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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


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Rainer Grote

VIII. Ausländer

1. Ausländerrecht

    51. In ihrem Bericht über die Internationale Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung vom 5. bis 13. September 1994 in Kairo an den Deutschen Bundestag nahm die Bundesregierung grundsätzlich zu Fragen der Migrationspolitik Stellung. Dabei hob sie hervor, daß die aktuelle Migrationsproblematik sich von früheren Wanderungsbewegungen durch die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Migranten und ihr gleichzeitiges weltweites Auftreten unterscheide. Die neuen Migrationsströme könnten die Stabilität der Herkunfts- und Aufnahmeländer gefährden. Lediglich eine geregelte internationale Migration könne positive Auswirkungen sowohl für die Herkunfts- als auch für die Aufnahmeländer haben. Die Maßnahmen müßten sich darauf konzentrieren, den Bewohnern der Herkunftsländer durch entsprechende entwicklungspolitische Bemühungen eine Option zum Verbleiben im Heimatland zu bieten. Die Migrations- und Flüchtlingsproblematik könne jedoch nicht durch ein Land allein, sondern nur durch eine abgestimmte Politik möglichst vieler Staaten gelöst werden, die auf diese Herausforderung reagieren118. In ihrer Bewertung des auf der Kairoer Konferenz beschlossenen Aktionsprogramms führte die Bundesregierung weiter aus:

    "Die Bundesregierung begrüßt es, daß im Aktionsplan das Recht jeden Staates hervorgehoben wird, darüber zu bestimmen, wer � und vor allem unter welchen Voraussetzungen � in sein Hoheitsgebiet einreisen und sich dort aufhalten darf. [...]
    Nachhaltig unterstützt die Bundesregierung die Feststellung, daß die Herkunftsländer die Pflicht haben, die Rückkehr illegaler Zuwanderer und Asylsuchender, deren Asylantrag abgelehnt worden ist, zu akzeptieren. Aus diesem Grunde bemüht sich die Bundesregierung, mit den Hauptherkunftsstaaten der Asylbewerber entsprechende Rückübernahmeabkommen abzuschließen. Dabei ist sich die Bundesregierung ihrer Verpflichtung bewußt, Migranten und Flüchtlingen bei der Rückkehr in ihr Heimatland zu helfen."119
    In diesem Zusammenhang stellte die Bundesregierung neben der Rückführung der illegalen Zuwanderer die Integration der legal in der Bundesrepublik lebenden Zuwanderer und ihren wirksamen Schutz vor Fremdenfeindlichkeit und Rassismus als weiteres Ziel ihrer Migrationspolitik heraus:
    "Die Forderung, daß 'legitimierte Zuwanderer', also Personen, die alle Voraussetzungen für die Einreise in ein Land, Aufenthalt in diesem und ggf. für die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit erfüllen, in die Gesellschaft eingegliedert werden und ihnen die gleichen sozialen, wirtschaftlichen und gesetzlichen Rechte gewährt werden sollen, ist ebenfalls im Grundsatz zuzustimmen. Bund und Länder streben eine weitergehende Integration der sich hier rechtmäßig aufhaltenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen an. Daher wird auch der Aussage zugestimmt, daß die Familienzusammenführung ein wichtiger Faktor in bezug auf die internationale Migration ist. Das Ausländergesetz trägt diesem Grundsatz Rechnung.
    Die Bundesregierung sieht auch die dringende Notwendigkeit, Zuwanderer und ihre Familien vor Fremdenhaß und Rassismus zu schützen. Auch auf diesem Gebiet haben die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen. Hervorzuheben sind neben repressiven Maßnahmen wie konsequente Strafverfolgung rechtsextremistisch motivierter Straf-, insbesondere Gewalttäter, Verbote rechtsextremistischer Vereinigungen sowie Aufklärungskampagnen, mit denen insbesondere Jugendliche angesprochen werden sollen."120

    52. Am 6. Januar 1995 wurde in Vietnam die Gemeinsame Erklärung über Ausbau und Vertiefung der deutsch-vietnamesischen Beziehungen unterzeichnet. Die Gemeinsame Erklärung enthält u.a. eine Rahmenabsprache für die Rückführung derjenigen Vietnamesen, die sich in Deutschland ohne gültigen Aufenthaltstitel befinden. Danach sollen die in der Bundesrepublik lebenden, ausreisepflichtigen Vietnamesen nach Maßgabe bestimmter Jahresquoten (1995: 2.500 Personen; 1996: 5.000 Personen; 1997: 6.000 Personen; 1998: 6.500 Personen) nach Vietnam zurückgeführt werden121. Zu dem Hintergrund dieser Rahmenregelung führte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage aus:

    "Jeder Staat ist nach geltendem Völkerrecht verpflichtet, seine eigenen Staatsangehörigen, die sich ohne Aufenthaltstitel in einem anderen Staat aufhalten, zurückzunehmen. Vietnam gehörte hier bislang zu den Hauptproblemländern, das sich wie kaum ein anderes Land beharrlich weigerte, die in Deutschland ohne Aufenthaltstitel lebenden Staatsangehörigen wieder aufzunehmen. Auch Vietnamesen, die freiwillig nach Vietnam zurückkehren wollten, ist die Rückkehr in aller Regel nicht gestattet worden.
    Die Bundesregierung sieht in der Gemeinsamen Erklärung einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Lösung der Rückübernahmeproblematik."122

