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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1994


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Peter-Tobias Stoll

XV. Europäische Gemeinschaften

a. Europäische Union

    244. Am 24. Juni wurde in Korfu im Rahmen einer Konferenz der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und dem Königreich Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden der Vertrag über den Beitritt von Norwegen, Österreich, Finnland und Schweden zur Europäischen Union unterzeichnet. Außerdem nahmen die Staatenvertreter neun gemeinsame Erklärungen an. Daneben sind der Schlußakte vierzig weitere Erklärungen beigefügt, die Belange der einzelnen Beitrittsländer betreffen. Schließlich enthält die Schlußakte einen Briefwechsel zwischen der Europäischen Union und den Beitrittsstaaten über ein Informations- und Konsultationsverfahren für die Annahme bestimmter Beschlüsse und sonstige Maßnahmen in der Zeit vor dem Beitritt und außerdem neun Protokolle.600

    245. Der eigentliche Beitrittsvertrag enthält nur drei Artikel, in denen insbesondere festgelegt wird, daß er der Ratifikation bedarf und daß die Ratifikationsurkunden bis spätestens zum 31. Dezember 1994 bei der Regierung der italienischen Republik hinterlegt werden sollen, damit der Vertrag am 1.1.1995 in Kraft treten kann.601

    246. Im übrigen verweist der Vertrag auf die Akte über die Bedingungen des Beitritts, die nach seinem Art. 1 Abs. 2 Bestandteil des Vertrages ist. In dieser Beitrittsakte602 sind in einem ersten Teil Grundsätze festgelegt. Demnach sind ab dem Beitritt die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich (Art. 2). In den folgenden Artikeln ist im einzelnen das Verbindlichwerden des bestehenden Unionsrechts und des "acquis communautaire" geregelt.603 Der zweite und dritte Teil der Akte betreffen Anpassungen der Verträge und der Rechtsakte der Organe und der vierte Teil besondere Übergangsmaßnahmen.

    247. Bestandteil der Beitrittsakte sind auch neun Protokolle.604 Protokoll Nr. 2 betrifft die Aland-Inseln und soll deren völkerrechtlichem Sonderstatus Rechnung tragen. Nach Art. 1 des Protokolls sind "in nicht diskriminierender Weise anzuwendende � Beschränkungen des Grunderwerbs und des Grundbesitzes, der Niederlassung und der Erbringung von Dienstleistungen" zugelassen. Art. 2 bezieht sich auf das Steuerrecht.605

    248. Protokoll Nr. 3 betrifft die Samen und dient der Berücksichtigung der Verpflichtungen und Zusagen Norwegens, Schwedens und Finnlands gegenüber den Samen im Rahmen des innerstaatlichen und internationalen Rechts.606 Das Protokoll billigt in Art. 1 den Samen ausschließliche Rechte zur Rentierhaltung innerhalb ihrer traditionellen Gebiete und ungeachtet der Bestimmungen des EG-Vertrages zu. Art. 2 sieht vor, daß das Protokoll erweitert werden kann, um einer weiteren Entfaltung ausschließlicher Rechte der Samen i.V.m. mit ihren traditionellen Lebensgrundlagen Rechnung zu tragen.

    249. Protokoll Nr. 4 betrifft den Erdölsektor in Norwegen, Protokoll Nr. 7 die Sonderstellung von Swalbart im Hinblick auf den Beitritt Norwegens zur Union.607

    250. Protokoll Nr. 9 hat den Straßen- und Schienenverkehr sowie den kombinierten Verkehr in Österreich zum Gegenstand.608

    251. Protokoll Nr. 8 regelt die Frage der Wahlen zum Europäischen Parlament in einigen neuen Mitgliedstaaten während der Interimszeit.609 Nach Art. 1 des Protokolls i.V.m. Art. 31 Abs. 3 der Beitrittsakte steht es jedem neuen Mitgliedstaat während der Zeit zwischen der Unterzeichnung der Beitrittsakte und ihrem Inkrafttreten für den jeweiligen Staat frei, Wahlen zum Europäischen Parlament durchzuführen. Dabei gelten nach Art. 2 die einschlägigen Bestimmungen der Verträge und Rechtsakte entsprechend. Nach Art. 3 wird das Ergebnis solchermaßen durchgeführter Wahlen aber erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem der Beitrittsvertrag in Kraft tritt.

