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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1824.2.2. UNMITTELBARE ANWENDBARKEIT VON RICHTLINIEN

Nr.90/1

Bei einem Vertragsschluß in Spanien nach spanischem Recht, der unter die Voraussetzungen der Richtlinie des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (85/577/EWG) fällt, steht einem deutschen Verbraucher ein Widerrufsrecht unmittelbar aus dieser von Spanien nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie zu.

If a contract is concluded in Spain and governed by Spanish law and is covered by the Council Directive of 20 December 1985 to protect the consumer in respect of contracts negotiated away from business premises (85/577/EEC), a German consumer can derive directly from the directive a right to renounce the effects of his or her contractual undertaking if Spain did not transpose the directive in a timely manner.

Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 28.8.1990 (20 U 85/89), EuZW 1990, 550 (ZaöRV 52 [1992], 433) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Die Beklagte hatte als deutsche Touristin 1988 während einer Freizeitveranstaltung in Spanien mit der Klägerin einen Kaufvertrag geschlossen, dessen Erfüllung letztere nunmehr einklagt. Die Beklagte hat ihre Willenserklärung zwar später widerrufen. Da der Vertrag jedoch eine Rechtswahlklausel zugunsten des spanischen Rechts enthielt, konnte sie ein Widerrufsrecht nicht aus §1 Abs.1 Nr.2 und §2 des Gesetzes über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften vom 16.1.1986 (BGBl. I S.122) herleiten. Spanien hatte seinerseits die Richtlinie des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (85/577/EWG - ABl. Nr. L 372/31) zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht umgesetzt.

Entscheidungsauszüge:

      Der Klägerin stehen keine Ansprüche aus dem Vertrag vom 20.7.1988 zu, weil die Beklagte diesen Vertrag wirksam widerrufen hat. Zwar bestimmen sich die von der Beklagten eingegangenen Verpflichtungen grundsätzlich nach spanischem materiellen Recht, das eine Widerrufsmöglichkeit nicht vorsieht. Das Widerrufsrecht ergibt sich indessen aus unmittelbarer Anwendung der EG-Richtlinie 85/577. Der vorliegende Fall weist außerdem derart enge Verknüpfungen zur Bundesrepublik Deutschland auf, daß auch der deutsche ordre public eine Widerrufsmöglichkeit verlangt. ...
      3. Auch bei grundsätzlicher Anwendbarkeit spanischen materiellen Rechts ergibt sich ein Widerrufsrecht der Beklagten aus der unmittelbaren Anwendung der EG-Richtlinie 85/577. Diese Richtlinie des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen ... war von den Mitgliedstaaten der EG bis zum 23.12.1987 in innerstaatliches Recht umzusetzen. Dieser Verpflichtung ist Spanien nicht nachgekommen.
      Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann ein Mitgliedstaat, der die in einer Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den betroffenen Personen nicht entgegenhalten, daß er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Demnach können sich die einzelnen Personen in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen (EuGHE 1982, 53 [71] ...).
      Art.5 EG-Richtlinie 85/577 legt das Widerrufsrecht des Verbrauchers im einzelnen fest, ohne daß den Mitgliedstaaten ein Gestaltungsspielraum verbleibt (es sei denn für für den Verbraucher noch günstigere Regelungen, Art.8). Soweit das Oberlandesgericht Hamm in der in der Berufungsbegründung zitierten Entscheidung die Richtlinie deshalb nicht für anwendbar hält, weil sie den Mitgliedstaaten einen zu großen Gestaltungsspielraum lasse (OLG Hamm, NJW-RR 1989, 496), kann dem im vorliegenden Fall nicht gefolgt werden. Denn das OLG Hamm bezieht sich nicht auf das Widerrufsrecht nach Art.5 der Richtlinie, sondern auf die in Art.4 der Richtlinie vorgesehene Belehrungspflicht. ... Art.5 Abs.1 der Richtlinie überläßt den Mitgliedstaaten jedenfalls nicht die Entscheidung darüber, ob sie ein Widerrufsrecht einführen. Das "Verfahren" und die "Bedingungen, die im innerstaatlichen Recht festgelegt sind", betreffen nur die hier unerhebliche Frage, wie der Widerruf anzuzeigen ist (z.B. mündlich oder schriftlich). Das Widerrufsrecht als solches bleibt damit hinreichend bestimmt, um unmittelbar gelten zu können ...
      Soweit ersichtlich gibt es allerdings keine Entscheidung des EuGH, die ausdrücklich Richtlinien auch insoweit für unmittelbar anwendbar erklärt, als nicht dem Gemeinschaftsrecht nur entgegenstehendes nationales Recht unanwendbar sein, sondern auch eine im nationalen Recht fehlende positive Regelung der Richtlinie gelten soll (positive Geltung), und insoweit, als der Einzelne sich nicht nur gegenüber dem Mitgliedstaat, sondern auch im privaten Rechtsverkehr gegenüber einem Dritten auf die Richtlinie berufen können soll (horizontale Geltung). Die Entscheidungen des EuGH zum Diskriminierungsverbot im Arbeitsrecht lassen sich aber dahingehend verstehen, daß Richtlinien auch positiv und horizontal unmittelbar gelten können. In der Rechtssache 14/83 (EuGHE 1984, 1891 ...) verneint der Gerichtshof zwar die unmittelbare Anwendbarkeit der EG-Richtlinie 76/207, die die Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zur Beschäftigung durchsetzen helfen soll. Dies geschieht aber nur deshalb, weil die Richtlinie es den Mitgliedstaaten überläßt, die Sanktion für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot zu bestimmen. Würde der Grundsatz gelten, daß eine Richtlinie nur entgegenstehendes nationales Recht außer Kraft setzen kann, hätte die Feststellung genügt, daß §611a Abs.2 BGB Bestand habe, weil diese Bestimmung nicht dahingehend auszulegen sei, daß sie weitergehende Schadensersatzansprüche ausschließe. Der Gerichtshof beschäftigt sich aber nicht nur mit der Frage, ob §611a Abs.2 BGB gegen die Richtlinie verstößt. Er stellt an die nationale Regelung die positive Anforderung, daß eine Sanktion gegen das Diskriminierungsverbot geeignet sein müsse, einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. Dementsprechend verpflichtet er die nationalen Gerichte, bei der Anwendung des nationalen Rechts (und zwar nicht nur der Vorschriften eines speziell zur Durchführung der Richtlinie erlassenen Gesetzes) dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, um das in Art.189 Abs.3 EWGV genannte Ziel zu erreichen (EuGHE 1984, 1891 [1908 f.] ...). Damit erhalten die Richtlinien eine das nationale Recht positiv gestaltende Funktion, die über eine bloß kassatorische Wirkung deutlich hinausgeht.
      Der Gerichtshof geht in der Rechtssache 79/83 (EuGHE 1984, 1921) auch ohne weiteres davon aus, daß eine Richtlinie unter Privaten in einem Privatrechtsverhältnis wirken kann. Auch in diesem Fall war ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot bei Arbeitsverhältnissen zu prüfen. Während in der Rechtssache 14/83 im Ausgangsverfahren das Land Nordrhein-Westfalen als Arbeitgeber verklagt worden war, war in der Rechtssache 79/83 verklagte Arbeitgeberin eine deutsche GmbH. Obwohl in den vorbereitenden Stellungnahmen die Kommission dies angesprochen hatte, hat sich der Gerichtshof nicht darauf zurückgezogen, daß eine Richtlinie unter Privaten keine Wirksamkeit entfalten könne, sondern hat der Richtlinie in demselben Umfang Wirkungen zugemessen wie in der Rechtssache 14/83 ...
      Nach Auffassung des Senats entspricht es danach der Rechtsprechung des EuGH, Richtlinien auch positiv und unter Privaten unmittelbar gelten zu lassen ... Da die EG-Richtlinie 85/577 unbedingte und genau bestimmte Regelungen enthält, wirkt sie unmittelbar (ebenso OLG Stuttgart, NJW-RR 1988, 558 [559]) mit der Folge, daß die Beklagte den geschlossenen Vertrag widerrufen kann. ...
      4. Der Senat hat erwogen, ob eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art.177 Abs.2 EWGV eingeholt werden soll. Er hat davon auch deshalb abgesehen, weil im konkreten Fall ein Ergebnis, das der Beklagten ein Widerrufsrecht versagt, gegen den deutschen ordre public verstoßen würde und deshalb das Widerrufsrecht jedenfalls über Art.6 EGBGB durchgesetzt werden müßte.
      Das Widerrufsrecht ... im Haustürwiderrufsgesetz gehört zu den grundlegenden Verbraucherschutzbestimmungen des deutschen Rechts. Auch wenn ... das Haustürwiderrufsgesetz erst 1986 - angestoßen vor allem durch die europäische Entwicklung - in Kraft getreten ist, verwirklicht das Widerrufsrecht doch grundlegende deutsche Gerechtigkeitsvorstellungen. ... Der vorliegende Fall weist eine außerordentlich starke Inlandsbeziehung auf. Der einzige wirkliche Auslandsbezug ist der Umstand, daß die Vertragsurkunde in Spanien unterzeichnet worden ist. Die als Verkäuferin eingesetzte spanische Agentur hat nur formal eine Verkäuferstellung. Sie hat ihre Kaufpreisansprüche gegen die Beklagte an die Klägerin abgetreten. Allein der Klägerin obliegt auch die Durchführung des Vertrages. Auch die Garantieansprüche sind von ihr abzuwickeln. Wirtschaftlich gesehen erschöpft sich die Funktion der spanischen Agentur darin, der Klägerin Käufer zuzuführen. Der Vertrag ist auf deutschsprachigen Formularen abgeschlossen. Sämtliche Leistungen sind in der Bundesrepublik zu erbringen. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, daß die Klägerin den einzigen echten Berührungspunkt zum Ausland (Vertragsabschluß in Spanien) dazu ausnutzt, deutschen Verbraucherschutzvorschriften aus dem Weg zu gehen. Ist der Auslandsbezug aber derartig eingeschränkt, gebieten es deutsche Gerechtigkeitsvorstellungen, das im übrigen einem Inlandsgeschäft gleichzustellende Vertragsverhältnis auch den für Inlandsgeschäfte geltenden Schutzbestimmungen zu unterstellen.

Hinweis:

      Im Urteil vom 14.7.1994 hat der Europäische Gerichtshof - entgegen den Schlußanträgen des Generalanwalts vom 9.2.1994 - eine horizontale Direktwirkung der Richtlinie 85/377/EWG verneint, zugleich jedoch die Pflicht des nationalen Gerichts betont, auch vor der Richtlinie erlassene nationale Rechtsvorschriften so weit wie möglich richtlinienkonform auszulegen (Rs. C-91/92, EuZW 1994, 498).