    53. Auf der Grundlage der in der Gemeinsamen Erklärung getroffenen Rahmenregelung wurden am 21. Juli 1995 in Berlin das deutsch-vietnamesische Rückübernahmeabkommen und das Protokoll zur Durchführung des Abkommens unterzeichnet123. In dem Abkommen verpflichtet sich die vietnamesische Seite, vietnamesische Staatsangehörige, die keinen gültigen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland haben, zurückzunehmen. Die Rückführung hängt dabei nicht von der Zustimmung der betroffenen Personen ab (Art. 1). Demgemäß werden die vietnamesischen Behörden vietnamesische Staatsangehörige, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und deren Rückführung die deutschen Behörden beabsichtigen, übernehmen (Art. 2). Nach Art. 3 des Abkommens sind Straftäter und Beschuldigte, insbesondere bei schweren Straftaten, möglichst rasch zurückzuführen. Die Rückführung der bereits ausreisepflichtigen Vietnamesen wird bis zum Ende des Jahres 2000 nach Maßgabe der bereits in der Gemeinsamen Erklärung fixierten Quoten durchgeführt. Das Abkommen regelt ferner die Beweismittel und Mittel der Glaubhaftmachung zum Nachweis der vietnamesischen Staatsangehörigkeit (Art. 5) und das Überprüfungsverfahren, das in Fällen Anwendung findet, in denen die Staatsangehörigkeit nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden kann (Art. 6). Nach dieser Regelung nimmt die vietnamesische Seite unverzüglich eine Anhörung der betreffenden Person vor. Bei der Feststellung der vietnamesischen Staatsangehörigkeit können insbesondere Zeugenaussagen, eigene Angaben der Betroffenen und ihre Sprache berücksichtigt werden. Auf der Grundlage dieser Angaben führen die vietnamesischen Behörden die Überprüfung durch und teilen den zuständigen Behörden das Ergebnis mit. Die Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland in Vietnam leisten ihnen bei der Überprüfung Hilfe.
    Die Einzelheiten des Rückübernahmeverfahrens sind in dem Durchführungsprotokoll geregelt.
    Fragen der praktischen Durchführung des Rückübernahmeabkommens waren Gegenstand eines begleitenden Notenwechsels zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam, der Bestandteil des Abkommens geworden ist. Danach besteht zwischen den Vertragsparteien Einvernehmen, daß vietnamesische Staatsangehörige, die nach der Unterzeichnung des Abkommens unerlaubt in die Bundesrepublik einreisen, nach den Bestimmungen des Abkommens nach Vietnam zurückgeführt werden. Die deutsche Seite wird sich bemühen, ausreisepflichtige vietnamesische Staatsangehörige, die aus den angrenzenden Staaten in die Bundesrepublik gekommen sind, und mit denen die Bundesrepublik ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen hat, in diese Staaten zurückzuführen, soweit sie zur Aufnahme verpflichtet sind. Die deutsche Seite versichert ferner, daß das Rückübernahmeabkommen eine Verlängerung oder eine Neuausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen für vietnamesische Staatsangehörige in Deutschland nicht beeinträchtigt, die die Voraussetzungen nach dem geltenden Ausländerrecht der Bundesrepublik erfüllen. Die vietnamesische Seite ihrerseits wird die Einreiseformalitäten der aus Deutschland freiwillig zurückkehrenden vietnamesischen Staatsangehörigen vorrangig überprüfen und erledigen. Hinsichtlich der finanziellen Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland für den Bereich der Rückführung wird auf das Schreiben des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an den Vizeaußenminister der Sozialistischen Republik Vietnam vom 29. Juni 1995 Bezug genommen. Danach besteht die feste Absicht, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Vietnam auf hohem Niveau fortzusetzen und für die Laufzeit des Rückübernahmeabkommens in diesem Rahmen auch weiterhin Reintegrationsmaßnahmen für Rückkehrer aus Deutschland zu fördern. Schließlich erklärt die vietnamesische Seite, daß sie auf eine Strafverfolgung von Rückkehrern wegen ihrer unerlaubten Ausreise und ihres unerlaubten Aufenthalts in Deutschland verzichtet.

    54. Die Rücknahmepflicht für eigene Staatsangehörige ohne gültigen Aufenthaltstitel fand auch in der deutsch-albanischen Erklärung über die Grundlagen der gegenseitigen Beziehungen ausdrücklich Erwähnung. Darin bekräftigen beide Seiten, daß sie eigene Staatsangehörige ohne Aufenthaltsrecht jederzeit zurücknehmen werden. Die weiteren Einzelheiten, darunter auch die Möglichkeit der Rückbeförderung von Staatsangehörigen dritter Staaten, sollen in einem künftigen bilateralen Rückübernahmeabkommen geklärt werden.124

    55. Zur Frage flankierender finanzieller Hilfsvereinbarungen zu Rücknahmeabkommen führte die Bundesregierung im Rahmen einer Kleinen Anfrage aus:

    "Der Abschluß der Rücknahmeabkommen über ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber und sonstige sich illegal im Bundesgebiet aufhaltende Ausländer, die die Bundesregierung mit anderen Staaten getroffen hat oder noch treffen wird, ist grundsätzlich nicht mit einer Kostenbelastung verbunden, da diese Abkommen lediglich den ohnehin schon bestehenden völkerrechtlichen Grundsatz konkretisieren, daß jeder Staat zur Rückübernahme der ausreisepflichtigen eigenen Staatsangehörigen ohne Gegenleistung verpflichtet ist.
    Eine Finanzhilfe ist den in den Fragen genannten Staaten daher nicht gewährt worden bzw. ist nicht beabsichtigt."125

