtlicher Verfahrensphänomene einen interessanten Einblick in das Verfahren auch von Verfassungsgerichten. So kann die Unterscheidung von Verfahrensarten, in denen ein Bürger belastenden staatlichen Entscheidungen entgegentritt (wie etwa bei der Verfassungsbeschwerde oder der konkreten Normenkontrolle) und die Isolierungswirkung des Gerichtsverfahrens Anwendung finden kann, und Verfahrensarten, die zwischen Verfassungsorganen ausgetragen werden (wie etwa bei abstrakten Normenkontrollen oder Organstreitverfahren) und in denen sozialpsychologische Prämissen daher nicht unverändert anwendbar sind, eine neue Bedeutung erfahren. Dasselbe gilt für die Rolle der Öffentlichkeit, die schon nach traditionellem Verständnis Teil der Rechtspflege ist, durch das Luhmann’sche Prisma betrachtet jedoch verstärkt kritische Fragen zur beschränkten Verfahrensmündlichkeit etwa vor dem Bundesverfassungsgericht aufwirft. Drittens erlauben es etwa Luhmanns Ausführungen zur Maßgeblichkeit wahrgenommener richterlicher Unabängigkeit, die Risiken abweichender Sondervoten oder offensichtlicher Gräben in der Richterschaft neu zu bewerten.

Zugleich eröffnet Legitimation durch Verfahren einen anderen Zugriff auf den Vergleich verschiedener Höchst- oder Verfassungsgerichte. Während Luhmanns Ausführungen zur generellen sozialpsychologischen Wirkung von Verfahren universelle Geltung beanspruchen mögen, sind die einzelnen Verfahrensabschnitte und -phänomene, die zusammen den Luhmann’schen “Verfahrenstrichter” bilden, vor jedem Gericht anders ausgestaltet. So mag es vor jedem Verfassungsgericht ein eigenes und ausgeprägtes “Kontaktsystem” geben, das aus einem engen Kreis von Universitätsprofessoren oder spezialisierten Rechtsanwälten besteht und partikuläre Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Ein Vergleich verschiedener Gerichte anhand der Beobachtungen in Legitimation durch Verfahren kann daher Einsichten bieten, die ein klassischer Vergleich des Fall- oder Verfahrensrechts ausblendet.

Das Dissertationsprojekt wird daher das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem amerikanischen Supreme Court in der Hoffnung rechtssoziologisch beleuchten, sowohl einen Beitrag zur Verfassungssoziologie leisten als auch einen neuen Zugriff auf das Verfahren vor Höchstgerichten erlangen zu können.


Doktorand

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