    252. Von den neun abgegebenen gemeinsamen Erklärungen610 betrifft die erste die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Darin heißt es, daß die Union zur Kenntnis nimmt, daß die Beitrittsstaaten bestätigen,

    "daß sie die mit der Union und ihrem institutionellen Rahmen verbundenen Rechte und Pflichten, d.h. den sog. gemeinschaftlichen Besitzstand, wie er für die derzeitigen Mitgliedstaaten gilt, in vollem Umfang akzeptieren. Dies umfaßt insbesondere den Inhalt, die Grundsätze und die politischen Ziele der Verträge einschließlich des Vertrages über die Europäische Union."
    Im Hinblick auf die sich aus dem Vertrag über die Europäische Union ergebenden mitgliedstaatlichen Verpflichtungen zur Verwirklichung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union wird nach Nr. 2 der gemeinsamen Erklärung davon ausgegangen,
    "daß die rechtlichen Rahmenbedingungen in den beitretenden Ländern am Tag ihres Beitritts mit dem gemeinschaftlichen Besitzstand in Einklang stehen werden."611

    253. Die vierte gemeinsame Erklärung betrifft die Anwendung des Euratom-Vertrages und hat zum Inhalt, daß die Vertragsparteien anerkennen, daß die Vertragsparteien als Mitgliedstaaten des Euratom-Vertrages "die Entscheidung über die Erzeugung von Kernenergie entsprechend ihren eigenen politischen Ausrichtungen treffen." Weiterhin heißt es:

    "Was die Entsorgung beim Kernbrennstoffkreislauf betrifft, so ist jeder Mitgliedstaat für die Festlegung seiner eigenen Politik verantwortlich."612

    254. Die sechste gemeinsame Erklärung betrifft Normen im Bereich Umweltschutz, Gesundheitsschutz und Produktsicherheit. Darin wird die große Bedeutung der Förderung eines hohen Schutzniveaus unterstrichen. Weiterhin wird betont:

    "Die Vertragsparteien sind sich bewußt, daß die neuen Mitgliedstaaten großen Wert auf die Beibehaltung ihrer Normen legen, die sie insbesondere aufgrund ihrer besonderen geographischen und klimatischen Verhältnisse in bestimmten Bereichen eingeführt haben."613
    Die Bundesregierung begrüßte die Zustimmung des Europäischen Parlaments zu dem Beitritt sowie die Referenden in Österreich, Finnland und Schweden und bedauerte den negativen Ausgang des Referendums in Norwegen.614

    255. Am 29. Juni stimmte der Bundestag dem Vertragsgesetz über den Beitritt zu.615 Dem war eine Kontroverse über die Auslegung des Art. 23 des Grundgesetzes und die sich daraus ergebenden Beteiligungsrechte des Bundesrates vorausgegangen, die der Bundestag zum Anlaß nahm, seiner Zustimmung die Feststellung hinzuzufügen, daß die Ratifizierung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes erfolge.616

    256. Am 1. Juli 1994 übernahm Deutschland die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union.617 Für die Präsidentschaft legte die Bundesregierung folgende Ziele und Schwerpunkte fest:

    "� Erhaltung und Festigung von Frieden in Freiheit und Stabilität in ganz Europa durch Heranführung der Nachbarn in Mittel- und Osteuropa und die Herstellung besonders enger partnerschaftlicher Beziehungen zu Rußland, der Ukraine und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie unter besonderer Berücksichtigung der Nachbarregionen im Mittelmeerraum und im Nahen Osten,
    � Bekämpfung des internationalen Verbrechens, des Terrorismus und des Drogenhandels,
    � eine wirksame Asyl- und Zuwanderungspolitik in der Europäischen Union und
    � die konsequente Anwendung und Umsetzung der neuen Instrumente und Mechanismen des Vertrages über die Europäische Union in die Praxis zur Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit ihrer Institutionen und unter besonderer Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips."618