    56. Zur Praxis des deutsch-kroatischen Rückübernahmeabkommens126 erklärte die Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage, die Innenministerkonferenz habe dem Wunsch der kroatischen Regierung, angesichts von rund 380.000 Flüchtlingen bzw. Vertriebenen im eigenen Land die Rückführung der sich noch in der Bundesrepublik aufhaltenden Bürgerkriegsflüchtlinge so lange aufzuschieben, bis weitere Unterkünfte für die Zurückkehrenden zur Verfügung stehen, Rechnung getragen und am 6. März beschlossen, die zweite Rückführungsphase flexibel nach Maßgabe der Einzelfälle durchzuführen und unter bestimmten Voraussetzungen um drei Monate zu strecken. Dies ermögliche es den Ländern noch besser als zuvor, in Fällen der Schutzbedürftigkeit von Personen, für die eine Rückkehr nach Kroatien eine besondere Härte bedeuten würde, wie z.B. serbo-kroatische Mischehen und alte oder kranke Menschen, eine unter humanitären Gesichtspunkten angemessene Entscheidung zu treffen. Zur Frage der Rückkehrverpflichtung von Personen aus biethnischen Familien oder mit serbischer Volkszugehörigkeit führte die Bundesregierung aus:

     "Das Rückübernahmeabkommen findet im übrigen auch auf diejenigen ehemaligen jugoslawischen Staatsangehörigen Anwendung, die vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz in der Republik Kroatien hatten.
    Für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge mit kroatischem Paß hatte das Bundesministerium des Innern bereits im Vorfeld der Innenministerkonferenz vom 6. März 1995 den Ländern vorgeschlagen, diesen Personenkreis erst zum Ende der gesamten zweiten Rückführungsphase zurückzuführen, so daß erforderlich werdende Maßnahmen erst ab September 1995 in Betracht kommen.
    Abgesehen davon hat Kroatien anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-kroatischen Rückübernahmeabkommens in einer Erklärung die Gleichbehandlung von rückgeführten Bürgerkriegsflüchtlingen ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit ausdrücklich zugesichert. Es besteht kein Anlaß, an dieser Zusicherung zu zweifeln."127

    57. Demgegenüber blieben im Berichtszeitraum die Bemühungen der Bundesregierung, eine Einigung mit der Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) über die Rücknahme der eigenen Staatsangehörigen herbeizuführen, ohne Erfolg. In seiner Stellungnahme vor dem Deutschen Bundestag führte der Vertreter der Bundesregierung dazu aus, die Bundesrepublik Jugoslawien verweigere in großem Umfang völkerrechtswidrig die Rücknahme ihrer Staatsangehörigen. Selbst diejenigen Jugoslawen, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehren wollten, hätten keine Gewähr, in Serbien überhaupt einreisen zu dürfen. Auch der Besitz eines gültigen jugoslawischen Passes allein biete keine solche Gewähr. Erst recht verweigere Serbien-Montenegro eigenen Staatsangehörigen, die abgeschoben werden sollen, die Einreise. Dies gelte auch für diejenigen, die sich angeblich oder tatsächlich dem Wehrdienst entzogen hätten. Die Bundesregierung könne dieses völkerrechtswidrige Verhalten auf keinen Fall hinnehmen, zumal es letztlich auch als zusätzlicher Anreiz zur illegalen Zuwanderung gewertet werden müsse, weil eben die illegalen Zuwanderer davon ausgehen könnten, daß sich ihre Rückführung mit hoher Wahrscheinlichkeit verzögern werde. Die Bundesregierung werde daher ihre Bemühungen um eine Lösung des Rücknahmeproblems fortsetzen.128

    58. Das Verfahren bei der Abschiebung von türkischen Staatsangehörigen, die sich an Straftaten im Zusammenhang mit der PKK und anderen Terrororganisationen beteiligt haben, war im Berichtszeitraum Gegenstand eines Notenwechsels zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Türkischen Republik. In einem Brief vom 10. März 1995, mit dessen Inhalt sich die Bundesregierung durch Schreiben des Bundesinnenministers vom selben Tage einverstanden erklärte, bestätigte das türkische Innenministerium die Bereitschaft der Türkei, türkische Staatsangehörige, die sich an Straftaten im Zusammenhang mit der PKK und anderen Terrororganisationen in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt haben, zurückzunehmen. Zum Verfahren der Abschiebung sieht das Schreiben vor, daß die deutschen Behörden den türkischen Behörden, soweit möglich und erforderlich, rechtzeitig vor einer Abschiebung nähere Angaben dazu übermitteln. Die türkischen Behörden teilen in diesem Falle durch Note offiziell mit, ob nach den ihnen vorliegenden Erkenntnissen der betreffenden Person in der Türkei wegen eines vor der Abschiebung begangenen Deliktes eine Strafverfolgung oder Strafvollstreckung droht und ob gegebenenfalls eine Strafverfolgung wegen eines Deliktes in Betracht kommt, für das nach türkischem Recht die Todesstrafe verhängt werden kann. Das türkische Innenministerium wies in der Note vom 10. März darauf hin, daß allen aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei abgeschobenen türkischen Staatsangehörigen in Übereinstimmung mit den Vorschriften der türkischen Verfassung und der von der Republik Türkei ratifizierten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten eine rechtsstaatliche Behandlung zuteil wird. Im einzelnen enthält das Schreiben die Zusicherung, daß die betreffende Person bei ihrer Ankunft in der Republik Türkei und bei ihrer Freilassung nach der Identitätsprüfung und Befragung durch die türkischen Grenz- und Sicherheitsbehörden jeweils durch einen Arzt untersucht wird, der für seinen Befund nur persönlich verantwortlich ist und dabei keinen Weisungen unterliegt. Ferner kann die betreffende Person von ihrer Ankunft in der Türkei an sowohl bei der Identitätsprüfung und Befragung durch die türkischen Grenzbehörden bei der Wiedereinreise als auch bei anschließenden Befragungen und Vernehmungen einen Anwalt ihrer Wahl hinzuziehen. Wird sie in Untersuchungs- oder Strafhaft genommen, kann sie dort jederzeit von dem Anwalt ihrer Wahl aufgesucht werden. Die Möglichkeit der Konsultierung eines Anwalts wird auch für den Fall zugesichert, daß es sich bei dem verfolgten Delikt um eine Straftat handelt, die in die Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte fällt, vorausgesetzt, daß die zuständigen Justizorgane dies erlauben. Der Anwalt des Beschuldigten kann jederzeit bei der Staatsanwaltschaft beantragen, daß sein Mandant von einem Arzt untersucht wird. Die diesbezügliche Anweisung der Staatsanwaltschaft wird umgehend durchgeführt. Schließlich erklärt sich die türkische Regierung bereit, auf Bitten der Bundesregierung Vorwürfen unzulässiger Übergriffe an den abgeschobenen Personen nachzugehen, sie aufzuklären und die Bundesregierung über das Ergebnis zu informieren. Zu diesem Zweck wird ein gemeinsamer ständiger Ausschuß hoher Beamter eingerichtet, der alle Fragen im Zusammenhang mit Abschiebungen und dem Abschiebeverfahren erörtert.
    In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zu dem deutsch-türkischen Notenwechsel erklärte die Bundesregierung, sie betrachte den Briefwechsel als rechtlich und politisch verbindlich. Im Unterschied zu anderen multilateralen, dem Schutz der Menschenrechte dienenden völkerrechtlichen Regelungen handele es sich um eine bilaterale Absprache, auf deren Grundlage die Türkei über die Ausübung ihrer Staatsgewalt gegenüber eigenen Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland Auskunft gebe. Der Unterschied zu innerstaatlichen einfachgesetzlichen Regelungen liege in der völkerrechtlichen Natur129. Weiter führte die Bundesregierung zur rechtlichen Qualifizierung des Notenwechsels aus:

    "Der Briefwechsel stellt ein völkerrechtlich verbindliches Dokument dar.
    Es handelt es sich um eine verbindliche Absprache in Form eines Briefwechsels. Unabhängig von ihrer Bezeichnung als Briefwechsel fällt sie unter die Definition eines Vertrages nach Artikel 2 Abs. 1a der Wiener Konvention über das Recht der Verträge.
    Die türkische Seite ist an die Zusicherungen aus dem Briefwechsel gebunden.
    Ebenso wie bei anderen Verletzungen von bilateralen Vereinbarungen existiert keine obligatorische Gerichtsbarkeit, die derartige Verletzungen verbindlich für beide Seiten feststellen könnte und Sanktionsmöglichkeiten hätte.
    Bei der Durchführung der deutsch-türkischen Absprache entstehende Probleme werden in dem gemeinsamen Ausschuß behandelt werden."130

    59. Die Bundesregierung versagte im Berichtszeitraum einer Verlängerung des im Dezember 1994 angeordneten Abschiebestopps für Angehörige der kurdischen Minderheit ihre Zustimmung. Zur Begründung führte sie aus, das Bundesministerium des Inneren habe einer Verlängerung des Abschiebestopps für Kurden aus der Türkei über den 15. März 1995 hinaus nicht zugestimmt, weil nach allen vorliegenden Erkenntnissen sich niemand in der Türkei einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sehe, nur weil er Kurde sei, und auch die Verurteilung mehrerer kurdischer Abgeordneter des türkischen Parlaments durch das türkische Staatssicherheitsgericht � die Auslöser des kurzfristigen Abschiebestopps gewesen war � die Lage der Kurden in der Türkei allgemein nicht verändert habe.131 Im Innenausschuß des Bundestages bestand dabei Einigkeit darüber, daß Angehörige der kurdischen Minderheit nicht abgeschoben werden, wenn im Einzelfall die konkrete Gefahr von Folterungen besteht. Einen generellen Abschiebestopp konnte die Situation in der Türkei nach Auffassung der Koalitionsfraktionen hingegen nicht rechtfertigen.132

    60. Wiederholt nahm die Bundesregierung während des Berichtszeitraums zu der Vereinbarkeit der Abschiebung minderjähriger Ausländer mit dem Haager Minderjährigenschutzabkommen und der UN-Kinderrechtskonvention Stellung133. Die beiden Abkommen stehen nach ihrer Auffassung einer Abschiebung illegal eingereister minderjähriger Ausländer nicht entgegen134. Die Asyl- und Ausländergesetzgebung liege außerhalb des Anwendungsbereichs des Haager Minderjährigenschutzabkommens. Die in dem Übereinkommen vorgesehenen Schutzmaßnahmen müßten unterbleiben, wenn aus ausländer- und asylrechtlichen Gründen der Aufenthalt eines minderjährigen unbegleiteten Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland sogleich zu beenden sei. Das Abkommen könne nicht so ausgelegt werden, daß eine von deutschen Behörden zu treffende Schutzmaßnahme für Kinder nur in der Gestattung der Einreise bestehen könne135. Hinsichtlich der UN-Kinderrechtskonvention wies die Bundesregierung auf den von ihr bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zu den das Ausländerrecht betreffenden Vorschriften erklärten Vorbehalt hin, wonach die Konvention innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung finde und sie nicht dahin ausgelegt werden könne, daß sie das Recht beschränke, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu erlassen.136 Nach dem geltenden Ausländerrecht stehe der Rückführung eines minderjährigen Ausländers auch die Tatsache nicht entgegen, daß der Heimatstaat des Ausländers dem Haager Minderjährigenschutzabkommen und der VN-Kinderkonvention nicht beigetreten sei bzw. diese Abkommen nicht anwende.137

