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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1994


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Peter-Tobias Stoll

XVI. Internationale Organisationen

b. Militärbündnisse

    294. Im Januar 1994 fand in Brüssel ein NATO-Gipfel statt, auf dem beschlossen wurde, eine Initiative für eine Partnerschaft für den Frieden einzuleiten.747 Diese Initiative richtet sich an die "demokratischen Staaten im Osten" bzw. an Staaten, die dem Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) bzw. der KSZE angehören. Die Partnerschaft soll eine wichtige Rolle im "evolutionären Prozeß der NATO-Erweiterung spielen."748 Die Initiative stützt sich auf eine entsprechende Einladung und ein Rahmendokument.749 In der Einladung sprechen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Nordatlantischen Allianz dafür aus, Sicherheit und Stabilität in ganz Europa zu stärken. Sie bekräftigen, daß die Allianz, wie in Art. 10 des Washingtoner Vertrages vorgesehen, für eine Mitgliedschaft anderer Europäischer Staaten offen bleibt, soweit sie in der Lage sind, die Grundsätze des Vertrages zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen. Die Partnerschaft gehe über Dialog und Kooperation hinaus und begründe eine wirkliche Partnerschaft. Sie diene dazu, neue Sicherheitsbeziehungen zwischen der Nordatlantischen Allianz und ihren Partnern zu knüpfen.750

    295. Grundlagen und Einzelheiten der Partnerschaft für den Frieden sind in einem Rahmendokument beschrieben, das von den Partnerstaaten unterzeichnet werden soll.751 Es geht von der gemeinsamen Überzeugung aus, daß Stabilität und Sicherheit im euro-atlantischen Gebiet nur durch Zusammenarbeit im gemeinsamen Handeln erreicht werden können:

    "Der Schutz und die Förderung der Grundfreiheiten und Menschenrechte und die Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden durch Demokratie sind gemeinsame Werte, die der Partnerschaft zugrunde liegen. Mit der Teilnahme an der Partnerschaft erinnern die Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Allianz und die anderen unterzeichnenden Staaten dieses Dokuments daran, daß sie der Bewahrung demokratischer Gesellschaften, ihrer Freiheit von Zwang und Einschüchterung und der Wahrung der Prinzipien des Völkerrechts verpflichtet sind. Sie bekräftigen, daß sie dafür eintreten, die Verpflichtungen der Charta der Vereinten Nationen und die Grundsätze der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach Treu und Glauben zu erfüllen ... ."
    Weiterhin bezieht sich das Rahmendokument auf die Schlußakte von Helsinki und alle nachfolgenden KSZE-Dokumente. Es sieht schließlich folgende Ziele vor:
    "a) Förderung von Transparenz nationaler Verteidigungsplanung und Haushaltsverfahren;
    b) Gewährleistung demokratischer Kontrolle über die Verteidigungskräfte;
    c) Aufrechterhaltung der Fähigkeit und Bereitschaft, zu Einsätzen unter der Autorität der VN und/oder Verantwortung der KSZE beizutragen, vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Erwägungen;
    d) Entwicklung kooperativer militärischer Beziehungen zur NATO mit dem Ziel gemeinsamer Planung, Ausbildung und Übungen, um ihre Fähigkeit für Aufgaben auf dem Gebiet der Friedenswahrung, Such- und Rettungsdienst, humanitäre Operationen und anderer eventuell noch zu vereinbarender Aufgaben zu stärken;
    e) auf längere Sicht Entwicklung von Streitkräften, die mit denen der Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Allianz besser gemeinsam operieren können."
    Das Rahmendokument enthält darüber hinaus Regelungen über die politische und militärische Zusammenarbeit.
    In Ziff. 8 wird versichert, daß die NATO Konsultationen "mit jedem aktiven Teilnehmer der Partnerschaft ... aufnehmen [wird], der eine direkte Bedrohung seiner territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit sieht."
    Im Berichtszeitraum schlossen sich mehr als zwanzig, überwiegend osteuropäische Staaten, aber auch zum Beispiel Schweden und Finnland, der Partnerschaft an.752

