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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Carsten Stahn


XI. Europäisches Gemeinschaftsrecht

2. Vorabentscheidungsverfahren

      76. Das BVerwG stellte in seinem Urteil vom 10.11.2000 (3 C 3/00 = BVerwGE 112, 166 = DVBl. 2001, 380) klar, daß ein Revisionsverfahren, das gleiche Fragen des Gemeinschaftsrechts aufwirft wie ein beim EuGH anhängiges Vertragsverletzungsverfahren, auch ohne gleichzeitige Vorlage an den EuGH entsprechend � 94 VwGO ausgesetzt werden kann. Das Gericht betonte, daß � 234 Abs. 3 EG das nationale Gericht zwar im Regelfall verpflichte, den EuGH zur Klärung einer entscheidungserheblichen und zweifelhaften Frage des Gemeinschaftsrechts anzurufen. Doch im Einklang mit der Praxis anderer oberster Bundesgerichte sei es zulässig und sachgerecht, den Rechtsstreit auszusetzen, ohne zugleich eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen, falls die entscheidungserheblichen gemeinschaftsrechtlichen Fragen bereits Gegenstand eines beim EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens seien. Die erneute Anrufung in einem Vorlageverfahren belaste den EuGH zusätzlich, ohne daß davon irgendein zusätzlicher Erkenntniswert zu erwarten wäre. Zudem bestünde die Gefahr, daß sich durch ein weiteres Vorlageverfahren die Beantwortung der entscheidungserheblichen gemeinschaftsrechtlichen Fragen sogar hinauszögern könnte. Unter diesen Umständen verbiete der Grundsatz der Prozeßökonomie die Anrufung des EuGH durch das BVerwG. Der Anspruch der Beteiligten auf eine zügige Rechtsschutzgewährung werde nicht beeinträchtigt, da durch einen Vorlagebeschluß eine schnellere Beantwortung der gemeinschaftsrechtlichen Fragen jedenfalls nicht erreichbar sei. Auch die alleinige Entscheidungskompetenz des EuGH nach Art. 234 Abs. 3 EG werde durch ein solches Vorgehen nicht berührt.

      77. Mit Beschluß vom 30.3.2000 (VII ZR 370/98 = EuZW 2000, 412) legte der 7. Zivilsenat des BGH dem EuGH im Anschluß an das Centros-Urteil eine Vorlagefrage darüber vor, nach welchem Recht sich die Rechts- und Parteifähigkeit einer im EG-Ausland wirksam gegründeten Gesellschaft nach Sitzverlegung in die Bundesrepublik Deutschland beurteilt. Insbesondere für den Fall einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung von im Ausland gegründeten Gesellschaften sei es umstritten, ob die in Art. 43, 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit der Anknüpfung an deren tatsächlichen Verwaltungssitz entgegenstehe. Der Rechtsprechung des EuGH könne die Entscheidung dieser Frage nicht eindeutig entnommen werden. Im Daily Mail-Urteil habe der Gerichtshof ausgeführt, Gesellschaften könnten von ihrer Niederlassungsfreiheit durch Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften sowie dadurch Gebrauch machen, daß sie ihr Kapital vollständig auf eine neu gegründete Gesellschaft übertrügen. Sie hätten im Gegensatz zu natürlichen Personen jenseits ihrer jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regele, keine Realität. Der Vertrag habe die kollisionsrechtlichen Unterschiede im Recht der Mitgliedsstaaten hingenommen und die Lösung der damit verbundenen Probleme zukünftiger Rechtsetzung vorbehalten. Im Centros-Urteil hingegen habe der Gerichtshof die Weigerung einer dänischen Behörde beanstandet, die Zweigniederlassung einer Gesellschaft im Handelsregister einzutragen, die im Vereinigten Königreich nach den dortigen Bestimmungen wirksam gegründet worden war. Es sei lebhaft umstritten, welche Folgerungen aus dieser Entscheidung für die Anknüpfung im Falle einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung zu ziehen seien. Im deutschen Schrifttum herrsche die Ansicht vor, der Gerichtshof habe mit diesem Urteil eine Abkehr von den Grundsätzen der Daily Mail-Entscheidung vollzogen und die Sitzanknüpfung für unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit erklärt. Es fänden sich aber auch Stimmen, die dem Urteil jedenfalls für den Fall grenzüberschreitender Sitzverlegung keine Abkehr von den Grundsätzen der Daily Mail-Entscheidung entnehmen könnten. Dementsprechend halte der Senat eine Vorlagefrage an den EuGH für erforderlich.