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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.90/3

[a] Für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG ist, gelten unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist.

[b] Wer wegen seiner politischen Überzeugung zwei Tage in Polizeihaft gehalten und von Polizisten wiederholt geschlagen wurde, hat politische Verfolgung im Sinne des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG erlitten.

[c] Hat ein Asylbewerber seinen Heimatstaat erst mehr als 21 Monate nach der erlittenen Verfolgung verlassen, so ist er nur als Verfolgter ausgereist, wenn aus besonderen Gründen entnommen werden kann, daß die Verfolgungsbetroffenheit zum Zeitpunkt der Ausreise noch angedauert hat.

[a] The different standards for determining if a person seeking asylum is persecuted for political reasons in the sense of Art.16 (2) (2) of the Basic Law, depend on whether this person has fled his or her home state due to ongoing or imminent political persecution, or whether he or she has come to the Federal Republic of Germany without having been persecuted.

[b] A person who, because of his or her political opinion, was held in police custody for two days and repeatedly beaten by police officers has suffered political persecution in the sense of Art.16 (2) (2) of the Basic Law.

[c] If an asylum seeker has left his or her home state more than 21 months after having suffered political persecution, this person will only be considered as having left as a refugee if there are special reasons warranting the assumption that the persecution continued until the person's departure.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20.11.1990 (9 C 72.90), BVerwGE 87, 141 (ZaöRV 52 [1992], 391)

Einleitung:

      Der Beigeladene, ein 1963 geborener srilankischer Staatsangehöriger ceylon-tamilischer Volkszugehörigkeit, begehrte nach seiner Einreise in die Bundesrepublik im März 1984 Asyl mit der Begründung, er sei wegen seiner Aktivitäten für die Tamil United Liberation Front (TULF) 1982 in Polizeihaft genommen und von singhalesischen Polizisten gefoltert worden. Nach seiner Freilassung gegen eine Geldzahlung sei er nicht nach Hause zurückgekehrt, sondern bis zu den Rassenunruhen im Jahre 1983 in Colombo bei Verwandten untergekommen. Während der Unruhen sei das Haus seiner Tante niedergebrannt, zwei Onkel seien getötet worden. Nach seiner Heimkehr habe die Armee um die Jahreswende 1983/1984 sein Heimatdorf teilweise niedergebrannt. Sicherheitskräfte hätten damals junge Tamilen im Alter zwischen 16 und 30 Jahren willkürlich verhaftet.
      Das Berufungsgericht hielt auf dieser Grundlage den Beigeladenen für asylberechtigt; das Bundesverwaltungsgericht hob das Berufungsurteil auf und verwies zurück.

Entscheidungsauszüge:

