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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.90/2

[a] Eine von privaten Kräften ausgehende, dem Staat aber zurechenbare mittelbar staatliche Gruppenverfolgung setzt flächendeckende Massenausschreitungen (Pogrome) voraus. Nur unter dieser Bedingung ist die Verfolgungsdichte ausreichend, um alle Gruppenmitglieder unabhängig vom Nachweis bereits selbst erlittener Verfolgung als Verfolgte anzusehen.

[b] Von bloß regionaler politischer Verfolgung Betroffene genießen Asylrecht nur, wenn ihnen in ihrem Heimatstaat keine zumutbare inländische Fluchtalternative offensteht.

[a] The private persecution of groups which is nonetheless indirectly attributable to the state (indirect state persecution of groups) presupposes mass riots (pogroms) throughout the entire territory of the state. Only on this condition will the intensity of the persecution be sufficient for all members of the group to be considered exposed to political persecution, irrespective of whether there is any evidence that the particular person seeking asylum has suffered persecution as an individual.

[b] Persons exposed to only regional persecution do not have a right to asylum unless they cannot find reasonable refuge anywhere in their home state.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.5.1990 (9 C 17.89), BVerwGE 85, 139 (ZaöRV 52 [1992], 401)

Einleitung:

      Die Kläger sind türkische Staatsangehörige jezidischen Glaubens, die 1985 politisches Asyl mit der Begründung beantragten, die muslimische Bevölkerungsmehrheit in ihrer Heimat Ostanatolien habe sie als Jeziden verfolgt. Nachdem sie aus Angst um ihr Leben 1981 ihr Dorf verlassen hätten, sei es ihnen bis 1985 nicht gelungen, sich in anderen Gebieten der Türkei in Ruhe anzusiedeln. Nachdem das Berufungsgericht ihr Asylbegehren für begründet erklärt hatte, hob das Bundesverwaltungsgericht auf und verwies zurück.

Entscheidungsauszüge:

      [D]er vom Berufungsgericht aufgrund der von ihm festgestellten Tatsachen (§137 Abs.2 VwGO) gezogene rechtliche Schluß, die Kläger seien als Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Jeziden einer sog. mittelbaren regional begrenzten Gruppenverfolgung durch die Moslems ausgesetzt gewesen, [hält] einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand ..., soweit es ... bei der ... Gruppenverfolgung durch private Dritte die nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ... erforderliche Verfolgungsdichte angenommen hat ... Damit die Regelvermutung eigener Verfolgung grundsätzlich allen Gruppenangehörigen ohne Rücksicht darauf zugute kommen kann, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen in ihrer Person konkret verwirklicht haben, ist erforderlich, daß jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise, latent oder potentiell, sondern wegen der Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt politische Verfolgung droht ... Hierfür ist ... die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, daß es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern daß die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, daß daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht, weil auch keine verfolgungsfreien oder deutlich weniger gefährdeten Zonen oder Bereiche vorhanden sind ... Dabei ist gerade auch für den vorliegenden Zusammenhang zu unterscheiden zwischen einer unmittelbar staatlichen Verfolgung und einer zwar von privater Seite ausgehenden, dem Staat jedoch zurechenbaren und deshalb nur mittelbar staatlichen Verfolgung. ... Die Annahme einer unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung würde voraussetzen, daß mit ihr eigene staatliche Ziele durchgesetzt werden sollten und daß diese Ziele - offen oder verdeckt - von eigenen staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat dazu berufene oder doch autorisierte Kräfte durchgesetzt würden. Daß Voraussetzungen dieser Art zu der hier für die Entscheidung des Berufungsgerichts maßgebenden Zeit in der Türkei bestanden haben könnten, läßt sich dem Berufungsurteil nicht entnehmen. Deshalb ist allein die Möglichkeit einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung in Betracht zu ziehen. Eine derartige Gruppenverfolgung beruht - nicht anders als eine mittelbar staatliche Einzelverfolgung - in ihrer Zielsetzung auf privater Initiative und wird bei ihrer Verwirklichung durch Aktivitäten von privater Seite getragen, und sie muß - ebenfalls in Übereinstimmung mit einer mittelbar staatlichen Einzelverfolgung - in den Verantwortungsbereich des sie nicht verhindernden Staates fallen.
      In bezug auf die danach zunächst zu prüfende erste Voraussetzung ergibt sich daraus, daß von einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung, auch wenn sie regional begrenzt sein sollte, nur gesprochen werden kann, wenn sie sich in flächendeckenden Massenausschreitungen äußert, weil erst bei einer solchen Verfolgungsdichte die Erstreckung des Vorverfolgtenstatus auf grundsätzlich alle Gruppenmitglieder unabhängig von dem Nachweis bereits erlittener oder unmittelbar bevorstehender Verfolgung in eigener Person gerechtfertigt ist. Derartige flächendeckende Massenausschreitungen werden im Rahmen einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung in der Regel erst bei Geschehnissen ähnlich einem Pogrom oder unter pogromartigen Umständen angenommen werden können, weil nur dann die notwendige aktuelle Gefahr für alle Gruppenmitglieder besteht. Eine vergleichbare quantitative und qualitative Verfolgungsdichte muß auch dann bestehen, wenn es sich - wie hier - in dem Randgebiet eines Staates nicht um eruptive Ereignisse, sondern um lang andauernde "stille" Differenzen, gegenseitige Animositäten und Streitigkeiten zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen von Menschen handelt. Ein in einer solchen Gegend bestehendes "feindliches Klima" einschließlich möglicher Diskriminierungen oder Benachteiligungen der Bevölkerungsminderheit durch die Bevölkerungsmehrheit oder aber die allmähliche Assimilation ethnischer oder religiöser Minderheiten als Folge eines langfristigen Anpassungsprozesses ist nicht automatisch mittelbar staatliche Gruppenverfolgung und daher für sich genommen noch nicht asylrechtlich relevant ...
      Nicht hinreichend aufgeklärt ist ferner unter dem Gesichtspunkt einer inländischen Fluchtalternative der Zeitraum zwischen dem Verlassen ihres Heimatdorfes im Jahre 1981 bis zur Ausreise der Kläger aus der Türkei im November 1985. Ob eine solche Fluchtalternative angenommen werden kann, richtet sich nunmehr nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in seinen Beschlüssen vom 10. Juli 1989 (BVerfGE 80, 315) und vom 10. November 1989 [BVerfGE 81, 58]. ... Hiernach ist, wer nur von regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art.16 Abs.2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare inländische Fluchtalternative nicht finden kann. Eine solche inländische Fluchtalternative setzt voraus, daß der Asylsuchende in den dafür in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde ...
      Das Berufungsgericht wird auf dieser Grundlage ... nunmehr zu klären haben, ob die Kläger nach dem Verlassen ihres Heimatdorfes im Jahre 1981 an den Orten der Türkei, wo sie sich bis zum Jahre 1985 nach ihren Angaben tatsächlich aufgehalten haben, bereits eine zumutbare inländische Fluchtalternative erlangt hatten. Die pauschale Angabe der Kläger, sie hätten ... "keine Ruhe finden können", reicht für die Verneinung einer inländischen Fluchtalternative nicht aus.

Hinweis:

      Unter Bezugnahme auf diese Entscheidung verneinte das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 24.7.1990 (9 C 78.89 - BVerwGE 85, 266) auch die mittelbare Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen in ihrem Heimatgebiet in der Türkei.