    257. Zu dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993619 nahm die Bundesjustizministerin ausführlich Stellung.620 Sie sah die deutsche Europapolitik durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Sie hob hervor, daß das Gericht mehrfach die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes unterstrichen habe, wie sie seit 1949 bestanden habe und sich jetzt aus Art. 23 ergebe. Sie forderte die deutsche Staatsrechtslehre auf, verstärkt über den Spielraum, den der neue Art. 23 des Grundgesetzes für eine Vertiefung der Gemeinschaft, insbesondere für Konzepte einer Unionsverfassung eröffnet habe, nachzudenken. Sie wies darauf hin, daß Art. 23 mit den Worten "zur Verwirklichung eines vereinten Europas ..." eingeleitet werde. Weiter führte sie aus, daß das Bundesverfassungsgericht von einem gegenwärtigen Zwischenzustand des "Staatenverbundes" gesprochen habe. Dazu führte sie aus:

    "Damit meint es präziser das Stadium der europäischen Integration, in dem die demokratische Legitimation der Union von den einzelnen Völkern der Mitgliedstaaten und damit vorrangig den nationalen Parlamenten ausgeht. Für diese Phase beschreibt es Grenzen der Integration, an die wir noch nicht stoßen. Damit läßt das Bundesverfassungsgericht für die fernere Zukunft, wenn die entsprechenden vorrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, Raum für eine alternative Konzeption, in der die demokratische Legitimation unmittelbar von einem Volk der Union ausgeht."621
    Weiter heißt es:
    "Der zweite Senat hat ausdrücklich festgehalten, daß sich die Frage, ob das Grundgesetz eine deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Bundesstaat erlaubt und ausschließt, nicht stellt. Zu den Möglichkeiten einer europäischen Staatswerdung hat Karlsruhe somit keine Aussagen getroffen."622
    Außerdem legte sie dar:
    "In Art. 23 Abs. 3 und im Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag sind neue Beteiligungsrechte für das Parlament festgeschrieben worden. Für die Praxis erscheint mir wichtig, daß Art. 45 GG die Einrichtung eines Unionsausschusses vorsieht, der ermächtigt werden kann, gegenüber der Bundesregierung die Beteiligungsrechte des Parlaments wahrzunehmen. ... Im übrigen wird es darauf ankommen, daß die Länder die Wahrnehmung ihrer Beteiligungsrechte so organisieren, daß die Bundesregierung nicht zu einem schwer beweglichen Großtanker wird, der nicht schnell genug manövrieren und nur hinter dem Geleitzug hertreiben kann. Die Länder dürfen über der Anhäufung von Rechten gegenüber dem Bund nicht die Wahrnehmung der deutschen Interessen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergessen. Ganz schlecht fände ich es, wenn selbst verursachte Schwerfälligkeit den europäischen Institutionen angelastet und in öffentliche Vorwürfe gegenüber Brüssel umgemünzt würde."623
    In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage erklärte die Bundesregierung im Hinblick auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, die Bundesregierung teile die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur "lebendigen Demokratie".624 Sie halte es mit dem Bundesverfassungsgericht für entscheidend, "daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt." Sie habe bereits bei den Verhandlungen über die einheitliche Europäische Akte und über den Unionsvertrag weiterreichende Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments gefordert, die jedoch von den Mitgliedstaaten nicht akzeptiert worden seien. Sie werde erneut auf der für 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz mit Nachdruck eine weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments anstreben. Ebenso habe sie sich für eine Verbesserung der Transparenz der Entscheidungsverfahren der Gemeinschaftsorgane und der jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen eingesetzt. Dementsprechend würden künftig Orientierungsdebatten des Rates der Europäischen Union über das Arbeitsprogramm einer neuen Präsidentschaft und anderer Ratsdebatten öffentlich übertragen sowie Abstimmungsprotokolle über die Entscheidungen im Rat veröffentlicht.625 Die Bundesregierung werde mit den Unionsorganen bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips eng zusammenarbeiten und damit der Aufforderung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden, "ihren Einfluß zugunsten einer strikten Handhabung des Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag geltend zu machen und damit die ihr durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG auferlegte Verfassungspflicht zu erfüllen."626
    Die Bundesregierung hob in ihrer Antwort auch hervor, daß sie nicht die Auffassung teile, den Leitsätzen des Urteils sei zu entnehmen, daß weder die EG jetzt noch die Europäische Union in der Zukunft über eine Steuerhoheit verfüge bzw. verfügen werde.627
    Zu den vom Bundesverfassungsgericht behandelten Fragen der Vereinbarkeit der im Vertrag über die Europäische Union vorgesehenen Regelungen zur Europäischen Währungsunion mit dem Grundgesetz führte die Bundesregierung aus, daß sie wie das Bundesverfassungsgericht der Auffassung sei, daß die Entwicklung der Währungsunion auch nach Eintritt in die dritte Stufe voraussehbar normiert und insoweit parlamentarisch verantwortbar sei. Die Bundesregierung nahm auch zu den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts Stellung, wonach der Vertrag Vorgaben enthalte, die das Stabilitätsziel zum Maßstab der Währungsunion machen, institutionelle Vorkehrungen zu seiner Verwirklichung enthalten und letztlich � als ultima ratio � bei Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen. Insoweit führte die Bundesregierung aus:
    "Nach Auffassung der Bundesregierung bedeutet dies, daß zunächst alle gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Verfahren auszuschöpfen und Vertragsverhandlungen zu führen sind und notfalls der Europäische Gerichtshof anzurufen ist."628

