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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1050. EUROPÄISCHES AUSLIEFERUNGSÜBEREINKOMMEN VOM 13.12.1957 (BGBl. 1964 II S.1371)

Art.6 Abs.2

Nr.87/1

Übernimmt der ersuchte Staat nach Ablehnung des Auslieferungsersuchens selbst die Strafverfolgung, so entsteht im ersuchenden Staat ein Verfolgungshindernis. Dieses hindert auch einer Auslieferung des Verfolgten an den ersuchenden Staat.

If a requested state takes up a criminal prosecution after refusing an extradition request, the requesting state may not continue its own prosecution. The person claimed may thus not be extradited to the requesting state.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluß vom 21.12.1987 (1 AK 31/87), NStZ 1988, 135 (ZaöRV 48 [1988], 745 f.)

Einleitung:

      Der Verfolgte ist aufgrund eines italienischen Haftbefehls zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Nach seiner Festnahme in der Bundesrepublik hatte das Oberlandesgericht einen vorläufigen Auslieferungshaftbefehl erlassen, den es jetzt aufhob. Da der Verfolgte Schweizer Staatsbürger ist, hatte die Schweiz nämlich ein Auslieferungsbegehren Italiens abgelehnt und gem. Art.6 Abs.2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens die Verfolgung der dem Verfolgten in Italien zur Last gelegten Straftaten übernommen. In dieser Übernahme sieht das Oberlandesgericht ein Hindernis bezüglich der Auslieferung an Italien.

Entscheidungsauszüge:

      2. Die Rechtfertigung der Auslieferungshaft ergibt sich ausschließlich aus dem Zweck der Vorbereitung und Sicherung der Auslieferung ... und richtet sich nach den Regeln des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Für ihre Anordnung oder Aufrechterhaltung ist kein Raum, wenn oder sobald sich ergibt, daß sie diesen Zweck nicht wird erfüllen können. Eine Aufrechterhaltung der (vorläufigen) Auslieferungshaft kommt danach nicht in Betracht, sobald die Auslieferung "unzulässig erscheint" (§§15 II, 16 I IRG) ...
      a) Die Schweiz und Italien sind Vertragsparteien des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens in Strafsachen. Nach Art.6 Abs.1 EuAlÜbk ist jeder Vertragsstaat berechtigt, die Auslieferung eigener Staatsangehöriger abzulehnen. Auf entsprechendes Begehren des ersuchenden Staates hat jedoch der ersuchte Staat die Verfolgung des strafrechtlich relevanten Sachverhalts zu übernehmen und die zuständigen Behörden zur Einleitung eines Strafverfahrens zu veranlassen (vgl. Art.6 Abs.2 EuAlÜbk). Das Strafverfolgungsersuchen beseitigt zwar nicht den Strafanspruch des ersuchenden Staates als solchen. Indes begibt sich der ersuchende Staat mit dem Strafverfolgungsersuchen seiner Verfolgungskompetenz. Im Anschluß an Art.21 EuRHiÜbk hat sich im internationalen Rechtshilfeverkehr der allgemeine Rechtsgrundsatz entwickelt, daß mit der Übernahme und der Einleitung einer Strafverfolgung durch den ersuchten Staat im ersuchenden Staat ein Betreibungshindernis entsteht, d.h. der Durch- bzw. Weiterführung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat ein zwingendes Verfahrenshindernis entgegensteht. Mit der Übertragung der Strafverfolgung kommt dem vom ersuchenden Staat angeregten Strafverfahren im ersuchten Staat der Vorrang zu. Das zur Übernahme und Verfahrenseinleitung im ersuchten Staat führende Strafverfolgungsersuchen begründet im ersuchenden Staat ein Strafverfolgungshindernis, in dem sich das Prinzip des "ne bis in idem" konkretisiert. Diese allgemeinen Rechtsgrundsätze haben auch in zahlreichen Ergänzungsverträgen der Bundesrepublik mit verschiedenen Staaten Ausdruck gefunden ... Zwischen der Schweiz und Italien ist zwar insoweit keine ergänzungsvertragliche Regelung getroffen worden. Indes hat Italien, wie sich aus Art.XII Abs.4 des deutsch-italienischen Ergänzungsvertrages ergibt, diese allgemeinen Rechtsgrundsätze als rechtsverbindlich anerkannt. Ob und unter welchen Voraussetzungen das mit der Übernahme der Strafverfolgung begründete Verfahrenshindernis im ersuchenden Staat endgültig ist, ob und unter welchen besonderen Umständen die Verfolgungskompetenz an den ersuchenden Staat zurückfallen oder das Strafverfolgungsersuchen zurückgenommen werden kann, bedarf hier keiner abschließenden Untersuchung. Ein endgültiges Verfolgungshindernis besteht jedenfalls dann, wenn die Strafverfolgungsbehörden des ersuchten Staates eine verfahrensabschließende Sachentscheidung treffen, worunter auch die Verfahrenseinstellung aus materiell-rechtlichen Gründen fällt.
      b) Nach den vorstehenden Grundsätzen steht einer Durch- oder Weiterführung eines Strafverfahrens gegen den Verfolgten in Italien wegen der dem Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Bozen vom 19.7.1985 zugrundeliegenden Tatvorwürfe ein Verfolgungshindernis entgegen. Die Strafverfolgungsbehörden der Schweiz haben auf entsprechendes Ersuchen der italienischen Justizbehörden die Strafverfolgung wegen dieses Tatkomplexes übernommen ...
      c) Im Auslieferungsrecht gilt der Grundsatz der beiderseitigen Verfolgbarkeit ... Eine Auslieferung setzt ... voraus, daß die dem Auslieferungsersuchen zugrundegelegten Taten (Art.1, 2 Abs.1 EuAlÜbk) nach dem Recht des ersuchenden Staates verfolgbar sind, d.h. Verfolgungshindernisse nicht bestehen. Das mit dem Strafverfolgungsersuchen Italiens und der Verfolgungsübernahme durch die Schweiz für Italien begründete Verfolgungshindernis wirkt sich im vorliegenden auslieferungsrechtlichen Bereich als Auslieferungshindernis aus.