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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.15. VERORDNUNG (EWG) NR.1408/71

Nr.90/1

Ein in der Bundesrepublik wohnender arbeitsloser Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat hat einen Kindergeldanspruch kraft Art.74 Abs.1 der Verordnung (EWG) Nr.1408/71 auch dann, wenn sein Kind in seinem Heimatstaat lebt, als arbeitslos gemeldet sowie bereit und in der Lage ist, den Arbeitsangeboten der dortigen Arbeitsverwaltung nach den dort üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes nachzukommen.

An employee from another member state who is unemployed and residing in Germany can claim child benefits by virtue of Art.74 (1) of Regulation (EEC) No.1408/71, even if his or her child is living in the employee's home state, where the child is registered as being unemployed, provided that the child is willing and capable to comply with job offers by the labor office in that state, according to the usual conditions of the labor market.

Bundessozialgericht, Urteil vom 30.5.1990 (10 RKg 7/90), EuZW 1990, 484 (ZaöRV 52 [1992], 449)

Einleitung:

      Der Kläger ist ein italienischer Staatsangehöriger, der als Arbeitsloser in der Bundesrepublik Arbeitslosenhilfe bezieht. Seine Ehefrau und seine drei Kinder wohnen in Italien. Im November 1984 wurden die Kindergeldzahlungen für die älteste Tochter des Klägers eingestellt. Ein halbes Jahr später beantragte der Kläger die Wiederaufnahme der Kindergeldzahlungen auch für diese Tochter, da sie arbeitslos sei, wie sich aus der beigefügten Bescheinigung des zuständigen italienischen Arbeitsamts ergebe. Nach Ablehnung dieses Antrags durch die Beklagte und Abweisung der Klage in beiden Vorinstanzen legte das mit der Revision des Klägers befaßte Bundessozialgericht dem Europäischen Gerichtshof verschiedene Fragen zur Auslegung der Verordnung (EWG) Nr.1408/71 vor (Art.177 Abs.3 EWGV). Auf der Grundlage seiner Vorabentscheidung (Urteil vom 22.2.1990 - Rs. C-12/89 - Slg. 1990, I-557) hob das Bundessozialgericht das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das Landessozialgericht zurück.

Entscheidungsauszüge:

      Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist die Gewährung von Kindergeld für die Tochter A nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich das Kind in Italien aufhält. Denn Kindergeldberechtigte haben in Anwendung der EWG-VO Nr.1408/71 unter bestimmten Voraussetzungen auch Anspruch auf Kindergeld für ihre in einem anderen Mitgliedstaat lebenden arbeitslosen Kinder.
      Die EWG-VO Nr.1408/71 ist auf den Kläger anzuwenden. Dies folgt aus Art.2 Abs.1 EWG-VO Nr.1408/71. Danach gilt diese Verordnung u.a. für Arbeitnehmer, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind. Der Kläger ist als Italiener Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der EG. Für ihn gelten zumindest die Rechtsvorschriften Italiens. Die Regelungen der Familienleistungen sind in Titel III, Kapitel 7 EWG-VO Nr.1408/71 enthalten. Für den hier geltend gemachten Anspruch auf Kindergeld ist auszugehen von Art.74 Abs.1 EWG-VO Nr.1408/71. Danach hat ein arbeitsloser Arbeitnehmer, der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates außer Frankreichs bezieht, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten. Der Kläger gehört zu dem von dieser Bestimmung erfaßten Personenkreis. Der Begriff des Arbeitnehmers ist in Art.1 lit.a EWG-VO Nr.1408/71 definiert. Danach ist Arbeitnehmer jede Person, die gegen ein Risiko oder mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit erfaßt werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Diese Definition ist von allgemeiner Tragweite und erstreckt sich in Anbetracht dieser Erwägung auf jede Person, die, ob sie eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (vgl. EuGH, SozR 6050 Art.22 Nr.4). Der Kläger als arbeitsloser Arbeitnehmer bezieht seit 1976 Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe, ist somit pflichtversichert für den Fall der Krankheit nach §155 Abs.1 AFG. Seine Tochter A, für die er Kindergeld beansprucht, ist Familienangehörige i.S. des Art.1 lit.f EWG-VO Nr.1408/71. Auch die weitere Voraussetzung, daß zwei unterschiedliche Mitgliedstaaten betroffen sein müssen, liegt vor. Das Kind A wohnt in Italien. Der Kläger hält sich in der Bundesrepublik Deutschland auf. Des weiteren handelt es sich bei dem Kindergeld um eine Familienleistung i.S. des Art.74 Abs.1 EWG-VO Nr.1408/71. Dies sind nach Art.1 lit.u) i) alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art.4 Abs.1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind. Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung zu Art.5 EWG-VO Nr.1408/71 als Leistung, die unter Art.4 Abs.1 fällt, ausdrücklich das Kindergeld benannt (vgl. ABlEG Nr.C 139 v. 9.6.1980, S.6).
      Der Kindergeldanspruch für das Kind A ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß A sich in Italien aufhält. Nach §2 Abs.5 Satz 1 BKGG werden zwar Kinder, die weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben, bei der Gewährung von Kindergeld nicht berücksichtigt. Ausnahmen von diesem Territorialitätsgrundsatz für im Ausland lebende Kinder gelten jedoch, soweit dies durch das EG-Recht oder durch zwischenstaatliche Abkommen bestimmt ist ... Nach Art.74 Abs.1 EWG-VO Nr.1408/71 steht der Aufenthalt des Kindes in Italien dem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gleich. Diese Gleichstellung gilt nicht nur hinsichtlich des Wohnsitzes. Hängt nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, der bestimmte Familienleistungen erbringt, die Gewährung dieser Leistung davon ab, daß der Familienangehörige des Arbeitnehmers als Arbeitsloser der Arbeitsvermittlung im Geltungsbereich dieser Rechtsvorschriften zur Verfügung steht, so ist diese Voraussetzung auch als erfüllt anzusehen, wenn der Familienangehörige als Arbeitsloser der Arbeitsvermittlung in dem Mitgliedstaat zur Verfügung steht, in dem er wohnt. Dies hat der Europäische Gerichtshof auf die Vorlage des erkennenden Senats in seinem Urteil vom 22.2.1990 entschieden. Hieran ist der erkennende Senat gebunden. Aus der Vorlagepflicht gem. Art.177 EWGV folgt, daß die Entscheidungen des EuGH, soweit sie EG-Recht auslegen, für die Gerichte der Mitgliedstaaten der EG bindend sind ..., weil die Vorabentscheidungen des EuGH die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gewährleisten sollen ...
      Im vorliegenden Fall läßt sich indessen noch nicht sagen, ob alle Voraussetzungen erfüllt sind, die - auch unter Berücksichtigung der Gleichstellung nach Art.74 EWG-VO Nr.1408/71 - nach innerstaatlichem Recht erfüllt sein müssen, um den geltend gemachten Anspruch zu bejahen.
      ... Nach der nach dem 1.1.1985 geltenden Fassung des [§2 Abs.4 Satz 1] BKGG (... BGBl. I S. 1726) werden Kinder, die das 16., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet haben, bei dem Kindergeldanspruch berücksichtigt, wenn sie im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes ... als Arbeitslose der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Ob jemand ... arbeitslos ist und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, richtet sich ... nach den Vorschriften der §§101, 103 AFG. Arbeitslos i.S. des AFG ist gem. §101 Abs.1 Satz 1 AFG ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübt. Nach §103 Abs.1 AFG steht der Arbeitsvermittlung u.a. zur Verfügung, wer eine zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf und bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die er ausüben kann und darf. Durch die Vorinstanzen sind insoweit bisher ... keinerlei Feststellungen getroffen worden. ...
      Auch wenn bei der Anwendung des §2 Abs.4 BKGG ... auf Kinder, die in der Bundesrepublik Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat der EG leben, schon wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art.3 EWG-VO Nr.1408/71) die gleichen Anforderungen zu stellen sind, also grundsätzlich auch bei im Ausland lebenden Kindern die Voraussetzungen der §§101 und 103 AFG vorliegen müssen, können die Gegebenheiten des Wohnsitzstaates aber nicht völlig außer acht gelassen werden. ... Für die kindergeldgerechte Berücksichtigung in Italien wohnender arbeitsloser Kinder bedeutet das: Es kommt nicht darauf an, ob die Voraussetzungen der §§101 und 103 AFG in jedem Punkt erfüllt sind, es muß aber feststehen, daß die Kinder als arbeitslos gemeldet sowie bereit und in der Lage sind, den Arbeitsangeboten der Arbeitsverwaltung nach den im Wohnsitzland üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes nachzukommen. Denn nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann die Arbeitslosigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat der EG lebenden Kindes als im wesentlichen vergleichbar angesehen werden und den Kindergeldanspruch nach §2 Abs.4 BKGG ... begründen.

Hinweis:

      Im gleichen Sinne BSG, Urteil vom 22.8.1990 (10 RKg 29/88), BSGE 67, 194.