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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Volker Röben


XIV. Deutschlands Rechtslage nach 1945 und Deutsche Wiedervereinigung

       Auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes und des Bundesverwaltungsgerichts zum Restitutionsausschluß bei besatzungshoheitlichen Enteignungen [25 ff.] sowie auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts [1] bzw. des Bundesgerichtshofs [2] zur Strafverfolgung wegen Spionage gegen die Bundesrepublik, des Bundesgerichtshofs zu Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR [80] sowie des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung durch Verhängung von Todesurteilen [62] wird hingewiesen.

       Im Berichtszeitraum ergingen mehrere Entscheidungen zur Übernahme von Personen, die während des Bestehens der DDR sensitive Berufe ausgeübt hatten, in entsprechende Stellungen in der Bundesrepublik.

       111. In seinem Beschluß vom 21.2.1995 (1 BvR 1397/93 - BVerfGE 92, 140) hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit dem in Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt 3 Ziffer 1 Abs. 4 Nr. 1 EinigungsV (EV) vom 31.8.19901 vorgesehenen Sonderkündigungstatbestand mangelnder persönlicher Eignung zu befassen. Die Verfassungsbeschwerde betraf die ordentliche Kündigung eines im Polizeidienst des Landes Berlin tätigen Arbeitnehmers, der früher Hauptmann der Volkspolizei der DDR und zeitweilig hauptamtlicher Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war. Auf Empfehlung einer Personalauswahlkommission kündigte der Polizeipräsident Berlin dem Beschwerdeführer. Auf Berufung des Landes Berlin wies das LAG Berlin seine Kündigungsschutzklage ab. Maßgeblich sei, ob der Kläger wegen seiner politischen Vorbelastung geeignet erscheine, in einer nach rechtsstaatlichen Maßstäben arbeitenden Verwaltung, insbesondere im Polizeidienst tätig zu werden. Der daraufhin erhobenen Verfassungsbeschwerde gab das Bundesverfassungsgericht statt, da das angegriffene Urteil den Beschwerdeführer in seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 33 Abs. 1 GG verletze. Das Landesarbeitsgericht habe bei der Auslegung und Anwendung des Abs. 4 Nr. 1 Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus Art. 12 sowie des Art. 33 GG verkannt. Der Gesamtregelung des EV über die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes der DDR liege erkennbar die Absicht zugrunde, die Bediensteten weitgehend in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Die in Abs. 4 Nr. 1 EV geschaffenen Gründe für eine ordentliche Kündigung erlaubten vor diesem Hintergrund nicht, die Tragbarkeit eines Arbeitnehmers für den öffentlichen Dienst allein nach seiner Stellung in der Hierarchie der DDR und seiner früheren Identifikation mit dem DDR-Regime pauschal zu beurteilen. Dem Ziel, auch im Beitrittsgebiet eine öffentliche Verwaltung zu schaffen, die sich an den durch Art. 33 Abs. 2 GG vorgegebenen Strukturen orientiere, sollte vielmehr durch eine einzelfallbezogene Prüfung der fachlichen Qualifikation und der persönlichen Eignung Rechnung getragen werden.

       112. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich ferner mit einer Verfassungsbeschwerde gegen den Entzug einer Rechtsanwaltszulassung gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter (RRNPG)2 zu befassen. Mit Beschluß vom 9.8.1995 (1 BvR 2263/94 u.a. - NJW 1996, 709) erklärte das Gericht die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwaltes für begründet und hob die entgegenstehenden Entscheidungen auf. Das Berufsgericht hatte dem Beschwerdeführer aufgrund dieser Norm die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen. Diese Entscheidung hatte der Bundesgerichtshof in letzter Instanz bestätigt. In seiner der Verfassungsbeschwerde stattgebenden Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht zunächst fest, daß § 1 Abs. 1 RNPG mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Der Bundesgerichtshof habe die Vorschrift jedoch zu weit ausgelegt und so das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Die Definition des Bundesgerichtshofs, die einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit bereits dann annehme, wenn der Rechtsanwalt als sog. IM zur Stützung des totalitären Zwangsregimes der ehemaligen DDR freiwillig und gezielt, insbesondere auch durch Eindringen in die Privatsphäre anderer und den Mißbrauch persönlichen Vertrauens Informationen über Anwalts-Kollegen und Mitbürger gesammelt, an das auch in der DDR für seine repressive und menschenverachtende Tätigkeit bekannte Ministerium für Staatssicherheit weitergegeben und dabei jedenfalls in Kauf genommen habe, daß diese Informationen zum Nachteil der denunzierten Personen, namentlich zur Unterdrückung ihrer Menschen- und Freiheitsrechte benutzt würden, falle so weit aus, daß allenfalls in Ausnahmefällen die Spitzeltätigkeit eines IM nicht erfaßt wäre. Die genannten Merkmale hätten nämlich das Bild eines IM geprägt.

