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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Lars-Jörgen Geburtig


IX. Auslieferung und andere Formen internationaler Rechtshilfe

       67. Auf die Verfassungsbeschwerden dreier türkischer Staatsangehöriger, die wegen Betäubungsmitteldelikten zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren und diese Freiheitsstrafe in der Türkei verbüßen wollten, hatte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Senatsbeschluß vom 18.6.1997 (2 BvR 483/95, 2 BvR 2501/95 und 2 BvR 2990/95 - BVerfGE 96, 100 = NJW 1997, 3013 = NStZ 1998, 140 = EuGRZ 1997, 421 = JZ 1998, 565) mit der Frage des Rechtsschutzes bei abgelehnter Überstellung zur Strafvollstreckung im Ausland auseinanderzusetzen. Das Überstellungsübereinkommen werde in der Bundesrepublik in zwei Stufen vollzogen. Das Bundesministerium der Justiz als Bewilligungsbehörde stelle ein Überstellungsersuchen an den Vollstreckungsstaat nur dann, wenn zuvor die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde die vollstreckungsrechtlichen Belange geprüft und eine Überstellung angeregt habe. Spreche die Staatsanwaltschaft sich aus vollstreckungsrechtlichen Erwägungen gegen die Überstellung aus, lehne das Bundesministerium der Justiz es ab, sich mit der Sache überhaupt zu befassen. Hieraus folge, daß die Grundrechtsposition des Verurteilten bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde Berücksichtigung finden muß. Die Rechtsstellung eines zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten sei wesentlich durch seinen gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruch auf Resozialisierung bestimmt. Bei Ermessensentscheidungen im Bereich des Strafvollzuges erwachse dem Verurteilten daraus ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung. Äußere der Verurteilte gemäß dem Überstellungsübereinkommen den Wunsch, zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Strafe in sein Heimatland überstellt zu werden, sei es daher Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Interessen des Verurteilten an seiner sozialen Wiedereingliederung und die Belange der Rechtspflege vollstreckungsrechtlich zu würdigen und bei der Ermessensausübung auch den Resozialisierungsanspruch des Verurteilten zu berücksichtigen. Insoweit habe er ein Recht auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens der Vollstreckungsbehörde. In der zweiten Verfahrensstufe bei der Entscheidung des Bundesministeriums der Justiz als Bewilligungsbehörde stehe dem Verurteilten dagegen kein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung zu, da sich diese Entscheidung allein an allgemein-, insbesondere außenpolitischen Belangen orientiere. Dies stehe im Einklang damit, daß nach den völkerrechtlichen Erklärungen der Bundesrepublik aus dem Überstellungsübereinkommen für verurteilte Personen keine Ansprüche oder subjektiven Rechte erwüchsen, sondern ausschließlich zwischen den Vertragsparteien Rechte und Pflichten begründet würden. Da folglich bereits die von der Vollstreckungsbehörde in der ersten Verfahrensstufe zu treffende Entscheidung sich unmittelbar auf das grundrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Verurteilten auswirke, verbürge Art. 19 Abs. 4 GG den gerichtlichen Rechtsschutz zur Überprüfung, ob die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Welcher Rechtsweg hierfür in Betracht komme, haben die Fachgerichte in Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Prozeßrechts festzustellen.

       68. Der Bundesgerichtshof befaßte sich in seinem Urteil vom 9.9.1997 (1 StR 408/97 - NJW 1998, 690 = BGHSt 43, 233 = NStZ 1998, 142) mit der Strafempfindlichkeit von Ausländern. Die Annahme, die Strafvollstreckung im Inland werde den Anklagten als Ausländer voraussichtlich besonders hart treffen, verliere weitgehend ihre Bedeutung, wenn die Strafvollstreckung überwiegend im Heimatland erfolgen kann und dadurch die besonderen Härten bei Strafvollstreckung im Inland entfallen. Dies sei das Ziel von § 71 IRG62 sowie des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen.63 Wenn der Tatrichter eine besondere Haftempfindlichkeit des Ausländers als bestimmenden Strafzumessungsgrund betrachte, könne er vorsorglich in der Hauptverhandlung um eine Erklärung der Staatsanwaltschaft zur Überstellungsfrage nachsuchen. Liege die Erklärung der Staatsanwaltschaft vor, daß aus ihrer Sicht als künftiger Vollstreckungsbehörde einer Überstellung keine vollstreckungsrechtlichen Belange entgegenstünden, so sei der Tatrichter rechtlich nicht an der Annahme gehindert, eine Überstellung zur Strafvollstreckung im Heimatland des Angeklagten sei zu erwarten und die besondere Haftempfindlichkeit des Ausländers bei Strafvollstreckung im Inland sei deshalb kein bestimmender Strafmilderungsgrund.

