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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.90/1

[a] Verfolgungsmaßnahmen von Privatpersonen sind nur dann asylrelevant, wenn sie dem Staat als eigene zugerechnet werden können, weil er sie anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt.

[b] Religiöser Anpassungsdruck der sozialen Umgebung ist nur asylerheblich, wenn er den Charakter einer dem Staat zurechenbaren zwangsweisen Umerziehung oder Assimilation hat.

[a] Acts of persecution by private persons will only create a right of asylum if these can be attributed to the state because the state instigates, supports, approves or passively tolerates them.

[b] Pressure to assimilate religiously, exercised by the social environment, will not create a right of asylum unless it assumes the character of a coercive re-education or assimilation attributable to the state.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6.3.1990 (9 C 14.89), BVerwGE 85, 12 (ZaöRV 52 [1992], 395)

Einleitung:

      Die Kläger sind Frauen und Kinder türkischer Staatsangehörigkeit und syrisch-orthodoxen Glaubens. Sie beantragten erfolglos ihre Anerkennung als Asylberechtigte mit der Begründung, einer Gruppenverfolgung seitens türkischer Muslime ausgesetzt zu sein. Das Bundesverwaltungsgericht wies ihre Klagen ab.

Entscheidungsauszüge:

      [Den Klägern würde bei ihrer Rückkehr in die Türkei] keine unmittelbar oder mittelbar staatliche politische Verfolgung gemäß Art.16 Abs.2 Satz 2 GG drohen.
      Das Berufungsgericht hat ... geschlossen, daß sie allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der syrisch-orthodoxen Christen keine politisch motivierte Gruppen- oder Einzelverfolgung zu befürchten haben. Bei dieser Einschätzung hat sich das Berufungsgericht hauptsächlich auf die Erkenntnis gestützt, daß sich nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980 die schon bis dahin ausreichende Sicherheitslage auch für die christliche Bevölkerungsminderheit in der Türkei noch erheblich verbessert habe. Ein Rechtsfehler ist hierbei nicht ersichtlich. ...
      Die vom Berufungsgericht für die Klägerinnen zu 2 und 3 ... für wahrscheinlich gehaltene Entführung durch muslimische Männer stellt allerdings unter dem Aspekt der Schwere eines solchen Übergriffs Verfolgung dar. Soweit die Männer mit physischer Gewalt vorgehen, ist das für die dadurch bewirkte Beschränkung der persönlichen Freiheit ihrer Opfer ohne weiteres zu bejahen. Soweit zugleich in die sexuelle und religiöse Selbstbestimmung der Frauen eingegriffen wird, trifft der Eingriff die Christinnen in ähnlich schwerer Weise wie bei Eingriffen in die physische Freiheit. Durch die auf zwangsweise Bekehrung gerichteten Einwirkungen wird ihnen ein selbstbestimmtes, an ihrer Religion ausgerichtetes Leben unmöglich gemacht und damit ein vom Glauben geprägtes "Personsein" nicht einmal mehr im Sinne eines religiösen Existenzminimums gestattet (... BVerwGE 74, 31 [38]). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts stellen Eingriffe in die Freiheit der religiösen Überzeugung und Betätigung dann eine zur Asylrelevanz führende Beschränkung der Menschenwürde des Gläubigen dar, wenn die Maßnahmen darauf gerichtet sind, diesem seine religiöse Identität zu nehmen (BVerfGE 76, 143 [158]; ... BVerwGE 80, 321 [324]). Dies wiederum kann dadurch geschehen, daß der Gläubige gehindert wird, seinen Glauben, so wie er ihn versteht, im privaten oder im nachbarlich-kommunikativen Bereich zu bekennen, oder dadurch, daß von ihm verlangt wird, tragende Inhalte seiner Glaubensüberzeugung zu verleugnen oder gar preiszugeben. Beide Folgen träten hier ein. Dem Berufungsurteil sind freilich die näheren Umstände solcher Entführungen und "Zwangsbekehrungen" nicht zu entnehmen. Zumindest unter großstädtischen