       113. Das Bundesverwaltungsgericht entschied mit Urteil vom 6.11.1995 (2 C 21/94 - DtZ 1996, 118) über die Revision eines vom Richterwahlausschuß als für die Übernahme in den Justizdienst in der Bundesrepublik ungeeignet befundenen Richters der ehemaligen DDR. Im Rahmen seiner Entscheidung legte der Gerichtshof die Voraussetzungen für eine Übernahme dar. Die Vorschriften des EV und des Richtergesetzes der DDR sähen Richter, die früher in der ehemaligen DDR Dienst getan haben, nicht generell als ungeeignet an, in dem freiheitlich-demokratischen Staat der Bundesrepublik Deutschland das Amt eines Richters auszuüben. Dies gelte auch in Anbetracht dessen, daß die Tätigkeit ehemaliger Richter in der DDR im deutlichen Gegensatz zum Richterbild des Grundgesetzes stehe. Der EV vermeide eine Überleitung bestehender richterlicher Beschäftigungsverhältnisse in rechtsstaatliche Richterverhältnisse und sehe statt dessen vor, die noch tätigen Richter bei gegebener Eignung in ein Richterverhältnis zu berufen. Über die Berufung von Richtern der ehemaligen DDR entscheide der zuständige Minister der Justiz durch Verwaltungsakt. Die Berufung von Richtern der ehemaligen DDR in ein Richterverhältnis nach dem Grundgesetz erfordere deren erkennbaren und überzeugenden Willen und die Fähigkeit, unabhängige Richter i.S.d. Grundgesetzes zu werden und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen Recht zu sprechen. Diese könnten ihnen nach dem Einigungsvertrag trotz ihrer unterschiedlichen Rechtsstellung und Funktion gegenüber Richtern im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht generell abgesprochen werden. Daher dürfe der Richterwahlausschuß die Voraussetzung für die Übernahme von Richtern der ehemaligen DDR nicht schon deshalb verneinen, weil sie sich früher im notwendigen und üblichen Maße für Staat und Partei eingesetzt und z.B. in der SED, der praktisch jeder Richter und Staatsanwalt angehört habe, mitgearbeitet hätten. Die Prüfung im Einzelfall obliege dem örtlich zuständigen Richterwahlausschuß, der die Voraussetzungen nur mit Dreiviertel-Mehrheit annehmen könne. Hierbei stehe ihm eine Beurteilungsermächtigung zu. Insoweit sei es nicht zu beanstanden, daß der Ausschuß die vom Kläger getroffenen Entscheidungen zum "politischen Strafrecht" der ehemaligen DDR berücksichtigt habe. Wer wegen derartiger Strafurteile lange Freiheitsstrafen zu verbüßen gehabt habe, müsse es als Zumutung empfinden, weiterhin Rechtsprechung derselben Richter entgegennehmen zu müssen.

       114. Im Rahmen seines Urteils vom 10.3.1995 (5 StR 434/94 - BGHSt 41, 72=NStZ 1995, 394) hatte sich der Bundesgerichtshof anläßlich des sog. Falles Mielke mit dem Ablauf strafrechtlicher Verjährungsfristen während der deutschen Teilung zu befassen. Das Gericht entschied, daß die Verfolgung der angeklagten Tat, des Mordes am Bülowplatz 1931, nicht verjährt sei. Das ursprünglich gegen den Angeklagten eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde 1934 gemäß § 205 StPO nach der Flucht des Beschuldigten in die UdSSR eingestellt. Das Verfahren sei am 3.10.1990, dem Tage des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik - mindestens auch - vor einem Gericht in Ost-Berlin anhängig gewesen und dort nicht verjährt. Gemäß Anl. I Kap. III Sachgebiet A Abschn. III Nr. 28g des EV war das Verfahren in der Lage, in der es sich befand, nach den durch den EV in Kraft gesetzten Vorschriften fortzuführen. Darauf, ob das Verfahren zu diesem Zeitpunkt auch vor einem Gericht der Bundesrepublik anhängig gewesen und ob nach dem Recht der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt Strafverfolgung ebenfalls nicht vorgelegen habe, komme es nicht an.

