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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Lars-Jörgen Geburtig


VIII. Asylrecht

1. Politische Verfolgung

       48. Das Bundesverwaltungsgericht führte in seinem Urteil vom 4.11.1997 (9 C 11.97 - InfAuslR 1998, 242) aus, daß ein Asylanspruch nach Art. 16 a GG und ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nur besteht, wenn der Ausländer von politischer, d.h. staatlicher oder quasi staatlicher Verfolgung bedroht ist.58 Quasi-staatlich sei eine Gebietsgewalt nur dann, wenn sie - ähnlich wie bei Staaten, die eine organisierte Herrschaftsmacht mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol auf einem begrenzten Territorium über ihre Bevölkerung effektiv und dauerhaft ausüben - auf einer organisierten effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Dabei seien die Effektivität und die Stabilität regionaler Herrschaftsorganisationen in einem noch andauernden Bürgerkrieg besonders vorsichtig zu bewerten. Solange jederzeit und überall mit dem Ausbruch die Herrschaftsgewalt regionaler Machthaber grundlegend in Frage stellender, bewaffneter Auseinandersetzungen gerechnet werden muß, könne sich eine dauerhafte territoriale Herrschaftsgewalt nicht etablieren. So aber verhalte es sich in Afghanistan. Die Existenz staatsähnlicher Organisationen in Afghanistan sei wegen der allgemeinen unsicheren Zukunftsperspektiven zu verneinen. Dem afghanischen Kläger könne daher kein Asyl wegen eigener politischer Verfolgung und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen werden.

       49. Nach Ansicht des VG Frankfurt/Main unterliegt die armenische Minderheit in Aserbaidschan einer mittelbaren Gruppenverfolgung. In seinem Urteil vom 22.5.1997 (1 E 32789/94.A (V) - NVwZ-Beilage 1998, 37) führte das Gericht aus, daß asylrelevante politische Verfolgung sich nicht nur gegen Einzelpersonen, sondern auch gegen eine durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppe von Menschen richten kann, mit der Folge, daß dann jedes Gruppenmitglied als von dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist. Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers könne sich deshalb auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese wegen eines asylerheblichen, auch bei ihm vorliegenden Merkmals verfolgt werden und er sich in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsgefahr vergleichbaren Lage befindet. Die Annahme einer Gruppenverfolgung setze eine Verfolgungsdichte voraus, die in quantitativer Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen aufweise, daß ohne weiteres von einer aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit eines Gruppenmitglieds gesprochen werden kann. Um zu beurteilen, ob eine ausreichende Verfolgungsdichte vorliegt, müßten Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Als nicht verfolgt sei nur derjenige Gruppenangehörige anzusehen, für den die Verfolgungsvermutung widerlegt werden könne; es komme nicht darauf an, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen schon in seiner Person verwirklicht haben. Eine Gruppenverfolgung der armenischen Minderheit in Aserbaidschan sei nach diesen Maßstäben aufgrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel zu bejahen. Den Klägern, aserbaidschanischen Staatsangehörigen armenischer Volkszugehörigkeit, die der Glaubensgemeinschaft der Christen angehören, drohe bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Form einer mittelbaren Gruppenverfolgung, weil der Staat es unterlasse, diese Ethnie vor der Wut, Diskriminierung und Schikanen durch die wegen der Berg-Karabach-Ereignisse aufgebrachten Aserbaidschaner wirksam zu schützen. Armenische Volkszugehörige, selbst wenn sie einer gemischten nationalen Beziehung entspringen und sie die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit besitzen, lebten nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes weitgehend recht- und schutzlos. Gerichte duldeten Beleidigungen, Demütigungen, Drohungen, ja selbst tätliche Angriffe durch Teile der fanatisierten aserbaidschanischen Bevölkerung. Der Staat schreite nur selten ein und dulde, daß eine vieltausendköpfige Minderheit praktisch im Untergrund in Angst und Schrecken leben muß. Zudem sei jederzeit mit einem Wiederaufflackern der Kämpfe um Berg-Karabach zu rechnen. Spätestens bei Ausbruch neuer Kämpfe sei aber auch das physische Überleben der verbliebenen Armenier in Aserbaidschan in Frage gestellt. Eine inländische Fluchtalternative stehe der Gruppe der Armenier in Aserbaidschan nicht zur Verfügung. Ihnen könne nicht zugemutet werden, sich in den von Armenien widerrechtlich besetzten Teils Aserbaidschans und damit in ein potentielles Krisengebiet zu begeben. Im Hinblick auf die durchaus nicht unwahrscheinliche Gefahr des Ausbruchs erneuter kriegerischer Auseinandersetzungen könne für den Bereich Berg-Karabach nicht festgestellt werden, daß die Kläger dort vor einer politischen Verfolgung hinreichend sicher sind.

