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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1844. DIENSTLEISTUNGSFREIHEIT

Nr.90/1

[a] Ein Tarifvertrag ist keine Kartellabsprache im Sinne des Art.85 EWG-Vertrag.

[b] Selbst im Falle seiner Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch den Bundesarbeitsminister bleibt ein Tarifvertrag nicht-staatliches Recht und kann daher nicht am Maßstab der Art.59 ff. EWG-Vertrag gemessen werden.

[a] A collective bargaining agreement does not qualify as an agreement in restraint of trade in the sense of Art.85 of the EEC Treaty.

[b] Even in the case of a declaration of general application of a collective bargaining agreement by the Federal Minister of Labor, the agreement retains its character as non-state law; thus, it is not subject to the standards of Arts 59 et seq. of the EEC Treaty.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.3.1990 (4 AZR 536/89), AfP 1990, 232 (ZaöRV 52 [1992], 442)

Einleitung:

      Die Klägerin betreut als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien im Pressebereich die betriebliche Altersversorgung für Redakteure, die durch den Tarifvertrag Altersversorgung 1986 neu geregelt wurde. Diesem Tarifvertrag trat der beklagte Verlag nicht bei; er weigerte sich, die bei ihm beschäftigten Redakteure bei der Klägerin zur Versicherung anzumelden. Nachdem der Tarifvertrag durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für allgemeinverbindlich erklärt worden war, verlangte die Klägerin u.a. Auskunft über die Zahl und Beschäftigungsdauer der beim Beklagten versicherungspflichtig angestellten Redakteure und Beitragszahlung nach Maßgabe der zu erteilenden Auskunft. Der Beklagte machte u.a. geltend, daß die Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Klägerin ein Vermittlungsmonopol für Versicherungsverträge einräume, durch das die Wahlfreiheit der versicherungspflichtigen Unternehmen und Redakteure in gemeinschaftsrechtswidriger Weise ausgeschlossen werde.

Entscheidungsauszüge:

      Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des TV Alterversorgung 1986 verstößt ... auch nicht gegen Vorschriften des EWG-Vertrags. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft gem. Art.177 EWG-Vertrag ist nicht erforderlich, weil die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts offenkundig ist, so daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81 ... [Slg. 1982, 3415]).
      Ein Verstoß gegen Art.85 EWG-Vertrag scheidet schon deshalb aus, weil sich dessen Kartellverbot ausdrücklich (nur) gegen Vereinbarungen zwischen Unternehmen und gegen Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen richtet. Arbeitnehmer sind keine Unternehmen im Sinne von Art.85 EWG-Vertrag, auf dem Arbeitsmarkt werden auch keine Erzeugnisse oder Dienstleistungen angeboten oder nachgefragt, sondern unselbständige, weisungsgebundene Arbeit. Tarifverträge zwischen Vereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer fallen deshalb nicht unter das Kartellverbot (Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, Stand September 1989, Art.85, Rz.10 ...). ...
      Inwieweit Art.90 EWG-Vertrag tangiert sein könnte, ist nicht ersichtlich, weil die Klägerin weder ein öffentliches Unternehmen noch ein Unternehmen ist, dem die Bundesrepublik Deutschland besondere oder ausschließliche Rechte gewährt. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in der von der Revision angezogenen Entscheidung (Urteil vom 11. April 1989 - Rs. 66/86 - NJW 1989, 2192, 2195) erkannt, daß die Art.5 und 90 EWG-Vertrag es den nationalen Behörden verbieten, den Abschluß von gegen Art.85 Abs.1 verstoßenden Tarifvereinbarungen zu fördern oder von sich aus zu genehmigen. Das bezog sich aber auf Flugtarife, d.h. auf das von den Luftfahrtunternehmen von den Flugpassagieren erhobene Beförderungsentgelt. Tarifvereinbarungen im Sinne der Festsetzung von Beförderungsentgelten sind Regelungen, die mit Tarifverträgen der Sozialpartner zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen überhaupt nicht verglichen werden können.
      Auch ein Verstoß der Allgemeinverbindlichkeitserklärung des TV Altersversorgung 1986 gegen Art.59 ff. EWG-Vertrag scheidet entgegen der Ansicht der Revision offenkundig aus. Eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist jedes Verbot oder jede Beschränkung der selbständigen Tätigkeit eines Leistungserbringers, die darin besteht, daß er aufgrund einer Rechts- oder Verwaltungsvorschrift eines Mitgliedstaates, aufgrund einer Anwendung einer solchen Vorschrift oder aufgrund von Verwaltungspraktiken anders behandelt wird als die eigenen Staatsangehörigen. Als Beschränkung gelten ferner alle Voraussetzungen, von denen die Erbringung von Dienstleistungen aufgrund einer Rechts- oder Verwaltungsvorschrift oder aufgrund von Verwaltungspraktiken abhängt, soweit diese Voraussetzungen zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, jedoch ausschließlich oder vorwiegend Ausländer in der Erbringung von Dienstleistungen beschränken (EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1978 - Rs. 15/78 - Slg. 1978, III, S.1971, 1979). Tarifverträge, auch die für allgemeinverbindlich erklärten, sind aber schon kein staatliches Recht, sondern von den Tarifvertragsparteien gesetzte Normen, deren Geltungsbereich durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung nur auf vom Tarifvertrag nicht erfaßte Personen ausgedehnt wird (vgl. BVerfGE 44, 322, 341 ...).

Hinweis:

      Vgl. demgegenüber EuGH, Urteil vom 7.2.1991 (Rs. C-184/89, Slg. 1991, I-297), wo Art.119 EWGV auch auf Tarifverträge angewendet und zudem ausgeführt wird, der effet utile der Normen des Gemeinschaftsrechts erfordere es, daß ein nationales Gericht auch entgegenstehende Bestimmungen eines Tarifvertrags außer Anwendung lasse.