    296. Am 22. Juni 1994 unterzeichnete auch die Russische Föderation das Rahmendokument der "Partnerschaft für den Frieden". Dabei hieß es:

    "Die Allianz und Rußland sind übereinkommen, ein umfassendes individuelles Partnerschaftsprogramm zu entwickeln, das der Größe, der Bedeutung und den Fähigkeiten Rußlands entspricht."753
    Die NATO bekräftigte ihr Angebot, von Fall zu Fall in Übereinstimmung mit den eigenen Verfahren friedenswahrende und andere Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der KSZE zu unterstützen, u.a. auch dadurch, daß Ressourcen und Fachwissen der Allianz zur Verfügung gestellt werden. Es wurde hervorgehoben, daß die Teilnahme an solchen Operationen oder Aufträgen den Entscheidungen der Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit ihrer jeweiligen nationalen Verfassung vorbehalten bleibe.754

    297. Mehrfach nahm die NATO zu ihrem Verhältnis zur Westeuropäischen Union Stellung. So hieß es auf dem NATO-Gipfel im Januar 1994, daß die NATO die Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz durch die Westeuropäische Union unterstütze, die zur Zeit als die Verteidigungskomponente der Europäischen Union ausgebaut werde. Begrüßt wurde die enge und wachsende Zusammenarbeit zwischen NATO und WEU, die auf der Grundlage vereinbarter Prinzipien der Komplementarität und Transparenz erzielt worden sei. Es heißt weiter:

    "In künftigen Krisenlagen werden NATO und die WEU sich beraten, soweit erforderlich auch durch gemeinsame Ratstreffen, um zu klären, wie solche Krisenlagen anzugehen sind."755
    Außerdem wurde erklärt:
    "Wir sind daher bereit, auf der Grundlage von Konsultationen im Nordatlantik-Rat kollektive Ressourcen des Bündnisses für WEU-Operationen zur Verfügung zu stellen, die von den europäischen Bündnispartnern in der Verfolgung ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahrgenommen werden. Wir unterstützen die Entwicklung trennbarer, jedoch nicht getrennter Fähigkeiten, die den europäischen Bedürfnissen gerecht werden und zur Sicherheit der Allianz beitragen können."756
    Darüber hinaus begrüßte die NATO die Entscheidung des WEU-Rats, einen Assoziierungsstatus für die mitteleuropäischen Konsultationspartner der WEU zu schaffen.757

    298. Die NATO hob auch die Bedeutung der KSZE zur Förderung von Sicherheit und Menschenrechten hervor. Sie begrüßte die Entscheidungen des KSZE-Rates, die Rolle der KSZE in der Konfliktverhütung und Krisenbeherrschung operativer zu gestalten. Insbesondere bekräftigte die NATO ihre Bereitschaft, die Funktion der KSZE auch im Hinblick auf die Frühwarnung zu stärken. Weiterhin heißt es:

    "Wir bejahen die Arbeit, die im KSZE-Forum für Sicherheitskooperation geleistet wird und treten für weitere und rasche Fortschritte ein, besonders in bezug auf den Verhaltenskodex, die Harmonisierung, regionale Rüstungskontrolle, auch auf dem Balkan, die Nichtverbreitung und den weltweiten Austausch militärischer Informationen."758
    Weiter unterstrich die Ministertagung des Nordatlantik-Rates vom Dezember, daß der KSZE als regionaler Abmachung nach Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle zur Konfliktverhütung sowie Krisenbeherrschung und -beilegung zukomme. Gemäß Art. 52 der Charta sollen die KSZE-Teilnehmerstaaten zunächst jede Bemühung unternehmen, um örtliche Streitigkeiten durch die KSZE friedlich beizulegen, bevor sie sie an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen herantragen. Im Hinblick auf den bevorstehenden KSZE-Gipfel sprach sich die NATO für die Annahme substantieller Vereinbarungen, die im Forum für Sicherheitskooperation erreicht worden waren, aus. Dazu zähle der Verhaltenskodex in Sicherheitsangelegenheiten, die Vereinbarung über weltweiten Austausch militärischer Informationen, eine noch stärkere Konzentration auf Fragen der Nichtverbreitung, die Weiterentwicklung des Wiener Dokuments über vertrauensbildende Maßnahmen und u.a. auch die Weiterentwicklung der Fähigkeiten der KSZE zur Frühwarnung, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Friedenserhaltung.759