      Das angefochtene Urteil ist ... aufzuheben, weil die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts einen Asylanspruch des Beigeladenen nach Art.16 Abs.2 Satz 2 GG nicht tragen. Für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG ist, gelten unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfGE 80, 315 [344]; BVerwGE 85, 139 [140 f.]). Ist der Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates unzumutbar, so ist er gemäß Art.16 Abs.2 Satz 2 GG asylberechtigt, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Ist die Verfolgungsgefahr zwischenzeitlich beendet, kommt es darauf an, ob mit ihrem Wiederaufleben zu rechnen ist. Ist der Asylsuchende im Zeitpunkt der Entscheidung vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher, so kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter nicht in Betracht. Gleiches gilt, wenn sich - bei fortbestehender regional begrenzter politischer Verfolgung - nach der Einreise in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eine zumutbare inländische Fluchtalternative eröffnet ... Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nach Art.16 Abs.2 Satz 2 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (vgl. hierzu BVerfGE 74, 51 [64 ff.]; BVerwGE 77, 258 [260 f.]). Droht diese Gefahr nur in einem Teil des Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohten ihm dort andere unzumutbare Nachteile und Gefahren ...
      ... Nicht zu beanstanden ist ... die Annahme des Berufungsgerichts, der Beigeladene habe in seiner Heimat vor seiner Ausreise im März 1984 politische Verfolgung erlitten. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Beigeladene im Juni 1982 wegen gewaltfreier Aktivitäten für die TULF inhaftiert und mißhandelt worden. Diesen Vorgang hat das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner weiteren Feststellungen zu Recht als asylerhebliche Verfolgung bewertet. Dem Asylgrundrecht liegt die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, daß kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen (st. Rspr.; vgl. BVerfGE 80, 333; BVerwGE 67, 184 [185 f.] und 80, 321 [324]). Ob eine an asylerhebliche Merkmale anknüpfende, zielgerichtete politische Verfolgung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten ... Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wohnt dem Begriff der politischen Verfolgung ein finales Moment inne, weil nur dem auf bestimmte Merkmale einzelner Menschen oder Gruppen zielenden Zugriff asylbegründende Wirkung zukommt (so bereits BVerwGE 67, 184 [188] und 77, 258 [263 f.]). Mit dem vom Bundesverfassungsgericht eingeführten Kriterium der "erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme" wird nur hervorgehoben, daß es auf die in der Maßnahme objektiv erkennbar werdende Anknüpfung ankommt, nicht aber auf die in der Person des Verfolgenden vorhandenen subjektiven Motive. An dem rechtlichen Ansatz, daß es für den politischen Charakter auf die Anknüpfung an asylrelevante Persönlichkeitsmerkmale ankommt, hat sich damit nichts geändert ...
      Bei Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe ist die dem Beigeladenen im Juni 1982 widerfahrene Behandlung als eine an seine politische Überzeugung anknüpfende asylrelevante Verfolgung zu bewerten. Nach dem Tatsachenvortrag des Beigeladenen, von dessen Wahrheit das Berufungsgericht sich ausweislich seiner Urteilsgründe überzeugt hat ..., ist der Beigeladene in der Haft wiederholt geschlagen worden, weil er die Frage, ob er "Tamil Eelam" haben wolle, bejaht hat. Diese menschenrechtswidrige Behandlung zielte nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit auf die politische Überzeugung des Beigeladenen, die sich in seinem Eintreten für ein unabhängiges "Tamil Eelam" manifestierte. Eine menschenrechtswidrige Behandlung ist zwar als solche nach Wortlaut und Sinn des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG nicht zwangsläufig asylerheblich. Wird sie jedoch ... wegen asylrelevanter Merkmale eingesetzt, ist sie also nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit auf die politische Komponente der dem Betroffenen zur Last gelegten Taten - hier: die politische Komponente eines Eintretens für "Tamil Eelam" - bezogen, knüpft sie objektiv an die von ihm betätigte politische Überzeugung an und ist demgemäß asylerheblich ... Die dem Beigeladenen zugefügte Rechtsverletzung war auch - ungeachtet der relativen Kürze seiner Inhaftierung von zwei Tagen - nach Art und Schwere von asylerheblicher Intensität. Die für eine Verfolgung i.S. des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG erforderliche Intensität haben nicht ganz unerhebliche Eingriffe in Leib, Leben und physische Freiheit generell ...
      Revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des Berufungsgerichts, die Verfolgung des Beigeladenen habe ihre Asylerheblichkeit weder unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Terrorismusbekämpfung (BVerfGE 80, 339) noch unter dem Gesichtspunkt einer im Jahre 1982 in Sri Lanka fehlenden staatliche Gebietsgewalt (BVerfGE 80, 340 f.) verloren. ...
      Revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden ist schließlich die Annahme des Berufungsgerichts, der Beigeladene habe seine Heimat unter dem Druck bestehender Verfolgungsbetroffenheit verlassen. Das auf dem Zufluchtgedanken beruhende Asylgrundrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG setzt von seinem Tatbestand her grundsätzlich den Kausalzusammenhang Verfolgung - Flucht - Asyl voraus (BVerfGE 80, 344; BVerwGE 85, 139 [140]). Die Ausreise muß sich deshalb bei objektiver Betrachtung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als eine unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindende Flucht darstellen. In dieser Hinsicht kommt der zwischen Verfolgung und Ausreise verstrichenen Zeit entscheidende Bedeutung zu. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatstaat verbleibt, um so mehr verbraucht sich der objektive äußere Zusammenhang zwischen Verfolgung und Ausreise. Daher kann allein schon bloßer Zeitablauf dazu führen, daß eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck erlittener Verfolgung stehenden Flucht verliert. Ein Ausländer ist mithin grundsätzlich nur dann als verfolgt ausgereist anzusehen, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der erlittenen Verfolgung verläßt ... Ob ein solcher naher zeitlicher Zusammenhang vorliegend bejaht werden kann, ist angesichts der Zeitspanne von einem Jahr und neun Monaten zwischen der Verfolgung des Beigeladenen im Juni 1982 und seiner Ausreise im März 1984 fraglich. Die Frage bedarf indes keiner Entscheidung. Aus den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts zu den Begleitumständen der Ausreise des Beigeladenen ergibt sich nämlich, daß sich diese Ausreise bei objektiver Betrachtung aus anderen Gründen noch als Flucht vor der im Jahre 1982 erlittenen Verfolgung darstellt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Beigeladene im Juni 1982 nur gegen Zahlung einer Kaution bzw. gegen ein Bestechungsgeld freigelassen worden. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme des Berufungsgerichts, die Verfolgung des Beigeladenen vom Juni 1982 habe trotz seiner Freilassung noch kein Ende gefunden, nicht zu beanstanden. Davon abgesehen ist der Beigeladene nach seiner Freilassung im Juni 1982 nicht in seinem Heimatort ... geblieben, sondern unter dem Druck der erlittenen Verfolgung nach Colombo geflüchtet. Der Gefahr einer erneuten Verfolgungsbetroffenheit in seinem Heimatort hat er sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts durch seine anschließende Flucht von Colombo zurück ... nur deshalb ausgesetzt, weil es im Jahre 1983 in Colombo zu blutigen Rassenunruhen gekommen ist, Colombo mithin aus der Sicht des Beigeladenen als inländische Fluchtalternative nicht länger zur Verfügung stand. Daß der Beigeladene sich während seines erneuten Aufenthalts in Point Pedro weiterhin im Zustand der Flucht befunden hat, ist angesichts der Umstände seiner Entlassung aus der Polizeihaft im Jahre 1982 sowie der vom Berufungsgericht festgestellten willkürlichen Festnahmen junger tamilischer Männer und der Zerstörung tamilischer Häuser in Point Pedro um die Jahreswende 1983/84 nicht zweifelhaft. Unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände erweist sich deshalb die Ausreise des Beigeladenen im März 1984 trotz der verstrichenen Zeit als Fortsetzung seiner im Juni 1982 begonnenen Flucht.
      Das Berufungsurteil hält demgegenüber einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand, soweit es davon ausgeht, dem Beigeladenen habe bei seiner Ausreise im Jahre 1984 eine zumutbare inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung gestanden. Diese rechtliche Bewertung wird von den hierzu getroffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht getragen. Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, daß der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde ... Daß der Beigeladene im Jahre 1983 in Colombo wegen blutiger Rassenunruhen Gefahren ausgesetzt gewesen ist, besagt nichts über die im Jahre 1984 in Colombo herrschenden Verhältnisse, insbesondere nichts darüber, ob der Beigeladene zu dieser Zeit bei der gebotenen generalisierenden Betrachtung ... in Colombo eine Existenzgrundlage hätte finden können. ... [N]ach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts [ist] für die Annahme einer existentiellen Gefährdung am Ort einer inländischen Fluchtalternative maßgeblich, ob der Asylbewerber bei generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt ...