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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.5. VERORDNUNG (EWG) NR.1612/68

Art.11

Nr.90/1

Art.11 der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 gewährt einem Ausländer aus einem Drittstaat keine Rechte, wenn dieser mit seinem deutschen Ehegatten im Bundesgebiet lebt.

Art.11 of Regulation (EEC) No.1612/68 does not confer rights on a third country alien living with his or her German spouse in the Fed-eral Republic of Germany.

Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.2.1990 (12 A 2363/87), NVwZ 1990, 889 (ZaöRV 52 [1992], 442)

Einleitung:

      Die Klägerin, eine mit einem Deutschen verheiratete tschechoslowakische Staatsangehörige, studierte in der Bundesrepublik Rechtswissenschaft. Nachdem sie die erste juristische Staatsprüfung bestanden hatte, nahm der Beklagte sie in ein Ausbildungsverhältnis für den höheren Justizdienst des Landes Nordrhein-Westfalen außerhalb eines Beamtenverhältnisses auf Widerruf auf. Ihr wurde ein monatliches Unterhaltsgeld in Höhe von 1.000,- DM gewährt, das niedriger war als die Anwärterbezüge verbeamteter deutscher Rechtsreferendare. Die Klägerin verlangte ihre finanzielle Gleichstellung mit diesen, blieb jedoch in zwei Instanzen erfolglos.

Entscheidungsauszüge:

      Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, daß der Beklagte ihr ein Unterhaltsgeld in Höhe der Anwärterbezüge gewährt, wie sie Referendaren im Beamtenverhältnis auf Widerruf zustehen. Eine Anspruchsgrundlage hierfür findet sich weder im nationalen Recht noch im Recht der Europäischen Gemeinschaft. ...
      Die Klägerin kann den geltend gemachten Anspruch nicht aus Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 herleiten. Nach dieser Vorschrift hat u.a. der Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder eine selbständige Tätigkeit ausübt, selbst wenn er - der Ehegatte - nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, das Recht, im gesamten Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates irgendeine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben.
      Dem Wortlaut nach gewährt die Bestimmung lediglich einen Anspruch darauf, irgendeine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben. Die Klägerin ist in den juristischen Vorbereitungsdienst aufgenommen. Sie kann damit die gewünschte Tätigkeit ausüben. Daß sie bei Ausübung dieser Tätigkeit Anspruch auf dieselben finanziellen Zuwendungen hat, wie sie Inländern gewährt werden, ist in Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 nicht ausdrücklich bestimmt. Ein solcher über den bloßen Wortlaut hinausgehender Anspruch mag allerdings von der Vorschrift gewollt sein, wie sich möglicherweise dem von der Klägerin erwähnten Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 7.5.1986 (NJW 1986, 3015), entnehmen läßt. Dies bedarf aber ebensowenig einer Vertiefung wie die weitere Frage, ob die Voraussetzungen des Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 hier vollständig erfüllt sind. Der hier in Rede stehende Sachverhalt fällt von vornherein nicht in den Anwendungsbereich des Art.11 EWG-VO Nr.1612/68.
      Diese Vorschrift begünstigt u.a. Ehegatten, die - wie die Klägerin als tschechoslowakische Staatsangehörige - selbst nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft haben, jedoch mit dem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates verheiratet sind. Letzteres trifft auf die Klägerin zu, denn sie ist Ehegattin eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft, nämlich des deutschen Staatsangehörigen S. Die Klägerin lebt mit ihrem deutschen Ehemann jedoch in dessen Heimatland. Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 erfaßt aber nur den Fall, daß der Staatsangehörige des Mitgliedstaates der EG (EG-Angehörige) mit seinem Ehegatten in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Heimatland einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Dies folgt aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Recht der Europäischen Gemeinschaft und aus ihrem Zweck. Der scheinbar weiterreichende Wortlaut steht der hier gefundenen Auslegung nicht entgegen.
      Lebt der EG-Angehörige mit seinem Ehegatten aus einem Drittland in seinem Heimatstaat, kann dieser den Sachverhalt durch sein nationales Recht regeln, ohne daß hierdurch Belange der Europäischen Gemeinschaft berührt würden. Die Regelungsbefugnis des Mitgliedstaates auch insoweit zu beschränken, bestand aus Gründen der europäischen Integration keine Notwendigkeit. Eine solche Einschränkung kann deshalb mit Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 nicht gewollt sein. Im Zweifel ist nämlich das Recht der Europäischen Gemeinschaft so auszulegen, daß die Regelungsbefugnis des Mitgliedstaates nicht weiter eingeschränkt wird, als dies zur Wahrung der Gemeinschaftsbelange erforderlich ist.
      Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 gehört von der Systematik her zu den Vorschriften, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer regeln. Die Freizügigkeit umfaßt u.a. das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, um dort eine Beschäftigung auszuüben, wobei jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen abzuschaffen ist (vgl. Art.48 EWGV). Die Verordnung Nr.1612/68 gestaltet auf dieser Grundlage die Freizügigkeit näher aus. Die Freizügigkeit selbst hat naturgemäß nur das Recht zum Gegenstand, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates als des eigenen Heimatstaates einzureisen und dort eine Beschäftigung nach den dort auch sonst praktizierten Bedingungen aufzunehmen. Art.1 EWG-VO Nr.1612/68 hebt dies mit der Wortfolge "im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates" eigens hervor. Auch der EuGH hat ausdrücklich entschieden, Art.48 EWGV sei nicht auf Sachverhalte anwendbar, die einen Mitgliedstaat rein intern beträfen, wie etwa den Fall des Angehörigen eines Mitgliedstaates, der niemals in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt oder gearbeitet hat; ein solcher Staatsangehöriger könne sich nicht auf Art.48 EWGV berufen, um sich der Anwendung der Rechtsvorschriften seines eigenen Landes zu widersetzen (EuGH, ... EuGRZ 1984, 318). Dies hat Folgen auch für die Auslegung von Art.11 EWG-VO Nr.1612/68. Die Rechte, die dort u.a. den Ehegatten von EG-Angehörigen gewährt werden, sind keine originären Rechte, sondern abgeleitete Rechte. Die Rechte des Ehegatten knüpfen an die Rechte an, die der Arbeitnehmer seinerseits nach Art.48 EWGV und nach den Art.1 ff. EWG-VO Nr.1612/68 hat. Soweit sich der Ehegatte auf diese abgeleiteten Rechte berufen kann und diese den Zugang zu einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 umfassen, soll zugunsten des Ehegatten gewährleistet sein, daß er die Tätigkeit unter denselben Voraussetzungen ausüben kann, unter denen der Arbeitnehmer, dem das Recht auf Freizügigkeit zusteht, seine Tätigkeit ausübt (so ausdrücklich der EuGH im bereits erwähnten Urteil NJW 1986, 3015). Die Vergünstigungen nach Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 kommen demnach als nur abgeleitetes Recht den Ehegatten derjenigen Arbeitnehmer zugute, die ihrerseits den Schutz des Art.48 EWGV genießen; das sind aber - wie ausgeführt - nur die Arbeitnehmer aus EG-Staaten, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten und dort beschäftigt sind, nicht aber die Arbeitnehmer aus EG-Staaten, die sich - wie der Ehemann der Klägerin - nur in ihrem Heimatstaat aufhalten und hier beschäftigt sind.
      Hiermit eng zusammen hängt auch der Zweck des Art.11 EWG-VO Nr.1612/68. Durch ihn und den vorausgehenden Art.10 EWG-VO Nr.1612/68 (Nachzug von Angehörigen) sollen Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellen (vgl. hierzu die Präambel der Verordnung Nr.1612/68). Die genannten Bestimmungen sollen die Freizügigkeit sichern, indem sie Hemmnisse ausräumen, die sonst Arbeitnehmer faktisch veranlassen könnten, von der eingeräumten Freizügigkeit keinen Gebrauch zu machen. Aus diesem Grund soll der Arbeitnehmer seine Familienangehörigen nachholen dürfen (Art.10 EWG-VO Nr.1612/68) und sollen diese sich ihrerseits in das Erwerbsleben des Aufenthaltslandes integrieren dürfen (Art.11 EWG-VO Nr.1612/68), und zwar jeweils ungeachtet der eigenen Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen. Auch nach ihrem Zweck sollen die Vergünstigungen des Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 als bloße Folgeregelungen also nur Familienangehörigen solcher EG-Angehörigen zugute kommen, die ihrerseits von dem Recht auf Freizügigkeit nach Art.48 EWGV Gebrauch gemacht haben. Das sind nicht die Arbeitnehmer, die mit ihren Familienangehörigen aus Drittländern in ihrem Heimatstaat leben wollen.
      Der Wortlaut des Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 ermöglicht nur scheinbar eine weitergehende Auslegung. Er weicht freilich beispielsweise von Art.1 EWG-VO Nr.1612/68 in einem Punkt ab, der auf den ersten Blick im hier interessierenden Zusammenhang wesentlich zu sein scheint. Art.1 EWG-VO Nr.1612/68 spricht von "Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats", die eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines "anderen Mitgliedstaates" ausüben. Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 spricht dagegen vom "Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder eine selbständige Tätigkeit ausübt". Daß in Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 nicht vom Hoheitsgebiet eines "anderen" Mitgliedstaates die Rede ist, könnte zu der Annahme verleiten, Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 gelte auch für die Familienangehörigen der in ihrem Heimatstaat beschäftigen Arbeitnehmer (so Karpenstein, in: Groeben-Boeckh-Thiesing-Ehlermann, EWGV, 3. Aufl., Vorb. zu Art.48, 49 Rdnr. 18). Dabei bliebe aber unberücksichtigt, daß es sich bei Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 um eine Folgeregelung zur Freizügigkeit handelt, die aus dieser abgeleitete Ansprüche gewährt. Da nach der Systematik Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 somit ohnehin nur Familienangehörige solcher EG-Angehörigen erfaßt, die ihrerseits unter die Freizügigkeitsregelung fallen, sich also in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatstaat aufhalten, brauchte dies in Art.11 EWG-VO Nr.1612/68 nicht eigens wiederholt zu werden. Das Fehlen des Wortes "anderen" kann hierin seine Erklärung haben und läßt deshalb irgendwelche Schlußfolgerungen nicht zu.
      ... Die Klägerin wird zwar im Vergleich zu anderen in den juristischen Vorbereitungsdienst aufgenommenen Personen unterschiedlich behandelt, was ihre finanzielle Unterstützung anlangt. Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch ... durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt, der vor Art.3 Abs.1 GG Bestand hat. ... Die Klägerin wird ... anders behandelt als Ausländer aus Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, denen der Beklagte Unterhaltsgeld in Höhe der Anwärterbezüge eines Referendars zahlt. Es ist jedoch zulässig, zwischen Ausländern aus Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und Ausländern aus anderen Staaten zu differenzieren. Gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ist die Bundesrepublik Deutschland im Interesse einer europäischen Integration besondere Bindungen eingegangen, die im Verhältnis zu anderen Staaten nicht bestehen.

Hinweis:

      Die Revision der Klägerin wurde zurückgewiesen. Das Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 90, 147) ist anschließend wiedergegeben. Ihre Verfassungsbeschwerde wurde durch Kammerbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 28.3.1994 ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.