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Peter-Tobias Stoll
a. GATT und WTO
221. Auf einer Ministerkonferenz des GATT in Marrakesch unterzeichnete Deutschland am 15. April 1994 die Schlußakte der am 15. Dezember 1993 erfolgreich abgeschlossenen Uruguay-Runde sowie das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen.508 Die Bundesregierung führte dazu aus:
"Das bisherige, aus dem Jahre 1947 stammende GATT ist mit seinen zahlreichen Unterabkommen und Einzelentscheidungen ein nur provisorisch angewandtes Vertragswerk und hatte keine eigene Rechtsfähigkeit. Zum Abschluß der GATT-Uruguay-Runde wurde die Errichtung einer völkerrechtlich selbständigen Welthandelsorganisation beschlossen. Das WTO-Übereinkommen schaffte einen umfassenden vertraglichen und institutionellen Rahmen für die Gestaltung der Handelsbeziehungen seiner Mitglieder. Es umfaßt das alte GATT 1947 mit seinen Unterabkommen und Entscheidungen sowie alle Ergebnisse der Uruguay-Runde."509 |
"Sie wird dazu beitragen, daß der mit der Uruguay-Runde zunächst zum Abschluß gebrachte Prozeß der Handelserleichterungen, der Zollsenkungen, der Verbesserungen bei Dienstleistungen, permanent in dieser Organisation vorangebracht werden kann und vollzogen wird. Noch wichtiger ist: Wir werden mit dieser Welthandelsorganisation erstmals auch ein funktionierendes Schlichtungsinstrument schaffen. Es wird im Welthandel dann weniger nach dem Motto 'Auge um Auge, Zahn um Zahn' gehen. Wenn man tatsächlich oder mutmaßlich Handelsprobleme und Maßnahmen eines Landes hat hinnehmen müssen, reagiert man eben nicht mit Vergeltungsmaßnahmen. Vielmehr sollen in dieser internationalen Schlichtungseinrichtung die Dinge möglichst in die Reihe gebracht werden. Das ist ein ganz großer Fortschritt; das ist ein Durchbruch im Welthandel."521 |
"Nachverhandlungen sind notwendig, und zwar in erster Linie bei Dienstleistungen, hier insbesondere bei den Finanzdienstleistungen, aber auch im Seeverkehr. Der audiovisuelle Bereich ist nicht abschließend geregelt. Wir werden uns über ein multilaterales Abkommen über Zivilflugzeuge und auch eine multilaterale Regelung für Stahl unterhalten müssen."522 |
"Außerdem haben wir in Marrakesch gegenüber den Entwicklungsländern eine Verpflichtungserklärung abgegeben: 'Wir werden die Auswirkungen der Uruguay-Runde mit Blick darauf überprüfen, daß positive Maßnahmen zur Erreichung ihrer Entwicklungsziele unterstützt werden.'"523 |
"Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß diese Beitrittsverhandlungen jetzt aufgeschlossen und zügig vorankommen. Gerade die Länder des ehemaligen Ostblocks müssen eine Beitrittsperspektive haben. Ihre Mitgliedschaft wird wesentlich zum Gelingen des strukturellen Reformprozesses beitragen."524 |
"Die Bundesregierung und die übrigen EG-Mitgliedstaaten sind ... der Auffassung, daß die Verhandlungsergebnisse neben unstreitigen EG-Kompetenzen auch nationale Kompetenzbereiche berühren. Dies gilt insbesondere für die Zollzugeständnisliste der EG zum Marrakesch-Protokoll 1994 hinsichtlich der Waren, die unter den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl � EGKS � fallen, für das neue Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen � GATS � für das ebenfalls neue Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums � TRIPs � sowie hinsichtlich der Vereinbarung zur Streitbeilegung. Da alle diese Übereinkommen von der Schlußakte umfaßt werden und zur Arbeitsmaterie der neuen Welthandelsorganisation gehören, sind nach Auffassung der Bundesregierung auch die Schlußakte und das WTO-Übereinkommen ratifizierungsbedürftig. Die in Marrakesch vorgenommenen Unterzeichnungen präjudizieren die zwischen der EG-Kommission und den EG-Mitgliedstaaten offene Rechtsfrage nicht."527 |