    299. Auf der Tagung des Ministerrats der WEU wurde der Beschluß der NATO begrüßt, wonach "kollektive Ressourcen und Fähigkeiten des Bündnisses für WEU-Operationen zur Verfügung gestellt werden können, um die WEU als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Instrument zur Stärkung des europäische Pfeilers der Allianz zu stärken."760 Weiter wurde erklärt:

    "Die Minister unterstrichen, wie wichtig eine Abstimmung mit dem Bündnis über die Umsetzung des Konzepts Alliierter Streitkräftekommandos und die Entwicklung trennbarer, jedoch nicht getrennter militärischer Fähigkeiten ist, um ggf. ihren effektiven Einsatz durch die WEU und in diesem Fall unter ihrem Kommando zu gewährleisten."
    Die WEU sei in vollem Umfang bereit, ihre Rolle in Übereinstimmung mit dem Vertrag über die Europäische Union sowie der Erklärung von Maastricht wahrzunehmen und Ersuchen der Europäischen Union hinsichtlich ihrer Beschlüsse und Maßnahmen, die sich auf die Verteidigung auswirken, zu entsprechen. In diesem Zusammenhang bekräftigte die WEU ihre Bereitschaft, im Rahmen der künftigen Verwaltung der Stadt Mostar durch die Europäische Union Unterstützung anzubieten.

    300. Im Hinblick auf die militärische Struktur begrüßten die Minister, daß gemeinsame Erklärungen über Bedingungen für den Einsatz der belgisch-deutsch-niederländisch-britischen multinationalen Division und des amphibischen Verbands des Vereinigten Königreichs und der Niederlande im Rahmen der WEU verabschiedet werden konnten. Die Entscheidung Luxemburgs, sich dem Eurokorps anzuschließen, wurde begrüßt. Ebenso billigten die Minister den WEU-Operationsplan "Combined Endeavour" für die Zusammenstellung eines WEU-Marineverbands. Sie begrüßten die im Rahmen der Durchführung der Sanktionen der Vereinten Nationen gegen Serbien und Montenegro ausgeführte gemeinsame Operation "Sharp Guard" der WEU und der NATO in der Adria sowie die Polizei- und Zolloperationen auf der Donau, die in enger Zusammenarbeit mit Bulgarien, Rumänien und Ungarn erfolgen.761

    301. Mit Gesetz vom 27. Juni 1994 stimmte der Bundestag dem am 20. November 1992 unterzeichneten Protokoll über den Beitritt der Griechischen Republik zur Westeuropäischen Union sowie dem am 20. November 1992 unterzeichneten Dokument zur assoziierten Mitgliedschaft der Republik Island, des Königreichs Norwegen und der Republik Türkei zu.762 Dabei wurde deutliche Kritik an der Haltung Griechenlands gegenüber Makedonien deutlich.763