Verhältnissen leuchtet nicht ohne weiteres ein, inwiefern Christinnen als solche zu erkennen sind und auf offener Straße zu Opfern derartiger Übergriffe gemacht und anschließend gefügig gehalten werden können, ohne daß sich ihnen die Gelegenheit bieten sollte, sich dem Zugriff wieder zu entziehen. ... Soweit das Berufungsgericht angenommen hat, der Zugriff moslemischer Türken auf christliche Frauen in Form von Entführungen und Zwangsheirat oder jedenfalls Eingliederung in den Haushalt des Entführers sei von dessen Seite politisch motiviert im Sinne von Art.16 Abs.2 Satz 2 GG, ist dies revisionsgerichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Zwar werden, wie das Berufungsgericht feststellt, in der Türkei auch muslimische Frauen entführt, doch nutzen die Täter, wie weiter festgestellt ist, bei der Entführung einer christlichen Frau bewußt die Schutzlosigkeit der Angehörigen einer religiösen Minderheit aus und betreiben deren Übertritt zum Islam auch aus religiöser Überzeugung. Es steht auch mit der Rechtsprechung des Senats in Einklang, wenn das Berufungsgericht für das Vorliegen der politischen oder religiösen Beweggründe im Sinne von Art.16 Abs.2 Satz 2 GG auf den privaten Verfolger und nicht auf den Staat abhebt, dem der Exzeß jedoch zurechenbar sein muß ...
      An dieser Zurechenbarkeit und damit Verantwortlichkeit des türkischen Staates fehlt es indessen hier. Der Verwaltungsgerichtshof stützt seinen Annahme eines gegen solche Übergriffe nicht ausreichenden staatlichen Sicherheitssystems auf "zahlreiche Berichte" über Entführungen junger Mädchen und Frauen, gegen die der Staat nicht zu schützen vermag, wie die "vorliegenden Unterlagen bestätigen". Diese Erkenntnisse führen aber nicht zu der Annahme, der türkische Staat versage seinen Bürgern gegenüber den hier in Rede stehenden Aktivitäten einzelner Personen den notwendigen Schutz. ... Diese Feststellungen reichen für den Schluß auf eine - mittelbare - staatliche Verfolgung infolge mangelnden Schutzes nicht nur im Einzelfall jedoch nicht aus. Übergriffe von Privatpersonen können nur dann in den Schutzbereich des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG fallen, der dem Schutz vor staatlicher Verfolgung dient, wenn der Staat für das Tun Dritter wie für eigenes Handeln verantwortlich ist. Das ist dann der Fall, wenn er zu Verfolgungsmaßnahmen anregt oder derartige Handlungen unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt (BVerfGE 54, 341, 358; ... BVerwGE 67, 317). Die Annahme, daß der türkische Staat Übergriffe von Moslems gegen alleinstehende syrisch-orthodoxe Christinnen unterstützt oder billigt, scheidet nach den getroffenen Feststellungen aus. Es kommt deshalb nur eine tatenlose Hinnahme dieser Übergriffe in Betracht. Sie ergibt sich aber nicht bereits daraus, daß nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Istanbul Entführungen jüngerer syrisch-orthodoxer Christinnen vorkommen. Eine tatenlose Hinnahme liegt nicht schon dann vor, wenn die Bemühungen zur Unterbindung von politisch motivierten Übergriffen Dritter des zum Schutz grundsätzlich bereiten Staates mit unterschiedlicher Effektivität greifen. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im großen und ganzen Schutz gewährt (... BVerwGE 74, 41 [43] und BVerwGE 74, 160 [163]). Das muß nach den Feststellungen des Berufungsgerichts für syrisch-orthodoxe Christen im allgemeinen angenommen werden. ...
