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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


310. ENTSTEHUNG UND UNTERGANG VON STAATEN

Nr.89/1 Ein Staat Palästina ist derzeit noch nicht entstanden.
A State of Palestine has not yet come into being.

Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 14.2.1989 (18 A 858/87), NVwZ 1989, 790 (ZaöRV 51 [1991], 191) (s.320 [89/1])

Einleitung:

      Die im Libanon geborene palästinensische Klägerin begehrt die Erteilung eines Reiseausweises nach Art.28 des Übereinkommens über die Rechtsstellung von Staatenlosen vom 28.9.1954 (BGBl.1976 II S. 474). Zur Klärung der Frage, ob sie staatenlos ist, prüft das Gericht die Staatsqualität Palästinas.

Entscheidungsauszüge:

      1. ... a) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Klägerin staatenlos i.S. des Art.1 Abs.1 Staatenlosenübereinkommen, weil sie kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörige ansieht.
      aa) Sie ist Palästinenserin. Eine palästinensische Staatsangehörigkeit besteht nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats nicht ... Nichts anderes gilt, nachdem der Palästinensische Nationalrat am 15.11.1988 in der "Deklaration von Algier" den Staat Palästina ausgerufen hat ... Ein Staat Palästina ist hierdurch derzeit (noch) nicht entstanden. Maßgeblich für das Bestehen eines Staates i.S. des Völkerrechts ist nach der sog. Drei-Elementen-Lehre das Vorhandensein eines Staatsvolkes, eines Staatsgebiets und einer Staatsgewalt ... Zwar sind die Palästinenser ein von den Vereinten Nationen anerkanntes Volk ..., so daß, auch wenn gegenwärtig nicht abschließend beurteilt werden kann, welche Bevölkerungsteile unter welchen Voraussetzungen aus welchen vorhandenen Staaten die Bevölkerung eines künftigen Staates Palästina bilden werden ..., einiges für die Annahme eines palästinensischen Staatsvolkes sprechen dürfte.
      Es fehlt dem ausgerufenen Staat Palästina aber jedenfalls an einem Staatsgebiet. Ausgehend von der am 20.11.1919 getroffenen Entscheidung der 5. Kommission der Völkerbundsversammlung, die Aufnahme neuer Mitglieder von der Beantwortung u.a. folgender Frage abhängig zu machen: "Does the country possess a stable Government and settled frontiers? What are its size and population?" ..., ferner anknüpfend an Art.1 der Montevideo-Konvention der 7. Panamerikanischen Konferenz vom 26.12.1933: "The state as a Person of international law should possess the following qualifications: ... b) a defined territory; ..." ... hält es der Senat für erforderlich, daß ein Territorium, soll es als Staatsgebiet angesehen werden können, in seinen Grenzen wenn auch nicht endgültig festgelegt, so doch definiert sein muß. ... Anderenfalls ist eine vom Zuständigkeitsbereich anderer Staaten klar abgrenzbare Betätigung der Staatsgewalt ebensowenig möglich wie die Ausübung der Hoheitsgewalt in bezug auf ein bestimmtes Staatsvolk. Gemessen hieran ist bislang ein definiertes Staatsgebiet des Staates Palästina nicht erkennbar. Der PLO-Führer Arafat hat, auf die UN-Resolution 181 und die damit zusammenhängende Frage angesprochen, ob er es für realistisch halte, daß Israel auch erhebliche Teile des Landes preisgeben müßte, das ihm seit 40 Jahren gehöre, geäußert, darüber sei auf einer Friedenskonferenz zu verhandeln; es seien vielerlei Kompromisse denkbar. Auf jeden Fall werde er die Schaffung eines Korridors zwischen Westjordanien und dem Gazastreifen verlangen ... Ausdrücklich wegen danach noch nicht definierter Grenzen eines Staates Palästina haben etwa Frankreich, Griechenland und auch Großbritannien bislang von einer Anerkennung des ausgerufenen Staates abgesehen ...
      Selbst wenn man es indes für das Vorhandensein eines Staatsgebiets ausreichen lassen würde, daß ein unbestrittenes Kerngebiet vorliegt ..., würde der in Algier ausgerufene Staat Palästina dieses Erfordernis (noch) nicht erfüllen. Zwar erscheint es möglich, daß als Territorium eines palästinensischen Staates das Jordan-Westufer (und Ost-Jerusalem) sowie der Gazastreifen in Betracht kommen ... Gleichwohl kann jedenfalls derzeit von einem unbestrittenen Kerngebiet schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil offen ist, in welchem der genannten Gebiete ein künftiger Staat Palästina seine territoriale Grundlage haben wird. Die bei der Ausrufung des palästinensischen Staates u.a. in Bezug genommene Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates vom 22.11.1967 ... gibt schon seit langem Anlaß für unterschiedliche Ansichten darüber, aus welchen - im Sechs-Tage-Krieg - besetzten Gebieten Israel sich zurückzuziehen habe: Während der englische Text von einem "withdrawal from occupied territories" spricht, ist im französischen Text von einem "retrait des forces armées israéliennes des territoires occupés" die Rede ...; von Israel wird aber nur der Raum für territoriale Kompromisse bietende englische Resolutionstext akzeptiert ...
      Ferner fehlt es bislang auch an dem für die Annahme eines Staates unerläßlichen Erfordernis der Staatsgewalt. Dies wäre grundsätzlich erst dann zu bejahen, wenn ein Staat Palästina in Selbstregierung seine Staats- und Regierungsform, seine innere Organisation und das Verhalten seiner Angehörigen sowie seine Innen- und Außenpolitik grundsätzlich frei und selbständig regeln könnte ... Hiervon kann derzeit - die Hoheitsgewalt wird im Gazastreifen, im Westjordanland und auch in ganz Jerusalem weitgehend von Israel ausgeübt - ersichtlich nicht ausgegangen werden. Nichts anders gilt deshalb, weil in einigen von Israel besetzten Gebieten seit Dezember 1987 lokale Volkskomitees Fuß gefaßt haben; denn diese Komitees üben etwa Polizei-, Gerichts- oder Gesetzgebungsbefugnisse nicht aus ... Wie sich die Rechtslage darstellen wird, wenn sich eine (derzeit nur beabsichtigte) Exilregierung gebildet haben wird, kann der Senat offenlassen ...
      Fehlt es danach dem ausgerufenen Staat Palästina derzeit jedenfalls am Staatsgebiet und an einer Staatsgewalt, so ist seine damit noch nicht existente Völkerrechtspersönlichkeit auch nicht dadurch entstanden, daß ihn eine beträchtliche Anzahl von Staaten bereits anerkannt hat ... Ein neuer Staat erwirbt seine Völkerrechtspersönlichkeit unabhängig von seiner Anerkennung oder Nichtanerkennung durch die bloße Tatsache seines Entstehens; die in der Anerkennung liegende Feststellung, daß der Staat entstanden sei, ist nur deklaratorischer Natur ... Nach alledem existiert ein Staat Palästina, der die Klägerin als seine Staatsangehörige ansehen könnte, bislang nicht.