    302. Außerdem verabschiedeten die Minister ein "Dokument über einen assoziierten Status in der WEU".764 Das Dokument bezieht sich auf einen assoziierten Status von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakischen Republik, der Tschechischen Republik und Ungarn in der WEU. In dem Dokument ist vorgesehen, daß die genannten Staaten unter bestimmten Bedingungen an den Tagungen des Rates teilnehmen können, daß sie über die Aktivitäten der Arbeitsgruppen des Rates unterrichtet und im Einzelfall zur Teilnahme eingeladen werden können sowie, daß sie sich Beschlüssen der Mitgliedstaaten anschließen können, die sich auf die in Abschnitt II Nr. 4 der Petersberg-Erklärung vorgesehenen Aufgaben, d.h. humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens beziehen können. Sie können außerdem Streitkräfte für spezifische Operationen anbieten. Soweit sie durch Bereitstellung von Streitkräften an solchen WEU-Operationen teilnehmen, sollen diese Staaten dieselben Pflichten wie die anderen Teilnehmer und das Recht haben, an den Kommandostrukturen und dem Entscheidungsprozeß des Rates beteiligt zu sein. In einer Folgeerklärung zu diesem Dokument ist die Vereinbarung des WEU-Ministerrates festgelegt, wonach die assoziierten Mitglieder in vollem Umfang berechtigt sind, der WEU zugeordnete militärische Einheiten zu stellen.


    747 Bull. Nr. 3 vom 17.1.1994, 17.
    748 Erklärung der Staats- und Regierungschefs, NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel, 10. und 11.1.1994, Bull. Nr. 3 vom 17.1.1994, 21.
    749 Siehe ibid., 23.
    750 Ibid.
    751 Ibid.
    752 Albanien, FAZ vom 24.2.1994, 4; Aserbaidschan, FAZ vom 5.5.1994, 7; Finnland, FAZ vom 10.5.1994, 4; Georgien, FAZ vom 24.3.1994, 4; Kasachstan, FAZ vom 28.5.1994, 6; Kirgistan, FAZ vom 3.6.1994, 6; Litauen, FAZ vom 28.1.1994, 2; Moldavien, FAZ vom 17.3.1994, 5; Polen, FAZ vom 29.1.1994, 5; Schweden, FAZ vom 10.5.1994, 4; Slowakei, FAZ vom 10.2.1994, 3; Slowenien, FAZ vom 31.3.1994, 4; Turkmenistan, FAZ vom 11.5.1994, 7; Ukraine, FAZ vom 8.2.1994, 2; Ungarn, FAZ vom 9.2.1994, 3; Weißrußland, FAZ vom 24.3.1994, 5; siehe auch: Bull. Nr. 58 vom 16.6.1994, 551.
    753 Zusammenfassung der Ergebnisse der Gespräche zwischen dem Nordatlantikrat und dem russischen Außenminister vom 22.6.1994, Bull. Nr. 61 vom 24.6.1994, 584, Ziff. 2; siehe auch FAZ vom 6.4.1994, 1 und vom 23.6.1994, 6.
    754 NATO-Gipfel in Brüssel, Januar 1994, Bull. Nr. 3 vom 17.1.1994, 20, Ziff. 7.
    755 Ibid., Ziff. 5.
    756 Ibid., Ziff. 6; siehe auch Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats vom 9.6.1994, Ziff. 21, Bull. Nr. 58 vom 16.6.1994, 546.
    757 Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats, ibid., Ziff. 22; siehe auch Erklärung der Ministertagung des Nordatlantischen Kooperationsrats vom 10.6.1994 in Istanbul, Bull. Nr. 58 vom 16.6.1994, 551, Ziff. 10, siehe auch unten, Ziff. 302.
    758 Erklärung der Ministertagung des Nordatlantischen Kooperationsrats, ibid., Ziff. 11.
    759 Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats vom Dezember 1994, Bull. Nr. 114 vom 9.12.1994, 1037.
    760 S.o. Ziff. 297.
    761 Kirchberg-Erklärung der Westeuropäischen Union, Tagung des Ministerrats der WEU am 9.5.1994, Bull. Nr. 46 vom 20.5.1994, 405.
    762 BGBl. 1994 II, 782; BT-Drs. 12/5439; Woche im Bundestag 9/94 vom 4.5.1994, 71.
    763 Siehe auch oben, Ziff. 12.
    764 Bull. Nr. 46 vom 20.5.1994, 408.