    258. Fragen der institutionellen Struktur der Union wurden im Berichtszeitraum von Bundestag und Bundesregierung im Anschluß an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und im Hinblick auf die Erweiterung der EU ausführlich erörtert. Dies geschah auch im Hinblick auf die für 1996 vorgesehene Revisionskonferenz. Die Justizministerin wies auf die notwendige Vergrößerung von Parlament, Rat, Kommission und Gerichtshof hin und führte aus, daß diese die Funktionsfähigkeit des Systems zweifelsohne auf eine harte Probe stelle. Deswegen müsse bei der Revisionskonferenz von 1996 auch über die Reform der Institutionen gesprochen werden.629
    Die Bundesregierung wies darauf hin, daß dazu eine bürgernahe Ausgestaltung der Union und die Stärkung der demokratischen Strukturen gehöre. Sie führte weiterhin aus, daß mehr Transparenz und konkrete Fortschritte bei der Verwirklichung des Europas der Bürger dazu beitragen sollen, daß die Bürger von den Vorteilen und der Unverzichtbarkeit der europäischen Einigung überzeugt werden und sich mit ihr identifizieren. Dazu sei auch eine Stärkung der demokratischen Legitimation der Union wichtig. In diesem Zusammenhang legte die Bundesregierung dar:

    "Die öffentliche Diskussion um den Vertrag über die Europäische Union hat Defizite in der Union und Kritik an den vorgegebenen Strukturen zutage gefördert. Es ist ein wesentliches Anliegen der deutschen Präsidentschaft, Ängste vor Demokratiedefizit, Zentralismus und Bürgerferne abzubauen. Die Akzeptanz der Union bei ihren Bürgerinnen und Bürgern muß verbessert werden. Mit dem Vertrag über die Europäische Union wurde eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Eine Maßnahme zu ihrer Ausgestaltung ist das Kommunalwahlrecht. Unter deutscher Präsidentschaft muß die Richtlinie über die Modalitäten des Kommunalwahlrechts für die Unionsbürger verabschiedet werden, damit das kommunale Wahlrecht zum 1.1.1996 in den Mitgliedstaaten eingeführt werden kann."630

    259. Auch die Bundesjustizministerin forderte eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Dafür sei mit dem Unionsvertrag und dem dort vorgesehenen Mitentscheidungsverfahren ein wichtiger Schritt getan worden. Gerade die Regierungszusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, wie sie in dem Vertrag angelegt sei, zeige aber, daß dies nicht genug sei. Art. K.6 sehe nämlich nur eine regelmäßige Unterrichtung über die durchgeführten Arbeiten und eine Anhörung zu den wichtigsten Aspekten der geplanten Tätigkeiten vor. Gerade wenn auf europäischer Ebene neue selbständige Einrichtungen wie z.B. "Europol" geschaffen würden, könne sich das Europäische Parlament aber nicht mit bloßen Informationsrechten begnügen. Die Bundesregierung habe sich bei den Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht für weitergehende Befugnisse des Europäischen Parlaments eingesetzt. Diese seien auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts entscheidend, damit die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden können. Es sei deshalb notwendig, bei der Revisionskonferenz im Jahre 1996 für substantielle Demokratisierungsfortschritte einzutreten. Dazu bemerkte sie:

    "Durch die Übertragung gesetzgeberischer Befugnisse von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft haben die nationalen Parlamente Entscheidungsmacht verloren, ohne daß diese auf Unionsebene in die Hand des Europäischen Parlaments überging. Durch eine Aufwertung des Europäischen Parlaments zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber müssen wir eine Reparlamentarisierung erreichen. Damit alle Bürger der Union die Entscheidungen des Parlaments voll für und gegen sich anerkennen, muß es aber repräsentativer werden. Wir werden daher die Diskussion um einen annähernd gleichen Erfolgswert der Stimmen jeder Nationalität zu führen haben."631
    Am 12. April 1994 legte die Bundesregierung einen Bericht zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments vor. Darin verwies die Bundesregierung auf die im Vertrag von Maastricht erweiterten Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments. Sie nannte in diesem Zusammenhang vor allem die Regelungen über das Verfahren der Mitentscheidung (Kodezision) und die Ausweitung der bestehenden Mitwirkungsverfahren auf weitere Bereiche, die nicht ständigen Untersuchungsausschüsse und die Einführung eines Bürgerbeauftragten (Ombudsmann). Diese Regelungen seien durch eine Reihe von interinstitutionellen Vereinbarungen konkretisiert worden, die in Luxemburg am 25. Oktober 1993 auf einer interinstitutionellen Konferenz ausgehandelt worden seien. Außerdem seien mit dem Unionsvertrag die Rechte des Europäischen Parlaments bei der Ernennung der Kommission erheblich ausgeweitet worden.632
    Im Hinblick auf die gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments verwies die Bundesregierung auf die interinstitutionelle Vereinbarung im Rahmen der Kodezision. Den Vorstellungen des Europäischen Parlaments sei mit der interinstitutionellen Vereinbarung zum Vermittlungsverfahren im Rahmen des Art. 189 b des EG-Vertrages in wesentlichen Punkten Rechnung getragen worden. Das Parlament stehe in diesem Verfahren gleichberechtigt neben dem Rat. Damit sei nach Ansicht der Bundesregierung eine geeignete operative Basis für die Arbeit des Vermittlungsausschusses geschaffen worden. Eine Ausweitung des Anwendungsbereiches der Kodezision sei ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung, das im Zusammenhang mit der Forderung nach stärkerer demokratischer Legitimität gemeinschaftlicher Vorhaben zu sehen sei. Es gelte, Erfahrungen mit der Anwendung des Vermittlungsverfahrens zu sammeln, bevor im Lichte dieser Erfahrungen auf der Regierungskonferenz 1996 die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Kodezision behandelt werde.633
    Im übrigen verwies die Bundesregierung auf den Petitionsausschuß des Europäischen Parlaments und auf die Institution des Bürgerbeauftragten. Weiterhin befaßt sich der Bericht mit den nicht ständigen Untersuchungsausschüssen nach Art. 138 c des EG-Vertrages. Der Bericht führt aus, daß die weiteren Einzelheiten der Ausübung des Untersuchungsrechts, insbesondere der Arbeitsweise nicht ständiger Untersuchungsausschüsse, auf der Grundlage einer interinstitutionellen Vereinbarung geregelt werden sollten. Dabei sei noch offen, inwieweit die Behörden der Mitgliedstaaten gegenüber den Untersuchungsausschüssen zur Vorlage von Dokumenten bzw. zur Auskunft verpflichtet sind. Es heißt dann:
    "Nach Auffassung der Bundesregierung könnte sich die Lösung dieser Frage an dem Modell des dem Deutschen Bundestag vorliegenden Entwurfs eines deutschen Gesetzes über Untersuchungsausschüsse orientieren."634
    Der Bundestag nahm den Bericht zustimmend zur Kenntnis und forderte die Bundesregierung auf, auf eine unverzügliche Verabschiedung der interinstitutionellen Vereinbarungen innerhalb der Europäischen Union zu drängen.635

