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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


490. TERRITORIALITÄTSGRUNDSATZ BEI AUSÜBUNG DER STAATSGEWALT

Nr.86/1

Es widerspricht nicht dem Territorialitätsprinzip, daß eine nach deutschem Recht erteilte atomrechtliche Genehmigung von einem in den Niederlanden wohnenden niederländischen Staatsbürger vor den deutschen Verwaltungsgerichten angefochten werden kann.

There is no violation of the principle of territoriality when a Dutch citizen residing in the Netherlands is granted leave to apply to a German administrative court for judicial review of a permit to construct and operate a nuclear power plant issued by a German authority under German law.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.12.1986 (7 C 29.85), BVerwGE 75, 285 (ZaöRV 48 [1988], 42)

Einleitung:

      Der Kläger, ein niederländischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in einer niederländischen Grenzgemeinde, wandte sich gegen die erste atomrechtliche Teilgenehmigung zur Errichtung des Kernkraftwerks Emsland. Dessen vorgesehener Standort liegt etwa 25 km von seinem Wohnort entfernt. Das Verwaltungsgericht wies die Klage als unzulässig ab. Das Bundesverwaltungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Sache zurück.

Entscheidungsauszüge:

      Das Verwaltungsgericht geht davon aus, daß eine Einbeziehung ausländischer Grenznachbarn in den Schutz des §7 Abs.2 Nr.3 des Atomgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Oktober 1976 (BGBl I S.3053) vom deutschen Gesetzgeber nicht gewollt sei. Eine solche Einbeziehung müsse nämlich als völkerrechtswidrig, weil gegen das Territorialitätsprinzip verstoßend, angesehen werden. Danach dürfe nationales öffentliches Recht keine Geltungskraft jenseits der Staatsgrenzen beanspruchen, denn einem Staat sei es völkerrechtlich nicht erlaubt, seine Hoheitsgewalt über fremdes Territorium zu erstrecken. Demgemäß entfalte unter völkerrechtlichen Aspekten ein Hoheitsakt wie die angefochtene atomrechtliche Teilgenehmigung grundsätzlich, d. h. vorbehaltlich besonderer völkerrechtlicher Titel, nur Geltungskraft innerhalb der Staatsgrenzen. Da es an einem solchen Rechtstitel im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden fehle, könne der Kläger gemäß § 42 Abs.2 VwGO nicht geltend machen, in seinen Rechten verletzt zu sein.
      Diese Erwägungen des Verwaltungsgerichts halten einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand; sie rechtfertigen nicht, dem Kläger die Klagebefugnis abzusprechen. Zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts. Eine gemäß §7 AtG erteilte atomrechtliche Genehmigung gilt in der Tat nur innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, entfaltet also keine darüber hinausgehenden Wirkungen in dem Sinne, daß sie in einem anderen Staat "verbindlich" mit der Folge ist, daß auch dort das Vorhaben als genehmigt anzusehen ist. Aus einer solchen Geltungsbegrenzung läßt sich aber nichts für die weitere, hier allein bedeutsame Frage herleiten, ob ein Ausländer hinsichtlich seiner im Ausland belegenen Rechtsgüter im Sinne von §42 Abs.2 VwGO geltend machen kann, durch eine atomrechtliche Genehmigung in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies hängt vielmehr allein davon ab, ob beim Erlaß einer solchen Genehmigung Rechtsvorschriften beachtet werden müssen, die (auch) im Interesse des ausländischen Klägers ergangen sind. Bejaht man dies, kann ein solcher Kläger verlangen, daß die in ihrer Geltung auf das Inland beschränkte Genehmigung unterbleibt, wenn die dafür vom Gesetz vorgesehenen, auch dem Schutz seiner Rechtsgüter dienenden Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Ist die Genehmigungsbehörde der Auffassung, daß diese Voraussetzungen gegeben sind, und erteilt sie demgemäß die Genehmigung, so besagt das im Verhältnis zum ausländischen Kläger lediglich, daß seine ihm nach der deutschen Rechtsordnung gewährleisteten subjektiven öffentlichen Rechte nach Meinung der Behörde gewahrt und damit nicht verletzt sind. Hingegen verpflichtet eine derartige Genehmigung den ausländischen Kläger nicht zur Duldung in dem Sinne, daß er nunmehr die mit der genehmigten Anlage verbundenen Gefahren und Immissionen hinnehmen müsse. Eine atomrechtliche Genehmigung legt einem Drittbetroffenen, mag er nun im Inland oder im Ausland wohnen, keinerlei spezifische Pflichten auf. ...
      Demgemäß wendet sich die atomrechtliche Genehmigung in ihrem gestattenden Teil allein an den Antragsteller; den Dritten betrifft sie nur in ihrem feststellenden Teil, soweit dieser besagt, daß der Erteilung der Genehmigung drittschutzgewährende Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, also die dem Dritten nach deutschem Recht eingeräumte Rechtsstellung nicht verletzt ist. Hierdurch wird das völkerrechtliche Territorialitätsprinzip nicht berührt. Es wird auch nicht durch die an die atomrechtliche Genehmigung anknüpfende Präklusion verletzt, die durch §7 Abs.6 AtG in Verbindung mit §14 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes privatrechtliche, nicht auf besonderen Titeln beruhende Ansprüche in dem dort genannten Umfang ausschließt. Diese Präklusion ist auf solche Ansprüche beschränkt, die der Ausländer nach deutschem Recht geltend macht; sie erstreckt sich hingegen nicht auf Fälle, in denen er vor dem Gericht des Staates klagt, in dem sein Recht belegen ist, er also nach dem Recht des Erfolgssorts die im Fremdstaat errichtete Atomanlage beseitigen will. Zu einer solchen Erstreckung besteht schon deshalb kein Anlaß, weil das Genehmigungsverfahren nicht die Prüfung einschließt, ob das Vorhaben mit dem öffentlichen Recht des Nachbarstaats vereinbar ist; im übrigen würde die Vollstreckung eines auf diesem Wege erstrittenen Urteils am ordre public des Genehmigungsstaates scheitern (vgl. dazu BVerfG [s. 221 86/1]].
      Nach alledem kann unter völkerrechtlichen Aspekten nur gefragt werden, ob ein ausreichender inländischer Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Regelung gegeben ist, die im Ausland wohnenden Ausländern subjektive öffentliche Rechte im Zusammenhang mit der Erteilung einer nur im Inland wirksamen atomrechtlichen Genehmigung gewährt. Der erkennende Senat hat keine Bedenken, diese Frage zu bejahen. Der Gesetzgeber hat die Genehmigungspflicht für atomare Anlagen der hier in Rede stehenden Art wegen des ihnen innewohnenden besonderen Gefährdungspotentials eingeführt; dieses Potential macht vor Staatsgrenzen nicht halt. Wenn - wie der Beklagte zutreffend selbst vorträgt - ein Staat völkerrechtlich verpflichtet ist, "grenzüberschreitende Umweltbelastung so weit zu verhüten, abzubauen und zu kontrollieren, daß ein ernsthafter Schaden im Gebiet eines anderen Staates nicht auftreten kann", dann folgt daraus zwar noch keine Pflicht des Genehmigungsstaates zur Verleihung subjektiver öffentlicher Rechte an Auslandsbewohner; wohl aber ergibt sich daraus, daß eine Erstreckung von nationalen Schutznormen auf Ausländer jedenfalls dann nicht völkerrechtswidrig ist, wenn auf diese Weise einem potentiell grenzüberschreitenden gefährlichen Tun begegnet werden soll. Darin liegt nicht nur ein ausreichender völkerrechtlicher Anknüpfungspunkt; vielmehr kann so zugleich die Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen des Genehmigungsstaates effektiver gesichert werden.
      Das Atomgesetz fordert eine in diesem Sinne völkerrechtsfreundliche Auslegung; dies ergibt sich aus seinem §1. Danach ist u.a. Zweck des Gesetzes, Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen (Nr.2) sowie die Erfüllung internationaler Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Kernenergie und des Strahlenschutzes zu gewährleisten (Nr.4). Diese Zielsetzungen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers als "Richtschnur für die Ausfüllung durch spätere Rechtsverordnungen und für die Ausführung durch die Verwaltungsbehörden" dienen (vgl. BT-Drucks. 