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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.92/1

Hat der Asylbewerber nach dem Verlassen seines Heimatstaates mit einer Frau anderer Religionszugehörigkeit die Ehe geschlossen und nimmt sein Heimatstaat dies oder den Umstand, daß der Asylbewerber eine Erziehung seiner Kinder im Sinne der Religion seiner Frau zuläßt, zum Anlaß für eine Verfolgung, liegt regelmäßig ein asylrechtlich relevanter subjektiver Nachfluchtgrund vor.

If an asylum-seeker has married a woman of another religious affiliation after leaving his home state, and if his home state uses this marriage or the fact that the asylum-seeker permits the education of his children according to the religion of his wife as the basis for persecuting him, this will as a rule constitute a sufficient subjective reason for recognizing him as a "réfugié sur place".

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6.4.1992 (9 C 143.90), InfAuslR 1992, 258 (ZaöRV 54 [1994], 512)

Einleitung:

      Der iranische Asylbewerber hatte nach dem Verlassen seines Heimatstaats eine polnische Christin geheiratet. Er beantragte Asyl, weil er im Iran wegen seiner Eheschließung mit einer andersgläubigen Frau Verfolgung zu erwarten habe. Anders als die Vorinstanzen hält das Bundesverwaltungsgericht diesen Vortrag für erheblich.

Entscheidungsauszüge:

      II. Die Revision des Klägers ist begründet. Der Beschluß des Berufungsgerichts verletzt Art.16 Abs.2 Satz 2 GG. ... Das Asylbegehren des Klägers ist im wesentlichen auf seine Heirat in Polen mit einer polnischen Christin gestützt, durch die ihm nach seiner Behauptung - auch wegen der von ihm zugelassenen Erziehung seiner Kinder im christlichen Glauben - eine politische Verfolgung im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatstaat drohe ... Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat das Berufungsgericht nicht abschließend geprüft, sondern "letztlich offengelassen", weil es die Heirat als möglicherweise politische Verfolgung auslösenden Umstand zu Unrecht als unbeachtlichen subjektiven Nachfluchtgrund eingeordnet hat ...
      Die vom Kläger geltend gemachten ... Verfolgungsgründe ... sind zeitlich erstmalig nach der "Flucht", d.h. dem Verlassen des Heimatstaates des Klägers entstanden und deshalb Nachfluchtgründe. Sie gehören ferner zu den subjektiven Nachfluchtgründen, weil das "eigene Zutun" des von der Verfolgung Bedrohten bei der Entstehung der ihm drohenden Gefahr politischer Verfolgung das maßgebliche Kriterium für die Abgrenzung des selbstgeschaffenen (subjektiven) Tatbestandes gegenüber den von einem eigenen Willensentschluß unabhängig entstandenen (objektiven) Nachfluchtgründen ist ... Heirat und Kindererziehung sind ... stets subjektive Entscheidungen des Einzelnen aus eigenem, autonomem Entschluß.
      Ob dieser subjektive Nachfluchtgrund asylrelevant ist, richtet sich ... nach der die Verwaltungsgerichte gemäß §31 BVerfGG bindenden ... "allgemeinen - nicht notwendig abschließenden - Leitlinie" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 74, 51 [66] ...) ... Diese auf die exilpolitische Tätigkeit zugeschnittene allgemeine Leitlinie des Bundesverfassungsgerichts, die nicht abschließend und deshalb im Hinblick auf die verschiedenen Fallgruppen selbstgeschaffener Nachfluchtgründe näher zu präzisieren ist, hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen für die Asylantragstellung, die Republikflucht und die Wehrdienstentziehung bereits näher konkretisiert (vgl. hierzu zusammenfassend ... InfAuslR 1991, 209 ... InfAuslR 1991, 310 ...). In allen diesen Fällen hat der Senat als Ersatz für eine fehlende Vorverfolgung eine Anknüpfung an einen früheren "Verfolgungskeim" gefordert und diesen in einer "latenten Gefährdungslage" als Erscheinungsform einer Zwangslage im Heimatstaat gesehen ... Diese Grundsätze, deren Voraussetzungen hier offensichtlich nicht vorliegen, bedürfen für den hier geltend gemachten atypischen subjektiven Nachfluchtgrund weiterer Präzisierung. ...
      Die Zurückhaltung bei der Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie von der Erwägung getragen, daß sich ein Ausländer oder Staatenloser bei Fehlen des Kausalzusammenhanges Verfolgung/Flucht/Asyl nicht durch eine "risikolose Verfolgungsprovokation vom sicheren Ort aus" ein grundrechtlich verbürgtes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland praktisch selbst erzwingen können soll ... Diese Erwägung trifft auf die - politische Verfolgung nach sich ziehende - Wahl des Ehepartners, wenn überhaupt, dann nur sehr bedingt zu: Die Annahme, jemand wähle seinen Ehepartner, der einer anderen Religion angehört, zu dem Zwecke aus, um seinen Heimatstaat zu provozieren, liegt typischerweise gänzlich fern. In ähnlicher Weise paßt das Erfordernis, daß der subjektive Nachfluchtgrund einen Anknüpfungspunkt im Heimatstaat haben muß, nicht auf den Fall, daß der moslemische Asylbewerber außerhalb seines islamischen Heimatstaates - wie hier - eine Christin kennenlernt und diese dort heiratet. Unter diesen Umständen stehen Sinn und Zweck der Asylverbürgung nicht entgegen, den vom Kläger geltend gemachten subjektiven Nachfluchtgrund als asylrechtlich erheblich einzustufen: In der übereinstimmenden Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht ist stets der Schutz der Menschenwürde und ihre Unverletzlichkeit sowie die humanitäre Intention betont [worden], die der Asylrechtsgewährung zugrunde liegt ... Mit dem Schutz der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit wird zum Ausdruck gebracht, "daß kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in ... jedem Menschen von Geburt an anhaftenden Merkmalen liegen" (BVerfGE 76, 143 [157, 158] ...). Eingriffe in die Menschenwürde und die persönliche Freiheit sind dann asylrelevant, wenn sie "ein solches Gewicht haben, daß sie in den elementaren Bereich der sittlichen Person eingreifen, in dem für ein menschenwürdiges Dasein die Selbstbestimmung möglich bleiben muß, sollen nicht die metaphysischen Grundlagen menschlicher Existenz zerstört werden" ...
      Hieraus folgt für den vorliegenden Fall: Wenn ein Staat eine Verfolgung allein daran knüpft, daß sein Staatsangehöriger einen Menschen mit anderer Religion oder Nationalität heiratet - also faktische und rechtliche Heiratsverbote verhängt -, greift er in schwerer Weise in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein und verletzt die Würde des Menschen in erheblichem Maße. Denn das Recht auf Heirat zwischen Menschen aus freiem, staatlich unbeeinflußtem Entschluß gehört als eine der wesentlichen Lebensentscheidungen zum Kernbereich persönlicher Freiheit und Menschenwürde. Die freie Wahl des Ehepartners ist eine Grundforderung des Lebens und muß unabhängig von seiner Rasse, Religion, politischen Überzeugung oder Abstammung aus einer bestimmten sozialen Gruppe sanktionslos möglich sein. Liebe und Heirat dürfen nicht von Staats wegen ge- oder verboten oder mit asylerheblichen Sanktionen belegt werden, weil sie gleichsam "unentrinnbares" Phänomen menschlichen Lebens sind, dem auch das Asylrecht Rechnung tragen muß. Eine nach Intensität und Schwere asylerhebliche Verfolgungsmaßnahme, die an die bloße Tatsache der Heirat eines bestimmten Menschen einer bestimmten Religion oder an eine bestimmte Kindererziehung anknüpft, verletzt die Menschenwürde in besonders schwerer Weise und muß nach Sinn und Zweck der Asylverbürgung regelmäßig auch dann asylrelevant sein, wenn die Eheschließung nach der Ausreise des Asylbewerbers aus seinem Heimatstaat im Ausland stattgefunden hat. Etwas anderes kann freilich dann anzunehmen sein, wenn durch eine Heirat ein Asylrecht gewissermaßen erschlichen werden soll, d.h. wenn der maßgebliche Zweck einer Heirat die Erlangung eines Asylrechts ist, das unter normalen Umständen nicht zu erlangen gewesen wäre.
      Die Beachtlichkeit einer politischen Verfolgung wegen eines subjektiven Nachfluchtgrundes setzt ferner voraus, daß die Verfolgung politisch ist, d.h. die Verfolgung muß den Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen sollen. ... Im vorliegenden Fall wird eine Verfolgung nicht schlechthin "wegen Heirat" geltend gemacht, sondern wegen "Heirat einer Christin" sowie der "Gestattung einer christlichen Kindererziehung".