    61. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage zur Situation der algerischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik nahm die Bundesregierung zur Praxis des algerischen Generalkonsulats Stellung, mittels sog. Identifikationsformulare die algerische Staatsangehörigkeit zur Rückführung vorgesehener Personen zu überprüfen. Nach dem Völkerrecht seien Staaten zur Rückübernahme eigener Staatsangehöriger verpflichtet. Es sei daher aus Sicht der Bundesregierung nicht zu beanstanden, daß das algerische Generalkonsulat über "Identifikationsformulare" oder, falls erforderlich, im Rahmen einer Zwangsvorführung sich die Überzeugung von der Identität und der Staatsangehörigkeit einer von der deutschen Seite zur Rückführung vorgesehenen Person verschaffe. Rechtsgrundlage für die Erhebung der zur Identitäts- und Staatsangehörigkeitsfeststellung erforderlichen Daten sowie eine etwaige Zwangsvorführung bei konsularischen Bediensteten des Heimatstaates zwecks Paßbeschaffung sei § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG bei Asylbewerbern und § 41 Abs. 1 und 4 AuslG bei sonstigen Ausländern. Das von der algerischen Seite entwickelte Formblatt sei von deutscher Seite vor seiner Verwendung für Befragungen algerischer Staatsangehöriger geprüft worden. Dabei sei mit dem Generalkonsulat abgestimmt worden, daß Fragen, die den Aufenthaltsstatus der Betroffenen berühren, nicht gestellt werden.138

    62. In ihrer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage erläuterte die Bundesregierung die Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Ausweisersatzbeschaffung für ausreisepflichtige Ausländer. Nach Art. 83 GG führten die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus. Die zuständigen Landesinnenbehörden würden sich an die Auslandsvertretungen des jeweiligen Heimatstaates wenden, falls eine Abschiebung wegen fehlender Ausweispapiere nicht möglich sei. Soweit der Ausländer nach dem AsylVfG in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen verpflichtet sei, liege die Zuständigkeit für die Beschaffung der Heimreisedokumente beim Bundesinnenministerium, das diese Aufgabe der Bundesgrenzschutzdirektion Koblenz übertragen habe. Werde dem Antrag auf Ausstellung von Heimreisepapieren nicht in angemessener Frist entsprochen, bemühe sich das Auswärtige Amt im Wege der Amtshilfe auf entsprechende Bitte der Innenbehörden um Beschleunigung:

     "Das Auswärtige Amt weist die Vertretung des Heimatlandes des Ausländers auf die völkerrechtliche Verpflichtung zur Rücknahme eigener Staatsangehöriger und auf die Bedeutung der Rücknahme für die bilateralen Beziehungen hin. Das geschieht auf angemessener Ebene.
    In der Regel haben die Bemühungen des Auswärtigen Amtes Erfolg. Allerdings berufen sich einige Herkunftsländer auf die Notwendigkeit einer eigenen Prüfung der Identität und Nationalität des Abzuschiebenden, was zu Verzögerungen führt. Mit Herkunftsländern, die etwa wegen der Zahl der Rückzuführenden und der damit verbundenen Belastungen und Schwierigkeiten der Wiedereingliederung grundsätzliche Bedenken erheben, sind Verhandlungen erforderlich, die die Bundesregierung mit der gebotenen Klarheit ihrer Position führt."139