       50. Auf die Klage eines irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit stellte sich das VG Freiburg in seinem Urteil vom 21.11.1997 (A 10 K 11270/97 - NVwZ Beilage 1998, 27 = InfAuslR 1998, 140) angesichts der ihm vorliegenden Erkenntnisse auf den Standpunkt, daß die Asylantragstellung von den irakischen Sicherheitsbehörden und Gerichten, auch ohne Kenntnis der Gründe, die den Betroffenen zu diesem Schritt bewogen haben, als Ausdruck einer oppositionellen bzw. irakfeindlichen Haltung angesehen wird und dieser Mangel an Loyalität entsprechend hart bestraft werden kann, was bis hin zur Verhängung der Todesstrafe reicht. Eine solche Bestrafung stelle, da sie an eine zumindest vermutete abweichende politische Überzeugung und damit an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfe, politische Verfolgung dar. Nach Überzeugung des Gerichts seien keine neuen Erkenntnisse vorhanden, die die Folgerung zuließen, für abgelehnte Asylbewerber aus dem Irak sei eine Verfolgung wegen der bloßen Asylantragstellung im Ausland mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. In Anbetracht der Willkür und Unberechenbarkeit des irakischen Machtapparates, die sich gerade wieder in den jüngsten Ereignissen betreffend die Ausweisung und Behinderung von amerikanischen UN-Waffeninspektoren zeige, sei angesichts der in Rede stehenden schwersten Rechtsverletzungen bei der in diesem Zusammenhang gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer relevanten Gefährdung wegen der Asylantragstellung auszugehen. Eine inländische Fluchtalternative stehe dem Kläger nicht zur Verfügung. Die nordirakischen Kurdenprovinzen kämen für den Kläger des vorliegenden Verfahrens nicht als inländische Fluchtalternative in Betracht, da das Gericht zu der Überzeugung gelangt ist, daß der Kläger eine Person ist, an deren Ergreifung die irakische Zentralregierung ein besonderes Interesse hegt und deshalb für ihn die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, auch im Nordirak von Saddam Husseins Sicherheitskräften verfolgt und in asylrechtlich relevanter Weise belangt zu werden.

       51. Das VG Würzburg stellte auf die Klage eines russischen Volkszugehörigen, der 1990 von den Weststreitkräften der früheren Sowjetunion in der ehemaligen DDR desertierte, in seinem Urteil vom 20.1.1997 (W 8 K 96.30772 - NVwZ-Beilage 1997, 57) fest, daß dieser als Asylberechtigter nach Art. 16 a I GG anzuerkennen ist. Die systematischen Mißhandlungen durch Vorgesetzte (sog. "dedowschtschina") in der russischen Armee könne asylbegründend sein. Der Kläger habe eine insbesondere durch seine religiöse Überzeugung verursachte Vorverfolgung glaubhaft gemacht. Ihm drohe bei seiner Rückkehr eine als solche zwar nicht asylerhebliche Haftstrafe. Er müsse aber damit rechnen, in Untersuchungshaft zu kommen und nach Verurteilung in ein Strafbataillon abkommandiert zu werden, wo nach Einschätzung verschiedener internationaler Beobachter menschenunwürdige Zustände herrschten. Die drohende Strafverfolgung wegen "Vaterlandsverrat" nach Art. 64 a RussStGB aufgrund der Befragung des Klägers durch westliche Geheimdienste im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt sei zudem politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a GG und damit ein asylrechtlich relevanter, nicht selbstgeschaffener Nachfluchttatbestand.59

      



      58 Vgl. auch das gleichzeitig ergangene Urteil im Verfahren BVerwG 9 C 34.96, unter [73].
      59 Die Ausführungen des VG zum asylunabhängigen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK sind unter [81] wiedergegeben.