      Auch die Kläger zu 4 und 5 sind nicht asylberechtigt. Bei der Annahme einer Einweisung der Kläger zu 4 und 5 in ein staatliches türkisches Waisenhaus ... ist nicht zu erkennen, inwiefern in der [damit] ... verbundenen "Gefährdung einer christlichen Erziehung" ein Eingriff in die Religionsfreiheit der Kläger liegt. Zwar ist mit dem Berufungsgericht davon auszugehen, daß die im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fast 13- bzw. 11jährigen Kläger zu 4 und 5 eine religiöse Identität besitzen und deren Verlust bewußt als schwerwiegend empfinden würden. Dieser Verlust müßte aber auf ein zielgerichtetes Verhalten ihrer Umwelt zurückzuführen sein. Daran fehlt es hier. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß die Aufnahme eines alleinstehenden Kindes in ein türkisches Waisenhaus zunächst eher eine Privilegierung darstellt gegenüber vielen Kindern, die dort bereits in frühester Jugend ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und sozusagen "auf der Straße" leben müssen. Anhaltspunkte dafür, daß dieser Begünstigung nur Vorwandcharakter zukäme, sind nicht ersichtlich. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts werden christliche Kinder in einem staatlichen Waisenhaus allerdings in keinem Fall im christlichen Sinne erzogen. Die öffentlichen Waisenhäuser seien auf laizistische Grundsätze verpflichtet, doch könne es in einer Zeit des zunehmenden islamischen Bewußtseins durchaus dazu kommen, "daß der Erzieher den Islam betone". Kontakte der Kinder zur syrisch-orthodoxen Kirche würden nicht unterbunden, doch sei eine proislamische Beeinflussung wahrscheinlich. ... Ein alleinstehendes christliches Kind werde bald dem Assimilationsdruck, der in Waisenhäusern latent vorhanden sei, erliegen und sich schließlich zum Islam bekennen.
      Nach der Rechtsprechung des Senats schützt das Asylrecht indessen nicht vor einem langfristigen und allmählichen Anpassungsprozess, der sich für den einzelnen als Folge einer sich verändernden Situation seiner Umwelt und seiner Lebensbedingungen in seinem Heimatland ergibt ... und wie er hier vorliegt. Diesem rechtlichen Ausgangspunkt ist das Bundesverfassungsgericht beigetreten [BVerfGE 81, 58] ...
      Allerdings ist nicht jeder "Anpassungsdruck" asylrechtlich unerheblich, sondern ihm kommt dann Verfolgungscharakter zu, wenn eine feindlich eingestellte moslemische Umgebung durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares Handeln eine Glaubensminderheit daran hindert, dasjenige Maß an Zusammenhalt in einer "Religionsfamilie" zu finden, welches sie zur Wahrung ihres religiösen Existenzminimums benötigt. Deshalb steht das Asylrecht allgemein solchen Ausländern zu, die in ihrem Heimatland in bezug auf ihre politische oder religiöse Überzeugung und Betätigung mit einer zwangsweisen Umerziehung, mit Zwangsassimilation oder mit einer auf Unterwerfung ausgerichteten, gezielten Disziplinierung zu rechnen haben (vgl. z.B. ... BVerwGE 62, 123 [125]). Andererseits ist das von der Menschenwürde garantierte religiöse Existenzminimum von der Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht für Andersgläubige in den staatlichen Schulen der Türkei nicht berührt, weil dadurch keine den Kern der religiös geprägten Persönlichkeit treffende Pflicht verbunden ist, sich zum Islam zu bekennen ... Steht daher nur zu erwarten, daß ein Kind in einer es nicht indoktrinierenden, aber von anderen religiösen Vorstellungen geprägten Umgebung seinen Glauben auf Dauer nicht wird bewahren können, so liegt darin keine Umerziehung in dem beschriebenen Sinne. Vielmehr hätten die Kläger nicht mehr zu ertragen als die allgemeine soziale, für sie infolge ihrer religiösen Vorprägung freilich zugespitzte Situation von türkischen Kindern ohne elterliche Betreuung.
      Im übrigen scheidet auch in diesem Zusammenhang die Annahme einer Verantwortlichkeit des türkischen Staates aus. Weder ist er - wie kein Staat - in der Lage, Hänseleien und moslemisches Eiferertum gegenüber Christenkindern von seiten anderer Kinder oder einzelner staatlicher Sachwalter lückenlos abzustellen, noch ist er unter dem Aspekt der Vermeidung asylrechtlicher Verantwortlichkeit gehalten, christliche Waisenhäuser zu errichten ...