    63. Am 28. September 1995 brachte die Bundesregierung den Entwurf des Zustimmungsgesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten im Bundestag ein140. Ziel des Übereinkommens ist es, auf europäischer Ebene Leitlinien für die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten in Form von verbindlichen Mindestbestimmungen zu harmonisieren und die Entschädigung von ausländischen Opfern durch den Tatortstaat sowie die wechselseitige Unterstützung der Vertragsstaaten in allen Angelegenheiten der Opferentschädigung zu fördern. In der Denkschrift zu dem Übereinkommen führte die Bundesregierung aus, die Ratifikation sei vor allem angesichts der seit 1990 zu verzeichnenden Zunahme von ausländerfeindlichen Aktivitäten bis hin zu Gewalttaten als ein Zeichen der Politik gegen Ausländerfeindlichkeit geboten. Darüber hinaus sei nur mit der Ratifikation des Übereinkommens durch möglichst viele Staaten die bezweckte Harmonisierung zwischen den zum Teil sehr unterschiedlichen Regelungen über die Entschädigung ausländischer Opfer von Gewalttaten zu verwirklichen. Dadurch würde die gegenwärtige unbefriedigende Situation hinsichtlich der Entschädigungsleistung für deutsche Staatsangehörige, die im Ausland Opfer von Gewalttaten werden, verbessert.141
    Im einzelnen sieht das Übereinkommen vor, daß der Staat zur Entschädigung beiträgt in Fällen, in denen eine Person eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten hat, die unmittelbar auf eine vorsätzliche Gewalttat zurückzuführen ist, oder infolge einer solchen Straftat verstorben ist. Voraussetzung ist, daß eine Entschädigung nicht in vollem Umfang aus anderen Quellen erhältlich ist (Art. 2). Gewalt meint dabei nicht nur physische Gewalt, sondern auch Fälle psychischer Gewalt, z.B. bei schwerwiegenden Drohungen142. Nach Art. 3 wird die Entschädigung von dem Staat gewährt, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen worden ist. Entschädigungsberechtigt sind zum einen die Staatsangehörigen von Vertragsstaaten des Übereinkommens, zum anderen Staatsangehörige aller Mitgliedstaaten des Europarates, die ihren ständigen Aufenthalt in dem Staat haben, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen worden ist. Diese Bestimmung bezweckt hauptsächlich den Schutz der Wanderarbeitnehmer, soweit der Heimatstaat noch nicht in der Lage ist, das Übereinkommen zu ratifizieren; darüber hinaus werden durch die Bestimmung aber auch selbständige Gewerbetreibende, Angehörige der freien Berufe sowie nicht berufstätige Personen, sofern sie nur die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates des Europarates haben und sich ständig im Tatortstaat aufhalten, den Angehörigen des Tatortstaates gleichgestellt.143 In Art. 4 werden diejenigen Schadensarten bezeichnet, die durch die Entschädigung mindestens gedeckt werden müssen: Verdienstausfall, Heilbehandlungs-, Krankenhaus- und Bestattungskosten sowie � bei der Entschädigung von Hinterbliebenen � Ausfall von Unterhalt. Weitergehende Regelungen, etwa über den Ersatz immaterieller Schäden, bleiben dem innerstaatlichen Recht der Vertragsstaaten überlassen. Die Entschädigungsregelung kann summenmäßig für jeden Entschädigungsteil oder die gesamte Entschädigung begrenzt werden. Zulässig ist ferner die Festlegung einer Schadensuntergrenze, unterhalb derer eine Entschädigung nicht in Betracht kommt (Art. 5). Das Übereinkommen sieht ferner in bestimmten Fällen die Möglichkeit einer Kürzung des Ersatzanspruchs vor (Art. 7, 8) und schreibt die Anrechnungspflichtigkeit der von dritter Seite gewährten Ersatzleistungen vor (Art. 9, 10 und 11). Der zweite Teil des Übereinkommens (Art. 12-20) befaßt sich mit der Kooperation der Vertragsstaaten in allen Angelegenheiten der Opferentschädigung. Danach bestimmt jeder Vertragsstaat eine zentrale Behörde, welche für die Entgegennahme und Bearbeitung der Rechtshilfeersuchen nach dem Übereinkommen zuständig ist (Art. 12).
    In der Denkschrift zu dem Übereinkommen wird hervorgehoben, daß das Opferentschädigungsgesetz insbesondere nach seinem 2. Änderungsgesetz144 die Forderungen des Übereinkommens sowohl hinsichtlich des Kreises der Berechtigten als auch hinsichtlich der zu erbringenden Ersatzleistungen im wesentlichen abdecke145. Das Ratifikationsgesetz ergänzt das OEG um eine Bestimmung, wonach auch Ausländer, die sich rechtmäßig für einen vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten in der Bundesrepublik aufhalten, eine Versorgung nach dem Gesetz erhalten. Voraussetzung ist, daß sie entweder mit einem Deutschen oder einem Ausländer, der die Staatsangehörigkeit eines EG-Mitgliedstaates besitzt oder auf den EG-Rechtsvorschriften, die eine Gleichbehandlung mit Deutschen erforderlich machen, Anwendung finden, verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind oder die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates besitzen, der keine Vorbehalte zum Übereinkommen erklärt hat.146
    Die Bundesregierung gab bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde die folgende Erklärung ab:

    "Die Bundesrepublik Deutschland versteht Artikel 3 des Übereinkommens dahin, daß es sich bei den Berechtigten allein um Personen handelt, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten.
    Ein 'ständiger Aufenthalt' nach Artikel 3 Buchstabe b des Übereinkommens wird als gegeben angesehen, wenn sich ein Ausländer nicht nur für einen vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten in der Bundesrepublik Deutschland aufhält.
    Entschädigungsleistungen wie Deutsche erhalten Staatsangehörige der Vertragsstaaten des Übereinkommens, wenn sie sich ununterbrochen drei Jahre und länger rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Die sich noch nicht drei Jahre oder kurzfristig in Deutschland aufhaltenden Staatsangehörigen der Vertragsstaaten haben nur Anspruch auf einkommensunabhängige Leistungen, die im wesentlichen den in Artikel 4 des Übereinkommens genannten Kriterien entsprechen. Anstelle des Verdienstausfalles wird ihnen eine Grundrente gezahlt, die nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit bemessen wird. Die Bundesrepublik Deutschland wird einem berechtigten Ausländer anstelle einer Entschädigung gemäß Artikel 4 des Übereinkommens unter bestimmten Voraussetzungen, die auch für andere Ausländer gelten, eine gesetzlich geregelte einmalige Abfindung zahlen, wenn dieser das Gebiet der Bundesrepublik verläßt.
    Die Bundesrepublik Deutschland benennt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung als zentrale Behörde gemäß Artikel 12 des Übereinkommens.
    Sie erklärt, daß diese Behörde der Entgegennahme eines Amtshilfeersuchens widersprechen kann, wenn es weder in deutscher Sprache abgefaßt noch von einer Übersetzung in deutscher Sprache begleitet ist."147

