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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.3 lit.d EMRK

Nr.90/1

Es verstößt nicht gegen Art.6 Abs.3 Buchst.d EMRK oder den fair trial-Grundsatz des Art.6 Abs.1 EMRK, einen Angeklagten aufgrund von Aussagen zu verurteilen, die polizeiliche Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen über die ihnen gegebenen Berichte verdeckter polizeilicher Ermittler gemacht haben.

Neither Art.6 (3) lit.d ECHR nor the fair trial principle of Art.6 (1) ECHR are violated when a court convicts a defendant on the basis of testimony given by police interrogators as hearsay witnesses on reports they received from undercover police investigators.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.11.1990 (1 StR 562/90), NStZ 1991, 194 (ZaöRV 52 [1992], 412)

Einleitung:

      Der Angeklagte war aufgrund von Aussagen, die polizeiliche Verhörspersonen in der Hauptverhandlung vor der Strafkammer gemacht hatten, wegen der Einfuhr von Betäubungsmitteln aus Belgien in die Bundesrepublik Deutschland verurteilt worden. Die Verhörspersonen hatten wiedergegeben, was ihnen von anonym gebliebenen verdeckten polizeilichen Ermittlern berichtet worden war, die in unmittelbarem Kontakt mit dem Angeklagten gestanden hatten. Mit seiner Revision rügte dieser ohne Erfolg einen Verstoß gegen Art.6 Abs.3 Buchst. d EMRK.

Entscheidungsauszüge:

      2. In der Verfahrensweise der Strafkammer liegt auch kein Verstoß gegen Art.6 Abs.3 Buchst. d EMRK, der dem Angeklagten das Recht garantiert, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Der BGH hat in ständiger Rechtsprechung die Vernehmung von Verhörsbeamten über Angaben anonymer Gewährsleute als zulässig angesehen ... und darin keine Verletzung von Art.6 EMRK erblickt (BGHSt 17, 382, 388; vgl. auch BGH NStZ 1985, 376, 377).
      Daran hat sich durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 20.11.1989 im Fall Kostovski (StV 1990, 481) nichts geändert.
      Art.6 Abs.3 Buchst. d EMRK kann nicht betroffen sein, weil der Angeklagte nicht behauptet, von den dort garantierten Rechten abgeschnitten worden zu sein.
      a) Das gilt zunächst für das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Belastungszeugen waren im vorliegenden Fall die Verhörspersonen ... In bezug auf sie macht die Revision nicht geltend, daß die Strafkammer dem Angeklagten das Fragerecht genommen habe. Ebensowenig trägt die Revision vor, es sei dem Angeklagten vom Tatgericht verwehrt worden, an die verdeckten Ermittler Fragen stellen zu lassen. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob es sich bei den verdeckten Ermittlern - etwa im Unterschied zu den anonymen Informanten in dem vom EGMR entschiedenen Fall - überhaupt um Zeugen i.S. des Art.6 Abs.3 Buchst. d EMRK gehandelt hat.
      b) Art.6 Abs.3 Buchst. d EMRK garantiert dem Angeklagten ferner das Recht, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Als Entlastungszeugen kamen hier die verdeckten Ermittler der Polizei in Betracht. Aber auch in bezug auf sie behauptet die Revision nicht, daß dem Angeklagten dieses Recht versagt worden sei. Sie trägt nicht vor, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Vernehmung der anonymen Polizeibeamten gestellt und die Strafkammer diesen Antrag abgelehnt hätte. Der vergebliche Versuch, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen zu erwirken, wäre aber Voraussetzung für eine Verletzung des in Art.6 Abs.3 Buchst. d EMRK gewährten Rechts.
      3. Die Verfahrensweise des Landgerichts kann - als Ganzes betrachtet - auch nicht unter dem Gesichtspunkt des fair-trial-Grundsatzes (Art.6 Abs.1 EMRK) beanstandet werden.
      In der vorerwähnten Entscheidung vom 20.11.1989 hat der EGMR zwar ausgeführt, grundsätzlich müßten alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten in öffentlicher Verhandlung in Blickrichtung auf eine kontradiktorische Argumentation erhoben werden. Damit hat er jedoch die Verwertung von anonymen Zeugenaussagen nicht allgemein für unzulässig gehalten, sondern nur dann, wenn die Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht gewahrt werden. In der Regel verlangen diese Rechte nach Auffassung des EGMR, daß der Angeklagte eine angemessene und geeignete Gelegenheit erhält, die Glaubwürdigkeit eines gegen ihn aussagenden Zeugen überhaupt in Frage zu stellen und ihn zu befragen. Diese Rechte sah der EGMR aufgrund der besonderen Umstände des Falles als nicht gewahrt an, u.a. weil der Untersuchungsrichter nur eine der beiden anonymen Personen, deren Identität er nicht kannte, vernommen hatte, obwohl das Gericht der Verurteilung auch die polizeilichen Berichte über die Angaben des anderen Informanten zugrundegelegt hatte, die Vernehmung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten und des Verteidigers stattgefunden hatte und das Ausmaß der Fragen, die der Verteidiger an die anonymen Personen über den Untersuchungsrichter stellen durfte, beschränkt war.
      Dem hier zu entscheidenden Fall liegt dagegen ein anderer Sachverhalt zugrunde. Im Gegensatz zu dem vom EGMR entschiedenen Fall waren die Informanten hier Polizeibeamte, die als verdeckte Ermittler ihr unmittelbares Wissen von den Tatvorgängen in dienstlicher Eigenschaft und in dienstlichem Auftrag gewonnen hatten. Bei ihnen besteht schon allgemein eine wesentlich größere Gewähr für die Zuverlässigkeit ihrer Angaben als bei sonstigen Informanten. Die Gefahr, daß der Angeklagte das Opfer ungerechtfertigter Verdächtigungen oder persönlicher Feindschaft wird, ist bei dieser Sachlage im wesentlichen ausgeschaltet. Diese Gefahr war hier weiter dadurch verringert, daß Behörden verschiedener Länder mit Hilfe verdeckter Ermittler zusammenwirkten. Die verdeckten Ermittler waren überdies in ständiger Absprache mit ihren Dienststellen tätig und unterrichteten diese laufend über die maßgeblichen Vorgänge. Der als Zeuge vernommene Leiter der belgischen verdeckten Ermittlung war ... sogar zu den Verkaufstreffs in Stuttgart zusammen mit dem Ermittler seiner Behörde eingereist und hat die Vorgänge "aus der Nähe beobachten können".
      Bei dieser Sachlage kann keine Rede davon sein, daß die Rechte der Verteidigung durch die Vernehmung der Verhörspersonen in unangemessener Weise beschränkt worden sind. Abgesehen von dem allgemeinen Hinweis auf die fehlende Möglichkeit zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit der verdeckten Ermittler legt auch die Revision nicht dar, welche rechtlich zulässigen Maßnahmen hier konkret in Betracht gekommen wären.

Hinweis:

      Die Verfassungsbeschwerde des Verurteilten wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG [Kammer], Beschluß vom 11.4.1991 [2 BvR 196/91], StV 1991, 449).