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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1994


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Peter-Tobias Stoll

XII. Zusammenarbeit der Staaten

c. Arbeits- und sozialrechtliche Zusammenarbeit

    156. Im Berichtszeitraum traten zahlreiche Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation für Deutschland in Kraft oder wurden ratifiziert.346 Dazu gehören das Übereinkommen über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest (Nr. 162)347, über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren in Folge von Luftverunreinigung, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen (Nr. 148)348, über den Arbeitsschutz im Bauwesen (Nr. 167)349, über den Gesundheitsschutz und die medizinische Betreuung der Seeleute (Nr. 164)350, sowie über die betriebsärztlichen Dienste (Nr. 161).351

    157. Im Berichtszeitraum wurde darüber hinaus bekanntgemacht, daß das Übereinkommen Nr. 96 über Büros für entgeltliche Arbeitsvermittlung in der Neufassung von 1949 nach Kündigung für Deutschland außer Kraft getreten ist.352

    158. Das Übereinkommen Nr. 166 über die Heimschaffung der Seeleute353 und das Übereinkommen Nr. 163 über die soziale Betreuung der Seeleute auf See und im Hafen354 sollen nach dem Willen der Bundesregierung nicht ratifiziert werden.355 Zur Begründung führte die Bundesregierung aus, daß das Übereinkommen Nr. 166 über die Heimschaffung der Seeleute nicht mit Bundesrecht vereinbar sei. Das Übereinkommen Nr. 163 über die soziale Betreuung der Seeleute auf See und im Hafen könne nicht ratifiziert werden, weil die soziale Betreuung der Seeleute primär Angelegenheit der Länder sei.356

    159. Auf der 81. Internationalen Arbeitskonferenz nahm in der allgemeinen Aussprache im Plenum der Bundesarbeitsminister Stellung zur Normensetzung innerhalb der Internationalen Arbeitsorganisation. Er führte aus, daß die Normen der Organisation modernisiert werden müßten und setzte sich für eine gezielte Auswahl der Themen für neue Normen ein.

    160. Im Hinblick auf die Thematik der "Sozialklauseln", die im Rahmen der Welthandelsorganisation diskutiert würden, führte er aus, daß auch die Internationale Arbeitsorganisation sich damit befassen müsse und ihre Dreigliedrigkeit nutzen solle. Dabei solle weniger der Sanktionsgedanke in den Vordergrund gerückt, als vielmehr die Überzeugung gefördert werden, daß Normen nötig sind. Der deutsche Arbeitgeberdelegierte bemerkte, daß es angemessen sei, wenn die Internationale Arbeitsorganisation zum Thema Sozialklauseln ihre Position bestimme. Es bedürfe aber nicht der Einführung irgendwelcher Überwachungs- und Kontrollmechanismen. Der Arbeitnehmerdelegierte erklärte, daß die Forderung nach Sozialklauseln keineswegs dem Protektionismus dienen solle, sondern dem absolut grundlegenden Schutz der Arbeitnehmer und ihrer sozialen Menschenrechte.357

    161. Die Konferenz nahm ein Übereinkommen über Teilzeitarbeit (Ü 175) an. Dem Übereinkommen stimmte die deutsche Delegation zu, nachdem durch den Rechtsberater der IAO klargestellt worden war, daß einzelne Gruppen von Teilzeitbeschäftigten, z.B. die geringfügig Beschäftigten (wie in Deutschland), vom System der sozialen Sicherung ausgenommen werden können. Diese Interpretation wurde von deutscher Seite auch in einer Erklärung im Plenum zum Ausschußbericht festgehalten.358