       69. Das OLG Karlsruhe befaßte sich in seinem Beschluß vom 22.4.1997 (1 AK 1/97 - Die Justiz 1997, 478) mit der Frage, inwieweit eine in einem Drittstaat (Schweiz) ergangene staatsanwaltschaftliche Einstellungsverfügung wegen der auslieferungsgegenständlichen Tat nach den Vertragsregeln des EuAlÜbk ein Auslieferungshindernis gegenüber dem ersuchenden Staat (Portugal) begründet. Dem Verfolgten, einem Schweizer Staatsbürger, wurde von den portugiesischen Justizbehörden zur Last gelegt, seine Ehefrau im Verlaufe eines Streits in Portugal getötet zu haben. Eine aufgrund derselben Tat eingeleitete Strafuntersuchung in der Schweiz wurde durch die zuständige Staatsanwaltschaft Ende 1994 eingestellt, weil dem Verfolgten eine Verletzungs- oder Tötungshandlung zum Nachteil seiner Ehefrau nicht nachgewiesen werden konnte. Der Verfolgte war nun der Auffassung, er könne aus diesem Grunde nicht an Portugal ausgeliefert werden. Nach Auffassung des Senats ist die Auslieferung des Verfolgten an Portugal zulässig. In bezug auf das Unschuldsvorbringen des Verfolgten führte das Gericht aus, daß der ersuchte Staat grundsätzlich nicht zu prüfen hat, ob der Verfolgte der ihm in Portugal angelasteten Tat überführt ist. Besondere Umstände, die ausnahmsweise Anlaß zu einer solchen Prüfung geben könnten (§ 10 Abs. 2 IRG), seien nicht ersichtlich. Auslieferungshindernisse gemäß Art. 3 bis 11 EuAlÜbk bzw. § 73 IRG seien nicht dargetan. Aus dem Grundsatz ne bis in idem lasse sich im Hinblick auf das abgeschlossene schweizerische Ermittlungsverfahren ein Auslieferungshindernis nicht herleiten. Eine einschlägige Vertragsregelung, daß eine rechtskräftige verfahrensabschließende Sachentscheidung in einem Drittstaat (Schweiz) einer neuerlichen Verfolgung oder Bestrafung in dem ersuchenden Staat (Portugal) wegen derselben Tat entgegensteht, enthalte weder das EuAlÜbk noch das zweite Zusatzprotokoll zum EuAlÜbk. Eine solche Regelung lasse sich auch dem allgemeinen Völkerrecht nicht entnehmen. Im übrigen würde auch in einem bilateralen Verhältnis eine bloße staatsanwaltschaftliche Einstellungsverfügung mangels hinreichenden Tatverdachts im ersuchten Staat nach der maßgeblichen Vertragsregelung (Art. 9 Satz 1 EuAlÜbk) die Zulässigkeit der Auslieferung nicht berühren. Die hinter dieser vertraglichen Beschränkung auf Fälle rechtskräftiger Aburteilung stehende Überlegung habe ihren guten Sinn; denn dem Tatortstaat stünden möglicherweise die besseren Beweismöglichkeiten und die wichtigsten Beweismittel unmittelbar zur Verfügung. Eine Anwendbarkeit von Art. 54 SDÜ (Schengen II) entfalle schon deshalb, weil die Schweiz nicht Vertragsstaat dieses Übereinkommens sei. Im übrigen setze auch diese das Verbot einer Doppelbestrafung betreffende Regelung eine "rechtskräftige Aburteilung" durch eine Vertragspartei voraus64.

      



      62 I.d.F. der Bekanntmachung vom 27.6.1994, BGBl. I, 1537.
      63 Überstellungsübereinkommen vom 21.3.1983, BGBl. II 1991, 1006 ff.; BGBl. II 1992, 98 ff.
      64 Vgl. dazu auch oben [7].