    260. Im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz hob die Bundesjustizministerin hervor, daß es sich dabei um einen Rechtsgrundsatz handele. Es komme entscheidend darauf an, diesen Gesichtspunkt der Subsidiarität in den Prozeß der Rechtsetzung einzubringen. Bei der Durchsetzung des Prinzips hätten vielleicht die festgelegten verfahrensmäßigen Vorkehrungen den größten Erfolg, nach denen die Kommission künftig substantiiert begründen muß, daß ein Vorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sei. Ein großes Problem sei es, daß es unter den Mitgliedstaaten bei der Kommission und dem Europäischen Parlament kein einheitliches Verständnis von Subsidiarität gebe. Weiterhin führte sie aus:

    "Das Subsidiaritätsprinzip ist für mich nicht nur juristische Kompetenzausübungsgrenze, sondern zugleich politische Leitidee. In diesem Sinne hat sie insbesondere auch für künftige Kompetenzübertragungen Bedeutung."
    Die Bundesregierung hob hervor, daß das Subsidiaritätsprinzip ein wesentliches Element in der Fortentwicklung der weiteren europäischen Integration sei. Dazu heißt es:
    "Die Prüfung von EG-Vorhaben unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gem. Art. 3 b Abs. 2 und 3 EG-Vertrag bezieht sich nicht nur darauf, auf welcher Ebene � auf derjenigen der Mitgliedstaaten oder auf Unionsebene � Maßnahmen getroffen werden sollen, sondern auch auf die Frage, welche Rechtsform und Intensität Maßnahmen der Gemeinschaft haben sollen. Das Subsidiaritätsprinzip ist auch bei Durchführungsregelungen der Union zu berücksichtigen und nicht nur auf künftige Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, sondern auch auf das bestehende Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Die deutsche Präsidentschaft wird der Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften an das Subsidiaritätsprinzip besondere Aufmerksamkeit widmen und sich für eine rasche Prüfung der Vorschläge einsetzen, die die Kommission zur Umsetzung ihres Subsidiaritätsberichts vom November 1993 vorlegen wird."636
    Die Ministerin ging auch auf Urteile des Europäischen Gerichtshof ein, in denen er gegenüber seiner bisherigen Rechtsprechung zum Warenverkehr seine Kontrolle merklich zurückgenommen habe.637 Parallel dazu habe der Gerichtshof in seinem Urteil zur Tariffestsetzung nach dem deutschen Güterkraftverkehrsgesetz stärker als in der Vergangenheit den Staaten für ihre eigenen Vorschriften Gestaltungsspielraum zuerkannt. Sie bemerkte zu dieser Rechtsprechung:
    "Ich sehe diese Urteile nicht nur als eine Form von richterlicher Zurückhaltung, sondern zugleich als Ausdruck eines weiter gewachsenen Bewußtseins des Gerichtshofs von seiner Rolle als Verfassungsgericht der Gemeinschaft, das das institutionelle Gleichgewicht gerade auch im Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zu wahren hat."638
    Im Sinne einer Entlastung des Gerichtshof sei im Vorfeld der Revisionskonferenz von 1996 zu überlegen, ob nicht für bestimmte, in der Rechtsprechung bereits gefestigte, sehr technische Gebiete auch die Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen dem Gericht erster Instanz gegeben werden sollte, das dann jedoch kein "bloßes Gericht erster Instanz" mehr bliebe.

