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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Christiane E. Philipp


IX. Europäische Gemeinschaften

8. Vorabentscheidungsverfahren (Art. 177 EWG-Vertrag)

       79. Mit Beschluß vom 16.12.1993 (2 BvR 1725/88 = HFR 1994, Nr. 6, Entscheidung Nr. 254) entschied das Bundesverfassungsgericht: Beschließt der BGH, die Annahme der Revision abzulehnen, so liegt darin zugleich die Entscheidung, eine etwaige gemeinschaftsrechtliche Frage nicht dem EuGH vorzulegen, sondern sie in eigener Verantwortung mitzubeurteilen.

       Der EuGH sei gesetzlicher Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das BVerfG kontrolliere die Einhaltung des Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag wie die anderer Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht.

       In Fällen einer an sich statthaften Revision, in denen das Revisionsgericht dennoch die Befugnis habe, die Annahme der Revision abzulehnen, könne die Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag nur bei dem Revisionsgericht eintreten. Sei im Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, könne die Erfolgsaussicht einer Revision erst nach Abschluß dieses Zwischenverfahrens sicher beurteilt werden. Beschließe der BGH, die Annahme der Revision abzulehnen, so liege demnach darin zugleich die Entscheidung, die gemeinschaftsrechtliche Frage nicht dem EuGH vorzulegen, sondern sie in eigener Verantwortung mitzubeurteilen. Eine solche Nichtannahmeentscheidung sei folglich an den zuletzt im Senatsbeschluß vom 31.5.1990 (BVerfGE 82, 159, 192 ff.) herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben für die Handhabung des Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag zu messen. Der BGH habe im hier zu entscheidenden konkreten Verfahren zwar erstmals über die Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag zu entscheiden gehabt. Von einer offensichtlich unhaltbaren Handhabung seiner Vorlagepflicht könne dann jedoch nicht gesprochen werden, wenn der BGH als letztinstanzliches Gericht, ohne ausdrückliche eigene europarechtliche Erwägungen anzustellen, sich die Argumentation der Vorinstanz stillschweigend zu eigen gemacht habe, nachdem diese sich in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise mit den einschlägigen europarechtlichen Fragen und damit mit ihrer Vorlagemöglichkeit gemäß Art. 177 Abs. 2 EWG-Vertrag auseinandergesetzt habe. Damit habe er den in der Senatsrechtsprechung aufgestellten Anforderungen hinsichtlich seiner Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag genügt. Mit diesem Beschluß nahm die Dritte Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 3.11.1988 I ZR 82/88 nicht zur Entscheidung an.

       80. In dem bereits unter laufender Nummer [69] besprochenen Urteil stellte der Senat des Bundesverwaltungsgerichtes fest, daß er die Sache des Klägers habe entscheiden können, ohne zuvor das Verfahren gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag auszusetzen und eine Entscheidung des EuGH einzuholen. Zur Begründung führte es das Urteil vom 6.10.1982 in der Rechtssache 283/81 (EuGH, Slg. 1982, 3415 (3429) = NJW 1983, 1257) an, in dem klargestellt worden sei, daß die Vorlagepflicht des letztinstanzlichen Gerichtes dann nicht bestehe, "wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliege, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat". Dies gelte selbst dann, "wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind". (Vgl. dazu auch BVerfG, NJW 1988, 1456 [1457]). Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall erfüllt.

       81. Mit Beschluß vom 19.2.1993 (BvR 1753/89 = HFR 1993, 409) nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Bundesfinanzhofes vom 8.9.1989 (= VII R 25/87 – nicht veröffentlicht) nicht zur Entscheidung an, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte. Es könne dahinstehen, so das Bundesverfassungsgericht, ob der Bundesfinanzhof im vorliegenden Fall nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechtes überhaupt zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet gewesen sei. Wenn man dies annehme, habe er seine Vorlagepflicht jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt. Der Bundesfinanzhof sei nicht bewußt von der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere in seinem Urteil vom 22.1.1986 (Rs 266/84, Slg. 1986, 149 ff.) abgewichen.