    162. In der allgemeinen Aussprache im Normanwendungsausschuß betonte der deutsche Regierungsvertreter, daß trotz der Nichterwähnung im Übereinkommen Nr. 87 das Streikrecht grundsätzlich daraus hergeleitet werden könne. Er machte aber deutlich, daß die seit 1987 vom Sachverständigenausschuß vertretene Ansicht, daß das Beamtenstreikverbot mit dem Übereinkommen Nr. 87 nicht vereinbar sei, für die Bundesregierung problematisch sei. Der Normenanwendungsausschuß befaßte sich auch mit insgesamt 28 Einzelfällen. Darunter fand sich erstmalig auch die mögliche Verletzung des Übereinkommens Nr. 87 wegen des deutschen Beamtenstreikverbots. In diesem Zusammenhang wies der deutsche Regierungsvertreter darauf hin, daß bei der Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 87 im Jahre 1957 nicht denkbar gewesen sei, daß das Beamtenstreikverbot mit dem Übereinkommen nicht vereinbar sein könne. Es finde sich demgegenüber in den Materialien zum Übereinkommen Nr. 87 eine Passage, wonach durch die Gewährung des Vereinigungsrechts für öffentliche Bedienstete die Gewährung des Streikrechts nicht präjudiziert werde. Er hob hervor, daß nicht die Einbeziehung des im Übereinkommen Nr. 87 nicht erwähnten Streikrechts als solches in die vom Übereinkommen geschützte Vereinigungsfreiheit durch den Sachverständigenausschuß Bedenken begegne, sondern dessen weltweit uniforme Detailausgestaltung. So gehe es nicht an, für die Aufrechterhaltung und die Mindestversorgung der Bürger mit öffentlichen Dienstleistungen im Streikfall nur das funktionsbezogene Prinzip der essential services zuzulassen, statusbezogene Streikrechtseinschränkungen wie in Deutschland jedoch zu verwerfen. Er hob ferner hervor, daß Streiks im Öffentlichen Dienst in Deutschland durch das Beamtenstreikverbot nicht unzulässig erschwert seien. Mit der Privatisierung in diesen Bereichen werde sich das Problem bei Post und Bahn ohnehin nicht mehr stellen. Schließlich erfolge die Verbeamtung nicht gegen den Willen der Betroffenen, sondern werde von ihnen angestrebt.359

    163. Bundesregierung und Bundestag lehnten den von der Europäischen Kommission vorgelegten Vorschlag der Kommission für einen Beschluß des Rates über die Wahrnehmung der auswärtigen Zuständigkeit der Europäischen Union im Rahmen internationaler Arbeitskonferenzen bei gemeinsamer Zuständigkeit der Union und ihrer Mitgliedstaaten360 entschieden ab.361 Wie im Bundestag ausgeführt wurde, ist bereits seit Ende der 70er Jahre zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission streitig, ob und gegebenenfalls wie die Gemeinschaft bei normsetzenden Vorhaben der ILO mit EG-rechtlicher Berührung tätig werden kann. Das Vorhaben der Kommission, der Gemeinschaft eine zentrale Rolle bei den internationalen Arbeitskonferenzen beizumessen und die Mitgliedstaaten an einen zuvor festzulegenden gemeinsamen Standpunkt zu binden, begegnete deutlicher Kritik. Es müsse vermieden werden, daß über diesen Weg die Rechte der nationalen Parlamente, wie sie die ILO-Verfassung vorsehe, ausgehöhlt werden. Bei Nicht-Ratifizierung durch die EU hätten die Mitgliedstaaten keine Möglichkeit mehr, Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation national umzusetzen. Auch bleibe das im jetzigen Verfahren gesicherte Mitspracherecht der Sozialpartner auf der Strecke.362

    164. Am 1. August 1994 trat nach Zustimmung des Bundestages ein Zusatzabkommen zu dem deutsch-schweizerischen Abkommen über Arbeitslosenversicherung in Kraft.363 Mit dem Zusatzabkommen werden alle Grenzgänger, die nicht die Staatsangehörigkeit der Vertragsstaaten besitzen, in das Abkommen einbezogen. Damit wird der soziale Schutz für den Fall der Arbeitslosigkeit auch für Drittstaatsangehörige, die in dem einen Vertragsstaat wohnen und im anderen Vertragsstaat arbeiten, verbessert.364 365

    165. Durch Notenwechsel wurden die deutsch-litauische und die deutsch-polnische Gastarbeitnehmer-Vereinbarung geändert.366 Ebenfalls durch Notenwechsel wurde die deutsch-bulgarische Vereinbarung zur Änderung der Vereinbarung über die Beschäftigung von Arbeitnehmern bulgarischer Unternehmen zur Ausführung von Werkverträgen geändert.367