       Im Berichtszeitraum waren ferner Fragen der strafrechtlichen Rehabilitierung von durch DDR-Gerichte verurteilten Personen zu entscheiden. Gemäß Art. 18 Abs. 1 EV bleiben zwar vor dem Beitritt ergangene Entscheidungen der Gerichte der DDR wirksam. Gleichwohl sieht Art. 17 des Vertrages die unverzügliche Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Rehabilitierung all der Personen vor, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen Entscheidung geworden sind. Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber mit dem strafrechtlichen RehabilitierungsG nachgekommen. Dabei hat sich der Gesetzgeber für eine selbständige Bewertung der Rechtsstaatswidrigkeit von Urteilen entschieden.

       115. Zu den Grundlagen der Rehabilitierungsentscheidung äußerte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 3.5.1995 (2 BvR 1023/94 - VIZ 1995, 518). Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die Verwertung eines Geständnisses aus der DDR-Zeit im Rehabilitierungsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht entschied, der Ansatz des Rehabilitierungsgesetzes bringe es mit sich, daß die Rehabilitierungsgerichte hinsichtlich der der Verurteilung zugrunde liegenden Tatsachen und des dahin führenden Verfahrens nicht mehr an die Feststellungen der DDR-Gerichte gebunden seien. Das Gericht müsse deshalb die für seine Entscheidung erheblichen Tatsachen selbst prüfen. Erheblich für eine Rehabilitierungsentscheidung könne aber die Tatsache sein, wie ein - angeblich vor den Ermittlungsbehörden und den Gerichten der DDR abgelegtes Geständnis zustande gekommen sei. Eine Verurteilung sei nämlich auch dann mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung nicht zu vereinbaren, wenn die Entscheidung unter Verstoß gegen wesentliche Verfahrensgrundsätze zustande gekommen sei und eine Gesamtbewertung mit Blick auf die materielle Gerechtigkeit sie als insgesamt rechtsstaatswidrig erscheinen lasse.

       116. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in seinem Beschluß vom 24.5.1995 (4 NB 37.94 - UPR 1995, 314) seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen die Vorlagepflicht aus Art. 9 Abs. 3 EV für vor dem 3.10.1990 im Beitrittsgebiet verkündete Normen eingreift. Das Normenkontrollgericht - OVG Mecklenburg-Vorpommern - habe von der Vorlage zutreffend abgesehen, nachdem es festgestellt habe, daß die Verordnung über die Festsetzung von Naturschutzgebieten und einem Landschaftsschutzgebiet von zentraler Bedeutung mit der Gesamtbezeichnung "Biosphärenreservat Südost-Rügen" vom 12.9.1990 nachkonstitutionelles Recht dadurch geworden sei, daß sie der zuständige Gesetzgeber in seinen Willen aufgenommen habe. Zudem griffen die strengen rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verkündung von Normen nur bei nachkonstitutionell erlassenem Recht ein, so daß auch von daher eine Vorlagepflicht nicht bestanden habe.



      1 BGBl. 1990 II, 889.

      2 Diese Vorschrift lautet: "Vor dem 15.9.1990 durch Aufnahme in das Kollegium oder durch den Minister der Justiz der DDR ausgesprochene Zulassungen zur Rechtsanwaltschaft werden widerrufen, wenn sich der Rechtsanwalt nach seiner Zulassung, aber vor dem 15.9.1990, eines Verhaltens schuldig gemacht hat, das ihn unwürdig erscheinen läßt, den Beruf des Rechtsanwaltes auszuüben, weil er gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere im Zusammenhang mit einer Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes verstoßen hat." Im übrigen sieht der EV bei den genannten Berufsgruppen anders als bei den Rechtsverhältnissen des öffentlichen Dienstes eine flächendeckende Überprüfung nicht vor.