    64. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage nahm die Bundesregierung zu Vorfällen an der polnischen Grenze am 24. Juni 1995 Stellung, bei denen ca. 250 visafrei eingereiste polnische Staatsangehörige unter Beteiligung des Bundesgrenzschutzes vorübergehend festgehalten worden waren.148 Art und Umfang der Aktion hatten in Polen erhebliches Aufsehen erregt und das polnische Außenministerium zu einer Demarche bei dem Vertreter der Bundesrepublik in Warschau veranlaßt. Nach Auskunft der Bundesregierung handelte es sich bei den Festgehaltenen um polnische Bürger, die als Touristen in die Bundesrepublik eingereist waren, um für einen Zeitschriftenherausgeber im Raum Frankfurt/Oder als Zeitschriftenausträger tätig zu werden. Auf Anordnung des Direktors des Arbeitsamtes Frankfurt/Oder seien die betreffenden Personen überprüft worden, ob sie Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz zu Unrecht bezogen und ob sie mit einer gültigen Arbeitserlaubnis und nicht zu ungünstigeren Bedingungen als deutsche Arbeitnehmer beschäftigt wurden. Zu diesem Zweck sei die Werkshalle in Frankfurt/Oder-Markendorf, in der sich die polnischen Staatsangehörigen befanden, am 24. Juni 1995 ab 7.00 Uhr von insgesamt 25 Bediensteten des Bundesgrenzschutzes umstellt worden. Nach Überprüfung der Arbeitspapiere und Vernehmung durch die Mitarbeiter des Arbeitsamtes Frankfurt/Oder sei um 13.00 Uhr mit dem Rücktransport der überprüften Personen zur deutsch-polnischen Grenze begonnen worden. Insgesamt seien 201 polnische Staatsangehörige durch die Ausländerbehörde der Stadt Frankfurt/Oder unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ausgewiesen und abgeschoben worden. Während des gesamten Vorgangs seien die polnischen Staatsangehörigen weder bedroht noch tätlich angegriffen worden149. Die Bundesregierung teilte weiter mit, daß der deutsche Botschafter in dieser Angelegenheit in das polnische Außenministerium einbestellt worden sei. Allerdings habe die polnische Regierung nicht scharf protestiert, sondern gegenüber dem Botschafter in einem Gespräch ihre Besorgnis über den Vorfall zum Ausdruck gebracht. Bundesaußenminister Kinkel habe am Rande des Europäisches Rates am 27. Juni 1995 ein Gespräch mit seinem polnischen Kollegen Bartozewski geführt, bei dem der Vorfall angesprochen worden sei. In ihrer abschließenden Bewertung des Vorfalls verlieh die Bundesregierung ihrer Überzeugung Ausdruck, daß der erreichte Stand und die Weiterentwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen keinen Schaden nehmen würden, da die polnische Regierung deutlich zum Ausdruck gebracht habe, den Vorfall nicht mehr als politischen, sondern als konsularischen Vorgang zu werten. Während des Besuchs des Bundeskanzlers in Warschau vom 6. bis 8. Juli 1995 sei die polnische Regierung auf den Vorfall nicht mehr zurückgekommen.150

    65. Während des Berichtszeitraums wurden in einer Reihe von Bundesländern Maßnahmen zur innerstaatlichen Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über das Kommunalwahlrecht der Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten ergriffen. Durch entsprechende Änderungen im Landesverfassungsrecht151 und in den Kommunalwahlgesetzen152 sind den Unionsbürgern das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen in Gemeinden und Kreisen, darüber hinaus auch das Recht zur Teilnahme an kommunalen Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden153 eingeräumt worden. Allerdings sind die landesgesetzlichen Regelungen im Bereich des passiven Wahlrechts nicht einheitlich ausgefallen. Während die meisten der im Berichtszeitraum neu geschaffenen landesrechtlichen Regelungen Unionsbürgern das passive Wahlrecht auch für das Amt des Bürgermeisters zuerkennen154, behält das bayerische Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz die Wählbarkeit für das Amt des ersten Bürgermeisters und des Landrats Deutschen vor.155

    66. Die Initiative des Bundesrates zur Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehegatten in besonderen Härtefällen auch dann, wenn die gesetzlich geforderte Mindestbestandszeit der Ehe von drei Jahren nicht erfüllt ist, blieb im Berichtszeitraum ohne Erfolg.156 Zwar erkannte die Bundesregierung an, daß die bisherige Regelung in Einzelfällen, in denen bei einem Scheitern der Ehe die zeitlichen Voraussetzungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des ausländischen Ehegatten noch nicht erfüllt sind, zu unbefriedigenden Ergebnissen führen kann, verwies jedoch insoweit auf die von ihr angestrebte Novellierung des Ausländerrechts.157

    67. Ebenfalls ohne Erfolg blieb ein Vorstoß des Bundesrates158 und der SPD-Fraktion159, Ausländern nach acht Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen, sofern sie eine Aufenthaltsgestattung nach dem AsylVfG oder eine Duldung besitzen oder Vertriebenenbewerber sind und eine Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts nachweisen können. Zur Begründung ihrer ablehnenden Haltung führte die Bundesregierung aus, dem geltenden Ausländerrecht liege die zutreffende gesetzliche Wertung zugrunde, daß Voraufenthaltszeiten aufgrund einer Aufenthaltsgestattung nach dem AsylVfG oder einer Duldung grundsätzlich nicht in einen Daueraufenthalt münden sollten, wenn Asyl nicht gewährt werde.160