    261. Im Hinblick auf Grundrechte erklärte die Justizministerin:

    "Ihre volle Wahrung ist Voraussetzung für die deutsche Mitwirkung an der Verwirklichung eines vereinten Europas. Art. F.2 des Vertrages von Maastricht hat die Union erstmals vertraglich in allgemeiner Form auf die Grundrechte verpflichtet. Der materielle Schutz steht nun aufgrund der langjährigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs außer Zweifel. Für eine vollständige europäische Verfassung brauchen wir jedoch einen förmlichen Grundrechtskatalog. Im Interesse eines lückenlosen Schutzes der Menschenrechte ist im übrigen ein baldiger Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention für Menschenrechte wünschenswert, damit ein Betroffener auch vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg sein Recht suchen kann."639

    262. Im Hinblick auf das Vorhaben, für den Bereich der Europäischen Union einen gesonderten Menschenrechtskatalog zu schaffen, führte die Bundesregierung aus:

    "Ein speziell auf die Europäische Union zugeschnittener Grundrechtskatalog wäre ein bedeutsamer Schritt zur Vertiefung der Europäischen Einigung, dem die Bundesregierung positiv gegenübersteht. Ein solches Vorhaben könnte Gegenstand einer Fortentwicklung der Verträge sein, wie sie durch Art. N des Vertrages über die Europäische Union 1996 vorgesehen ist. Im Rahmen dieser Erörterung wäre dann auch die Ausgestaltung im Verhältnis zum Katalog der Europäischen Menschenrechtskonvention näher zu prüfen, wie sie vom Europäischen Parlament angeregt wird."640

    263. Die Bundesregierung erklärte auf Anfrage, daß sie bei Beratungen auf Gruppen- und Ratsebene eine positive Haltung zu einem Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gezeigt habe. Die Bundesregierung verwies jedoch auch darauf, daß zur Frage des Beitritts unterschiedliche Auffassungen in einer zu dieser Frage eingesetzten ad hoc-Gruppe des Rates geäußert worden seien. Vom Rat der Justiz- und Innenminister sei am 30. November 1993 beschlossen worden, zu den angeschnittenen Rechtsfragen ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs gem. Art. 228 Abs. 6 EG-Vertrag einzuholen; erst danach sollten die Diskussionen fortgeführt werden.641

    264. Im Hinblick auf einen Entwurf eines Entschließungspapiers des EG-Ministerrats, das den Umgang der Behörden mit "Verschlußsachen" regeln soll, erklärte die Bundesregierung auf Anfrage, daß dieses Vorhaben mit der Verwirklichung und Festigung des Grundsatzes der Transparenz beim Handeln europäischer Institutionen vereinbar sei und insbesondere nicht im Widerspruch zu der Erklärung der Schlußakte des EU-Vertrages zum Recht auf Zugang zu Informationen stehe. Die von der Europäischen Union erfaßten neuen Politikbereiche in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres beträfen Informationen und Kenntnisse, die als sicherheitsempfindlich zu gelten hätten und damit besonders schutzbedürftig seien. Das Vorhaben, eine Regelung für Verschlußsachen zu treffen, stehe im Einklang mit dem Verhaltenskodex für den Zugang der Öffentlichkeit zu Rats- und Kommissionsdokumenten vom 6. Dezember 1993 sowie mit dem Beschluß des Rates vom 20. Dezember 1993 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Ratsdokumenten.642