    166. Die Bundesregierung schloß mit der Republik Polen am 7. September 1993 eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Familien- und Seniorenpolitik sowie der Sozialhilfe, die am 14. Juni 1994 in Kraft trat.368 Das Übereinkommen stützt sich auf den zwischen beiden Staaten am 17. Juni 1991 geschlossenen Vertrag über Gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit und den dort in Art. 3 vorgesehenen regelmäßigen Kontakt der Fachminister sowie den in Art. 14 vorgesehenen Ausbau und die Vertiefung der sozialpolitischen Zusammenarbeit. Nach Art. 2 der Vereinbarung gehört zu den Elementen der Zusammenarbeit der Informationsaustausch, die Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen der Sozialhilfe, die Zusammenarbeit zwischen nichtstaatlichen Organisationen, der Austausch von Fachkräften und Multiplikatoren und die Begegnung von älteren Menschen und Gruppen. Einbezogen werden sollen ein Meinungsaustausch über die wirtschaftspolitischen Fragestellungen der Familien- und Seniorenpolitik, eine Erörterung vergleichbarer sozio-demographischer Entwicklungen und der damit verbundenen politischen Herausforderungen sowie die Probleme behinderter Menschen. Die Zusammenarbeit der jeweiligen nationalen nichtstaatlichen Mitgliedsorganisationen in den internationalen Organisationen sowie in internationalen Verbänden soll gefördert werden (Art. 3).


    346 Siehe auch Walter (Anm. 29), Ziff. 136; vgl. unten Anm. 365.
    347 BGBl. 1993 II, 83; in Kraft getreten am 18.11.1994, BGBl. 1994 II, 3761.
    348 BGBl. 1993 II, 74; in Kraft getreten am 18.11.1994, BGBl. 1994 II, 3869.
    349 BGBl. 1993 II, 94; in Kraft getreten am 18.11.1994, BGBl. 1994 II, 3862.
    350 BGBl. 1994 II, 1207; in Kraft getreten am 17.10.1995, BGBl. 1995 II, 167.
    351 BGBl. 1994 II, 1198; in Kraft getreten am 17.10.1995, BGBl. 1995 II, 184.
    352 Übereinkommen vom 1.7.1949, BGBl. 1954 II, 456; von Deutschland gekündigt am 10.7.1992; nach Art. 20 Abs. 1 am 10.7.1993 außer Kraft getreten, BGBl. 1994 II, 387.
    353 BT-Drs. 12/6680.
    354 BT-Drs. 12/6681.
    355 Siehe die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Übereinkommen Nr. 166, BT-Drs. 12/6680, 10 und zu dem Übereinkommen Nr. 163, BT-Drs. 12/6681, 7; Woche im Bundestag 9/94 vom 4.5.1994, 18.
    356 BT-Drs., ibid., Woche im Bundestag, ibid. und 10/94 vom 25.5.1994, 23.
    357 BABl. 12/1994, 19.
    358 BABl. 12/1994, 21 ff.
    359 Ibid.
    360 Ratsdokument Nr. 4255/94.
    361 Woche im Bundestag 9/94 vom 4.5.1994, 19; 14/94 vom 6.7.1994, 14 � entsprechend der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drs. 12/8002; Kommissionsvorschlag in BT-Drs. 12/7064 (mit ablehnendem Votum der Bundesregierung).
    362 Woche im Bundestag 9/94 vom 4.5.1994, 19; Woche im Bundestag 14/94 vom 6.7.1994, 14.
    363 Zusatzabkommen vom 22.12.1992 zum Abkommen vom 20.10.1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Arbeitslosenversicherung, BGBl. 1994 II, 430; Zustimmungsgesetz vom 31.3.1994; Bek. des Inkrafttretens, BGBl. 1994 II, 1193.
    364 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 12/6436; Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drs. 12/6634; Woche im Bundestag 3/94 vom 9.2.1994, 25.
    365 Zu den auf dem Gebiet der Sozialversicherung geltenden überstaatlichen Regelungen sowie den von der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Sozialversicherungsabkommen siehe die Dokumentation in BArbBl. 2/1994, 20.
    366 BGBl. 1994 II, 1249 bzw. 127.
    367 BGBl. 1994 II, 90.
    368 BGBl. 1994 II, 2459.