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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.88/1

Nach Art.6 Abs.2 EMRK kann ein Gericht einem Angeklagten die Erstattung seiner notwendigen Auslagen im Falle der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses nur dann mit der Begründung verweigern, er wäre ohne das Verfahrenshindernis verurteilt worden (§467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO), wenn die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist.

Under Art.6 (2) of the European Convention on Human Rights, when discontinuing criminal proceedings due to a procedural impediment, a court may only deny reimbursement of the defendant's necessary expenses on the ground that the defendant would have been convicted but for the procedural impediment (§467 (3) (2) (2) of the Code of Criminal Procedure) if the trial has advanced to a point where a guilty verdict could have been handed down.

Oberlandesgericht München, Beschluß vom 1.8.1988 (2 Ws 237/88 K), NStZ 1989, 134 mit Anmerkung von Kristian Kühl (ZaöRV 50 [1990], 115)

Einleitung:

      Nachdem das Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen dessen endgültiger Verhandlungsfähigkeit eingestellt worden war (§206a StPO), beantragte dieser, seine notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen (§467 Abs.1 StPO). Die Strafkammer lehnte den Antrag ab, denn der Angeklagte sei nur deshalb nicht verurteilt worden, weil ein Verfahrenshindernis bestehe (§467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO). Seine sofortige Beschwerde hatte Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Ausnahmsweise werden notwendige Auslagen des Angeklagten der Staatskasse nicht auferlegt, wenn der Angeklagte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht (§467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO). Demnach muß zur Überzeugung des Gerichts feststehen, daß beim Wegdenken des Verfahrenshindernisses die Verurteilung zu erwarten wäre ... Welcher Grad der Sicherheit bei den Feststellungen zur Schuldfrage erreicht sein muß und in welchem Verfahrensstand diese Feststellungen getroffen werden dürfen, war bisher umstritten. Der Senat stellte sich bisher auf den Standpunkt, daß es erforderlich sei, aber auch genüge, wenn die Prognose nach Aktenlage getroffen werden könne und nach dieser keine Zweifel einer Verurteilung entgegenstünden. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch nunmehr im Zusammenhang mit §471 Abs.3 StPO (Verteilung notwendiger Auslagen der Privatklagebeteiligten bei Einstellung wegen geringer Schuld, §383 StPO) entschieden, daß es im Hinblick auf Art.6 Abs.2 EMRK unzulässig sei, die Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen auf die Annahme zu gründen, der Beschuldigte sei einer strafbaren Handlung schuldig, wenn die Hauptverhandlung nicht bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist (NStZ 1987, 421 und 1988, 84). Ausgangspunkt dieser Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts ist, daß die Unschuldsvermutung eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips darstellt und damit Verfassungsrang hat und daß sie auch kraft Art.6 Abs.2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik im Range eines Bundesgesetzes ist. Zwar verwehre die Unschuldsvermutung den Strafverfolgungsorganen nicht, verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung zu beurteilen. Aber erst die durchgeführte Hauptverhandlung als Kernstück des Strafprozesses, die die größte Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten bietet, setzt den Richter in den Stand, sich eine Überzeugung zur Schuldfrage zu bilden und gegebenenfalls die Unschuldsvermutung zu widerlegen. Schuldzuweisungen oder -bestätigungen in den Gründen eines Feststellungsbeschlusses nach §383 Abs.3, der vor Durchführung einer Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife ergeht, würden zur Feststellung eines selbständigen Grundrechtsverstoßes führen. Das gelte auch dann, wenn solche Schuldzuweisungen rein hypothetischen Charakters sind. ...
      Die tragenden Gründe der Bundesverfassungsgerichts-Entscheide sind auch bei der Entscheidung nach §467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO zu berücksichtigen, wenngleich Unterschiede zur Entscheidung nach §§383, 471 Abs.3 Nr.2 StPO bestehen: Das Bundesverfassungsgericht beanstandete die Überbürdung von Auslagen von einer Privatklagepartei auf die andere aufgrund Schuldfeststellung ohne Schuldspruchreife. Dies besagt noch nichts darüber, ob mangels Schuldspruchreife ein Angeklagter von seinen eigenen notwendigen Auslagen entlastet werden muß. Da aber nach einfachem Recht in §467 Abs.1 StPO festgelegt ist, daß ein Angeklagter bei der Einstellung des Verfahrens von seinen notwendigen Auslagen zu Lasten der Staatskasse freizustellen ist, stellen die folgenden Absätze dieser Vorschrift Ausnahmen dar. Abs.3 Satz 2 Nr.2 regelt als Ausnahme, daß die Entlastung nicht eintritt, wenn der Angeklagte ohne das Verfahrenshindernis verurteilt worden wäre. Die hypothetische Verurteilungsmöglichkeit muß sich nun aber aufgrund des Ausnahmecharakters der Vorschrift an den vom Bundesverfassungsgericht dargelegten Grundsätzen messen lassen. Daraus folgt, daß die Freistellung von eigenen Auslagen nach einfachem Recht nur dann versagt werden darf, wenn auch hier im Zeitpunkt der Einstellung Verurteilungsreife besteht und eine Schuldfeststellung getroffen werden kann. Daß dies nur selten eintreten dürfte, muß hingenommen werden.