222. Mit dem Gesetz zu dem Übereinkommen vom 15. April 1994 zur Errichtung der Welthandelsorganisation und zur Änderung anderer Gesetze vom 30. August 1994 stimmte der Bundestag dem WTO-Übereinkommen zu. Weiterhin finden sich in dem Gesetz Regelungen zur Umsetzung der sich aus dem Übereinkommen für Deutschland ergebenden Verpflichtungen. Zur Welthandelsorganisation heißt es in der Denkschrift:
"Die Welthandelsorganisation besitzt eigene Rechtspersönlichkeit, hat aber zugleich einen deutlich kontraktuellen Charakter. ... Die Verfahrensregeln zur Beschlußfassung waren lange strittig und folgen nach schwierigem Kompromiß im Grundsatz dem für das GATT typischen Konsensprinzip (Art. IX). Abweichend hiervon können nach Art. X und genau definierten Kriterien Änderungen einzelner Bestimmungen des WTO-Übereinkommens und der in Annex I aufgeführten Übereinkommen, die nicht den Kernbereich der Verpflichtungen (Meistbegünstigungsprinzip) betreffen, durch Mehrheitsvoten durchgesetzt werden. Ob hierdurch im Einzelfall deutsche Rechtsnormen betroffen werden können, ist derzeit völlig unvorhersehbar. Eine antizipierte Zustimmungsregelung erscheint daher insoweit nicht angebracht. Im übrigen stünde der Bundesrepublik Deutschland für den � sehr unwahrscheinlichen � Fall inakzeptabler Mehrheitsbeschlüsse als äußerste Möglichkeit der Austritt aus der WTO offen."529 |
"Originäre Mitglieder der Welthandelsorganisationen werden alle bisherigen GATT-Mitglieder (d.h. auch die Bundesrepublik Deutschland) sowie die Europäischen Gemeinschaften, die das WTO-Abkommen akzeptieren und für die Listen von Zollzugeständnissen und Liberalisierungsverpflichtungen im Dienstleistungshandel vorliegen. ... Alle Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation sind ... auch Mitglieder der Ministerkonferenz und aller Räte. Bei Abstimmungen hat die EG aber nur so viele Stimmen wie die Zahl ihrer Mitgliedstaaten. Einzelheiten der EG-internen Aufgabenverteilung bei der künftigen mitgliedschaftlichen Mitwirkung in der Welthandelsorganisation (z.B. Außenvertretung in Handelsverhandlungen und Streitschlichtungsverfahren, Rede- und Antragsrecht in den Ausschüssen) müssen noch EG-intern geklärt werden, wobei Kohärenz nach außen und Solidarität im Innenverhältnis zu wahren sind. Die endgültige EG-interne Regelung dieser Fragen ist voraussichtlich erst möglich, wenn die Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und der EG-Kommission über die Kompetenzverteilung geklärt sind."530 |
223. Im Hinblick auf die in der Schlußakte enthaltenen "gemischten" Übereinkommen führt die Bundesregierung in ihrer Denkschrift aus:
"Die in den oben erwähnten 'gemischten' Übereinkommen enthaltenen Regelungen entsprechen ganz überwiegend der in Deutschland geltenden Rechts- und Gesetzeslage. Zur Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen sind daher Änderungen des innerstaatlichen deutschen Rechts nur in geringem Umfang erforderlich; zudem ist ein Teil der Vertragsbestimmungen, jedenfalls aus dem Übereinkommen über die handelsbezogenen Aspekte des geistigen Eigentums, innerstaatlich unmittelbar anwendbar. Im einzelnen sind gesetzliche Änderungen erforderlich