2/3026 S. 19); sie sind damit bestimmend für die Auslegung des Gesetzes selbst. Dem §1 Nr.2 AtG läßt sich nicht entnehmen, daß die dort genannten Rechtsgüter nur im Geltungsbereich des Atomgesetzes geschützt werden sollen. Die bewußt weite und allgemeine Fassung der Vorschrift spricht vielmehr gegen eine solche Annahme. Demgemäß gewährleisten die Überwachungsvorschriften der §§3ff. AtG einen Rechtsgüterschutz, der nicht auf die Belegenheit des Rechts im Inland abstellt. Dies wird dadurch bestätigt, daß die genannten Bestimmungen nach dem Willen des Gesetzgebers auch der Verwirklichung der in §1 Nr.4 AtG bezeichneten Zweckbestimmung dienen, indem sie der Bundesregierung ermöglichen, "die Einhaltung der von ihr übernommenen und künftig zu übernehmenden internationalen Verpflichtungen auf dem Gebiet der Kernenergie und des Strahlenschutzes sicherzustellen" (BT-Drucks. 3/759 S. 18). Grenznahe Kernkraftwerke sind daher gerade deshalb genehmigungsfähig, weil sie die strengen Voraussetzungen des §7 Abs.2 AtG auch im Hinblick auf Rechtsgüter außerhalb der Bundesrepublik Deutschland erfüllen müssen und damit zugleich gemäß §1 Abs.4 AtG sicherstellen, daß die Anforderungen des zwischenstaatlichen Nachbarrechts eingehalten sind. Dieses unmittelbare Hineinwirken völkerrechtlicher Bindungen in die innerstaatliche Rechtsordnung entspricht der Zielsetzung des Atomgesetzes; damit ist schwerlich vereinbar, den §7 Abs.2 AtG hinsichtlich seiner drittschützenden Wirkung in der Weise einschränkend auszulegen, daß dieser Drittschutz nur im Inland wohnenden Betroffenen zugute kommen soll. Eine solche einengende Auslegung verbietet sich überdies nicht nur im Hinblick auf die mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie verbundenen neuartigen Gefahren, die vor Staatsgrenzen nicht haltmachen; sie trägt auch nicht dem Umstand Rechnung, daß eine solche Nutzung für die Bundesrepublik Deutschland nur im Rahmen der Einbindung in die Europäische Atomgemeinschaft möglich war. Daraus folgt, daß der in §7 Abs.2 AtG gewährte Drittschutz zumindest den Bürgern der Mitgliedstaaten dieser Gemeinschaft und somit auch dem Kläger zugute kommt.
      Angesichts dieser positivrechtlichen Regelung erweist sich das Argument des Verwaltungsgerichts als nicht tragfähig, die Gewährung von Rechten an Gebietsfremde schränke den außenpolitischen Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland ein und sei der Durchsetzung des Gegenseitigkeitsprinzips abträglich. Diese Erwägung hat im übrigen auch deswegen nur wenig Gewicht, weil die Niederlande - ebenso wie etwa Frankreich und die Schweiz - im Rahmen ihrer Rechtsordnung deutschen Staatsbürgern die gleichen Möglichkeiten einräumen, sich gegen die Genehmigung von Kernkraftwerken zu wehren, wie ihren eigenen Staatsangehörigen; die Anerkennung der grundsätzlichen Klagebefugnis von Staatsangehörigen zumindest der Länder der Europäischen Gemeinschaft mag überdies den Abschluß von Staatsverträgen nahelegen, um etwa noch bestehende Schwierigkeiten im Bereich des Verfahrensrechts zu beheben. Derartige Schwierigkeiten sind, sofern sie derzeit noch bestehen, jedenfalls kein Grund, den nach dem materiellen Recht gebotenen Drittschutz mit der vom Verwaltungsgericht hervorgehobenen Erwägung zu versagen, die atomrechtliche Genehmigung werde nach Maßgabe einer Verfahrensordnung erteilt, die auf ein inländisches Genehmigungsverfahren zugeschnitten sei und daher nur inländische Sachverhalte bewältigen könne. Wenn §7 AtG auch den Drittschutz von Ausländern gewährleistet, muß dies das - überdies vom Verordnungsgeber zu regelnde - Verfahrensrecht beachten. Der Senat vermag zudem nicht zu erkennen, daß die Beteiligung von Ausländern im Genehmigungsverfahren auf nicht überwindbare rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten stoßen könnte; solche Schwierigkeiten wären übrigens im Falle des Klägers, der rechtzeitig Kenntnis von dem Vorhaben erlangt hat, nicht entstanden, wenn die Behörde die rechtzeitig erhobenen Einwendungen nicht als unbeachtlich behandelt hätte. Durch das Angebot an im Ausland lebende Personen, sich an inländischen Verwaltungsverfahren zu beteiligen, wird keine Hoheitsgewalt im Ausland ausgeübt, folglich auch das Territorialitätsprinzip nicht verletzt; soweit eine ausreichende Unterrichtung über das Vorhaben durch das Verhalten des Nachbarstaates erschwert wird, müssen sich dies die davon betroffenen Ausländer entgegenhalten lassen.