    265. Am 8. März 1994 hat der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das 3. Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes beschlossen.643 Damit wird nach dem neugefaßten § 6 Abs. 3 auch den "Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (Unionsbürger), die in der Bundesrepublik eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten" die Wahlberechtigung zuerkannt. Nach dem neu eingefügten § 6 b Abs. 3 genießen diese Unionsbürger auch das passive Wahlrecht. Am 1. Mai 1994 trat die Änderung des Direktwahlakts644 für Deutschland in Kraft.645 Am 12. Juni 1994 fanden Wahlen im Europäischen Parlament statt. Die Bundesregierung hat mit verschiedenen Maßnahmen Informationen über die Wahlen verbreitet mit dem Ziel, eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen.646


    600 Siehe BGBl. 1994 II, 2024.
    601 Art. 2 Abs. 1 und 2 des Vertrages, BGBl. 1994 II, 2028.
    602 BGBl. 1994 II, 2031.
    603 Siehe z.B. Art. 3: Übereinkommen und Instrumente in den Bereichen Justiz und Inneres, Art. 4 Abs. 1: Beschlüsse und Vereinbarungen der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Art. 4 Abs. 3: Erklärungen, Entschließungen oder sonstige Stellungnahmen des Europäischen Rates oder des Rates, Art. 5: Abkommen mit Drittstaaten.
    604 BGBl. 1994 II, 2293.
    605 BGBl. 1994 II, 2294.
    606 Erwägungsgrund 1 des Protokolls.
    607 BGBl. 1994 II, 2298.
    608 BGBl. 1994 II, 2301.
    609 BGBl. 1994 II, 2299.
    610 BGBl. 1994 II, 2309.
    611 BGBl. 1994 II, 2309.
    612 BGBl. 1994 II, 2310.
    613 Ibid.
    614 Bull. Nr. 98 vom 19.10.1994, 908 bzw. Nr. 109 vom 25.11.1994, 1000 und Nr. 111 vom 30.11.1994, 1020.
    615 BT-Drs. 12/7977; Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, BT-Drs. 12/8188.
    616 Siehe oben II., Ziff. 8.
    617 Siehe die Erklärungen des Außenministers, Bull. Nr. 63 vom 30.6.1994, 596; Bull. Nr. 75 vom 17.7.1994, 615; Bilanz des deutschen Ratsvorsitzes, Rede des Bundesaußenministers, Bull. Nr. 119 vom 20.12.1994, 1091 bzw. Bull. Nr. 122 vom 28.12.1994, 1131.
    618 Ziele und Schwerpunkte (Anm. 176).
    619 BVerfGE 89, 155.
    620 Bull. Nr. 13 vom 8.2.1994, 112.
    621 Ibid., 114.
    622 Ibid.
    623 Ibid., 115.
    624 BT-Drs. 12/6520, 2, siehe auch Woche im Bundestag 1/94 vom 19.1.1994, 82.
    625 BT-Drs. 12/6520, 3.
    626 Ibid., 5.
    627 Ibid.
    628 Ibid., 6.
    629 Bull. Nr. 13 vom 8.2.1994, 116.
    630 Ziele und Schwerpunkte (Anm. 176).
    631 Ibid., 115.
    632 BT-Drs. 12/7214, Woche im Bundestag 14/94 vom 6.7.1994, 56.
    633 Ibid.
    634 Ibid.
    635 Ibid. Siehe auch Woche im Bundestag 12/94 vom 22.6.1994, 100.
    636 Ziele und Schwerpunkte (Anm. 176).
    637 Bull. Nr. 133 vom 8.2.1994, 117.
    638 Ibid.
    639 Ibid., 116.
    640 Antwort auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 12/7785, 3.
    641 Siehe oben, unter IX. a., Ziff. 73.
    642 BT-Drs. 12/696, 3.
    643 BGBl. 1994 I, 419, 423.
    644 Beschluß 93/81/Euratom, EGKS, EWG � des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 1.2.1993 zur Änderung des dem Beschluß � 76/787/EGKS, EWG, Euratom � des Rates vom 20.9.1976 beigefügten Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments.
    645 Änderung des Direktwahlakts, BGBl. 1993 II, 1242, Inkrafttreten, BGBl. 1994 II, 619.
    646 Siehe Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 12/6986.