� aufgrund des allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungen: � der Bundesrechtsanwaltsordnung � des Rechtsanwaltsgesetzes � des Rechtsberatungsgesetzes � der Wirtschaftsprüferordnung � aufgrund des Übereinkommens über die handelsbezogenen Aspekte des geistigen Eigentums: � des Erstreckungsgesetzes hinsichtlich der Patentdauer." |
224. Die erforderliche Änderung der Bundesrechtsanwaltsordnung wird mit Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vorgenommen. Sie sieht vor, daß § 206 Abs. 2 neu gefaßt wird. Damit entfällt die im bisherigen Recht geforderte Verbürgung der Gegenseitigkeit als Voraussetzung für die Aufnahme eines ausländischen Mitglieds der Rechtsanwaltskammer. Darüber hinaus wird die bislang vorgesehene Befugnis zur Rechtsbesorgung im Recht des Herkunftsstaates für diesen Personenkreis um das Völkerrecht erweitert. Die Neuregelung des Abs. 2 sieht für Angehörige von Vertragsstaaten des GATS von der Gegenseitigkeit ab.533
225. Mit Art. 5 des Vertragsgesetzes wird § 5 des Erstreckungsgesetzes geändert. Nach diesem § 5 war auf Patente mit Ursprung in der ehemaligen DDR das Recht der ehemaligen DDR anwendbar, das eine Patentlaufzeit von 18 Jahren ab dem Anmeldetag vorsah. Die Änderung mußte erfolgen, weil Art. 33 des TRIPS-Abkommens eine Patentlaufzeit von mindestens 20 Jahren vorsieht und nach Art. 70 Abs. 2 des Abkommens auch auf Patente anwendbar ist, die bereits angemeldet worden sind.534
226. Art. 6 des Vertragsgesetzes betrifft eine Änderung des § 10 Abs. 2 Nr. 3 der Wirtschaftsprüferordnung, nach der bisher die Zulassung zur Prüfung als Wirtschaftsprüfer versagt werden konnte, sofern der Bewerber nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum war und die Gegenseitigkeit nicht gewährleistet war. Diese Reziprozitätsvoraussetzung widerspricht der Meistbegünstigungspflicht nach Art. II Abs. 1 des GATS. Zu dieser Änderung führt die Bundesregierung in ihrer Begründung zu dem Vertragsgesetz aus:
"Die Europäische Union hat am Schluß der Verhandlungen der Uruguay-Runde auf eine ganze Reihe derartiger Gegenseitigkeitserfordernisse der Union und vieler Mitgliedstaaten für verschiedene Dienstleistungssektoren wie Banken, Versicherungen und freie Berufe verzichtet, weil insgesamt ein befriedigendes Niveau spezifischer Liberalisierungsverpflichtungen auf Meistbegünstigungsbasis erreicht wurde, besonders auch im Bereich Wirtschaftsprüfung seitens einer Reihe wichtiger Staaten einschließlich vieler US-Staaten. Das Gegenseitigkeitserfordernis in § 10 Abs. 2 Nr. 3 WPO ist deshalb zu streichen."535 |
227. Deutschland hinterlegte am 30. Dezember 1994 beim Generaldirektor der Vertragsparteien des GATT (1947) die Annahmeurkunde für das WTO-Abkommen. Dieses trat für Deutschland am 1. Januar 1995 in Kraft.536
228. Zu der während der Uruguay-Runde mehrfach angesprochenen Thematik der Arbeits- und Sozialstandards in der Welthandelsordnung, die der Bundesrat aufgegriffen hatte537, bemerkte die Bundesregierung, daß vor deren Behandlung in der WTO � wozu es spezifischer Ministerentscheidungen im Einvernehmen der Mitglieder bedarf � "eine gründliche Analyse in den dafür zuständigen und geeigneten Organisationen, vor allem in der OECD und den Vereinten Nationen (ELO und ECOSOC)" erforderlich sei.538 Der Bundeswirtschaftsminister äußerte sich dazu folgendermaßen:
"... spannungsgeladen und politisch hochsensibel ist der ... Themenkomplex Arbeits- und Sozialstandard ... niemand kann ausbeutende Kinderarbeit, Gefangenenarbeit und Zwangsarbeit akzeptieren. Wir müssen entschlossen darauf hinwirken, daß diese unerträglichen Zustände in der Welt überwunden werden. Dazu brauchen wir Konsens, wir brauchen Kooperation, wenn notwendig, auch politischen Druck. Aber ... wir wollen keine neuen Barrieren schaffen, die den Kreislauf von Armut, Arbeitslosigkeit und Kinderarbeit weiter verstärken. Wir wollen eine Diskussion im multilateralen Rahmen, in die alle Beteiligten ihre Beiträge einbringen. Ganz wichtig ist, daß diese Diskussion in den richtigen Gremien � in den Gremien der Vereinten Nationen und der ILO, der Weltarbeitsorganisation � stattfindet. Diese Diskussion wird sicher auch die WTO beschäftigen. Sie darf aber nicht die zuständige Arbeit der WTO dominieren oder gar lähmen. Und eines muß klar sein: Weder Umweltschutz noch Arbeits- und Sozialstandards dürfen zum Vehikel von Handelsbeschränkungen gemacht werden. Einige warten nur darauf, daß sie mit diesem Vehikel den Protektionismus der Welt neu beleben können. Wir würden alle daran Schaden nehmen, und gerade diejenigen würden Schaden nehmen, die die Umwelt- und Sozialstandards in der Welt verbessern wollen."539 |
"Zahlreiche neue Komplexe und kontroverse Themenbereiche werden in Kürze auf der Agenda handelspolitischer Gremien stehen. Hierzu gehört das Spannungsverhältnis zwischen Handel und Umwelt. Handels- und Umweltpolitik sind eng miteinander verknüpft. So lassen sich viele Produkte weltweit kaum produzieren oder transportieren, ohne daß dies Auswirkungen auf die Umwelt hat. Umgekehrt kann nationale Weltpolitik den internationalen Handel beeinflussen; denken wir an unterschiedliche Standards, die sich auf die Produktionskosten vor Ort auswirken. Das wird von einigen als Bedrohung empfunden. Sie sprechen sogar von Umweltdumping. Und nun wird mit der Einsetzung eines Ausschusses in der WTO � in Marrakesch so beschlossen � die Frage eines global wirksamen Umweltschutzes einen entscheidenden Schritt vorwärts machen. Wir haben dies so vereinbart und sehen in diesem Gremium eine geeignete Institution, um diese wichtigen Zusammenhänge zu diskutieren."541 |
"Ein drittes wichtiges Thema betrifft die Schnittstelle zwischen Handel und Wettbewerbspolitik. Grenzüberschreitende Investitionen sowie weltumspannende Aktivitäten von multinationalen Unternehmen entziehen sich oft der Kontrolle herkömmlicher Wettbewerbsvorschriften, obwohl sie häufig wettbewerbsverzerrende oder handelsbeschränkende Wirkungen haben. Wir können beobachten, daß der politische Druck wächst, auf diese Verzerrungen mit handelspolitischen Maßnahmen zu reagieren. Eine solche Entwicklung könnte die neuen GATT-Vereinbarungen und Konzessionen konterkarieren und entwerten. Deshalb sollte über das Ob und das Wie einer internationalen Wettbewerbsordnung bald gesprochen werden."542 |
229. Die Botschafterkonferenz Asien-Pazifik, die unter der Leitung des Bundesaußenministers im Januar 1994 stattfand, setzte sich nachdrücklich für die Aufnahme Chinas und Taiwans in das GATT bzw. die WTO und für die Aufnahme weiterer Mitglieder aus dem Kreise der dynamischen Volkswirtschaften Asiens in die OECD ein.