    118 BT-Drs. 13/2520, 30 f.
    119 Ibid., 32.
    120 Ibid., 32 f.
    121 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 13/857, 13.
    122 Ibid., 2; ferner Antwort der Bundesregierung auf eine Schriftliche Anfrage, BT-Drs. 13/471, 2.
    123 Das Abkommen und das zugehörige Protokoll sind am 21.9.1995 in Kraft getreten, vgl. Bekanntmachung vom 6.9.1995, BGBl. 1995 II, 743.
    124 Punkt 10 der Gemeinsamen Erklärung vom 28.2.1995, Bull. Nr. 17 vom 8.3.1995, 141.
    125 BT-Drs. 13/1047, 14.
    126 Dazu bereits Stoll (Anm. 10), Ziff. 55.
    127 BT-Drs. 13/1999, 22.
    128 Erklärung von Staatssekretär Lintner in der Bundestagssitzung vom 8.3.1995, BT-PlPr., 23. Sitzung, 1613.
    129 BT-Drs. 13/1434, 7.
    130 Ibid., 19.
    131 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, BT-Drs. 13/1344, 1.
    132 Woche im Bundestag 11/95 vom 8.6.1995, 7.
    133 Antwort der Bundesregierung auf mehrere Kleine Anfragen, BT-Drs. 13/1657 und 13/1873.
    134 BT-Drs. 13/1657, 2.
    135 BT-Drs. 13/1873, 2 f.
    136 Ibid., 3.
    137 Ibid., 5.
    138 BT-Drs. 13/1632, 5 f.
    139 BT-Drs. 13/386, 1.
    140 Das Gesetz ist am 17.7.1996 ergangen, BGBl. 1996 II, 1120. Das Übereinkommen ist für die Bundesrepublik am 1.3.1997 in Kraft getreten, BGBl. 1997 II, 740.
    141 BT-Drs. 13/2477, 13 f.
    142 Denkschrift zu dem Europäischen Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten, BT-Drs. 13/2477, 14.
    143 Ibid., 15.
    144 Dazu Walter (Anm. 10), Ziff. 55.
    145 Ibid., 13.
    146 BGBl. 1996 II, 1120.
    147 BGBl. 1997 II, 740.
    148 BT-Drs. 13/2018. Ferner Woche im Bundestag 13/95 vom 5.7.1995, 7, und 14/95 vom 6.9.1995, 12.
    149 Ibid., 4.
    150 Ibid., 4 f., 7.
    151 Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 15.2.1995, BWGBl. 1995, 269; Verfassung von Berlin vom 23.11.1995, GVBl. 1995, 779; Dreiunddreißigstes Landesgesetz zur Änderung der Verfassung für Rheinland-Pfalz (Änderung des Artikels 50) vom 12.10.1995, GVBl. Rhld.-Pf. 1995, 405.
    152 Baden-Württemberg: Gesetz über die Teilnahme von Unionsbürgern an kommunalen Wahlen und Abstimmungen vom 13.11.1995, BWGBl. 1995, 761; Bayern: Gesetz über die Wahl der Gemeinderäte, der Bürgermeister, der Kreistage und Landräte (Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz � GLKrWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27.8.1995, GVBl. Bayern 1995, 590; Berlin: Fünftes Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 20.6.1995, GVBl. Berlin 1995, 375 (Wahlberechtigung und Wählbarkeit zu den Bezirksverordnetenversammlungen); Hessen: Gesetz zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger vom 12.9.1995, GVBl. Hessen 1995, 462; Niedersachsen: Gesetz zur Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Herabsetzung der Altersgrenze für das aktive Wahlrecht bei Kommunalwahlen vom 20.11.1995, Nds. GVBl. 1995, 432; Saarland: Gesetz Nr. 1357 zur Änderung des Kommunalwahlrechts vom 27.9.1995, ABl. Saar 1995, 990; Sachsen-Anhalt: Gesetz über das Kommunalwahlrecht für nichtdeutsche Unionsbürger vom 6.11.1995, GVBl. LSA 1995, 314.
    153 So ausdrücklich Art. 72 Abs. 1 Landesverfassung BW. In den übrigen Ländern ergibt sich eine vergleichbare Rechtslage aus den Regelungen der Gemeindeordnung bzw. der Landkreisordnung, wonach Einwohner der Gemeinde bzw. des Kreises nicht nur Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 Grundgesetz, sondern auch Staatsangehörige eines der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland sind, so z.B. Art. 1 Nr. 1, 2 Nr. 1 des hess. Gesetzes zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger; Art. 1 Nr. 1, 2 Nr. 1 des Gesetzes über das Kommunalwahlrecht für nichtdeutsche Unionsbürger LSA.
    154 § 46 Abs. 1 Gemeindeordnung BW; § 54 Abs. 1 Kommunalselbstverwaltungsgesetz Saarl.; § 59 Abs. 1 Gemeindeordnung; § 48 Abs. 1 Landkreisordnung LSA.
    155 Art. 36 Abs. 1 bayer. GLKrWG.
    156 BT-Drs. 13/191. Für eine weitergehende Reform des Ehegatten-Aufenthaltsrechts setzten sich im Berichtszeitraum Gesetzentwürfe der Fraktionen von SPD (BT-Drs. 13/767), PDS (BT-Drs. 13/1104) und Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 13/1194) ein.
    157 Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 13/191, 5.
    158 BT-Drs. 13/1188.
    159 BT-Drs. 13/809.
    160 Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 13/1188, 5 (Anlage 2).