Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland 1995

Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


Inhalt | Zurück | Vor

Rainer Grote

VIII. Ausländer

3. Flüchtlingsrecht

    76. Keinen Erfolg hatten im Berichtszeitraum Bemühungen, den Status von Bürgerkriegsflüchtlingen in Deutschland zu klären. Der durch das Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften vom 30. Juni 1993178 neu eingefügte § 32a AuslG sieht für Bund und Länder die Möglichkeit vor, sich einvernehmlich darüber zu verständigen, Ausländern aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten vorübergehend Schutz in der Bundesrepublik zu gewähren; die oberste Landesbehörde ordnet dann an, daß den betroffenen Ausländern zur vorübergehenden Aufnahme eine Aufenthaltsbefugnis erteilt wird.179 Eine Vereinbarung nach § 32a AuslG ist bislang nicht zustandegekommen, weil Bund und Länder sich nicht über die Kostentragung einigen konnten. Ein Vorstoß des Bundesrates, die Vorschrift dahin gehend zu ändern, daß immer dann, wenn eine Vereinbarung nach § 32a Abs. 1 AuslG getroffen wird, der Bund die Hälfte der Kosten der Aufnahme trägt, scheiterte im Berichtszeitraum an der ablehnenden Haltung der Bundesregierung.180

    77. Die Bundesregierung nahm im Berichtszeitraum allgemein zu den Voraussetzungen für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina Stellung. Voraussetzung für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen sei ein einvernehmlicher Beschluß von Bund und Ländern. Die nach wie vor geltenden Aufnahmevoraussetzungen seien von der Innenministerkonferenz am 22. Mai beschlossen worden. Danach würden außer Verwundeten und Kranken, deren medizinische Betreuung vor Ort nicht möglich sei, und außerhalb von Kontingenten, die gesondert von Bund und Ländern vereinbart würden, Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, wenn sich Verwandte oder Bekannte, Kirchen oder Wohlfahrtsverbände verpflichteten, für Lebensunterhalt und Unterkunft zu sorgen. Mit dem Visumsverfahren stehe ein formelles Aufnahmeverfahren auch für Bürgerkriegsflüchtlinge zur Verfügung. In diesem Verfahren werde geprüft, ob die von Bund und Ländern beschlossenen Aufnahmevoraussetzungen im Einzelfall vorlägen. Damit werde dem begünstigten Personenkreis eine legale Zuflucht in das Bundesgebiet ermöglicht. Wer illegal ohne Visum einreise, erhalte im Bundesgebiet keine Aufenthaltsgenehmigung. Soweit eine Zurückschiebung in den Staat, aus dem der Ausländer eingereist sei, nicht möglich sei, werde aufgrund des von Bund und Ländern einvernehmlich beschlossenen Abschiebestopps nach § 54 des Ausländergesetzes für bosnische Kriegsflüchtlinge eine Duldung erteilt.181

    78. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage äußerte sich die Bundesregierung zu den Vergabekriterien für die Aufnahme in das humanitäre Sonderkontingent für Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina. Das Kontingent habe sich zunächst auf 1.000 Aufnahmeplätze für bosnische Exinternierte beschränkt, deren Freilassung an die Bedingung geknüpft war, daß sie von Drittländern aufgenommen wurden. Da das Kontingent sehr schnell ausgeschöpft gewesen sei, seien zusätzlich 6.000 Aufnahmeplätze bereitgestellt worden, um weiteren Exinternierten eine vorübergehende Aufnahme zu ermöglichen. Durch die Kontingentaufstockung sei auch die Zulassung des Familiennachzugs zu bereits aufgenommenen Exinternierten möglich geworden. In der Folge sei das Kontingent für traumatisierte Opfer und deren Angehörige sowie für enge Familienangehörige (Ehegatten und minderjährige ledige Kinder) von Bürgerkriegsflüchtlingen geöffnet worden, die im Rahmen früherer Kontingente in Deutschland Aufnahme gefunden hatten, wenn die Angehörigen sich noch im Krisengebiet aufhielten. Im Juni 1995 hätten sich Bund und Länder zudem darauf verständigt, bis zu 120 Aufnahmeplätze des Kontingents Kranken und Verletzten zur Verfügung zu stellen, deren ausreichende medizinische Versorgung vor Ort nicht möglich sei und für die kein anderes aufnahmebereites westliches Land gefunden werde. Die Aufnahme von Exinternierten und traumatisierten Opfern sei im wesentlichen abgeschlossen. Aufnahmeersuchen werde jedoch auch weiterhin entsprochen, wenn den betroffenen Personen unmittelbar Gefahr für Leib oder Leben drohe. Die allgemein schwierigen Lebensbedingungen in Bosnien-Herzegowina seien für sich allein kein Aufnahmekriterium, weil davon nahezu die gesamte Bevölkerung betroffen sei. Dagegen seien Anträgen Dritter auf Aufnahme von Personen, die schwerste körperliche Mißhandlungen und Vergewaltigungen über sich ergehen lassen mußten, von ihren Familien getrennt und/oder verstoßen wurden und auf sich allein gestellt in einer ihnen feindlich gesinnten Umgebung keine Möglichkeit einer Lebensplanung bzw. keine Überlebenschance hatten, in allen Fällen entsprochen worden.182

    79. Die Bundesregierung nahm auf Anfrage ferner zu der Problematik der Wiedereinreise von minderjährigen Bürgerkriegsflüchtlingen nach Klassenfahrten in ein Land der Europäischen Union Stellung. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin, daß die vom Europäischen Rat am 30. November 1994 verabschiedete gemeinsame Maßnahme über Reiseerleichterungen für Schüler von Drittstaaten mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat183 nur denjenigen Schülern die visafreie Einreise in einen anderen Mitgliedstaat ermögliche, deren "gesetzmäßiger Wohnsitz" innerhalb der Gemeinschaft liege. Über einen "gesetzmäßigen Wohnsitz" innerhalb der Europäischen Union verfüge aber nur derjenige Drittausländer, der einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus besitze. Die Duldung sei demgegenüber kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich die Aussetzung der Abschiebung. Der einzige gesetzmäßige Weg, einem im Bundesgebiet geduldeten Schüler die Wiedereinreise ins Bundesgebiet zu ermöglichen, bestehe in der kurzfristigen Erteilung einer auf die Dauer der geplanten Auslandsklassenfahrt befristeten Aufenthaltsbefugnis.184

    80. In seiner Erklärung vor dem Deutschen Bundestag zur Friedensvereinbarung für Bosnien führte Bundesaußenminister Kinkel am 30. November 1995 zur Frage der Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen nach Bosnien-Herzegowina aus:

    "Die Parteien sind verpflichtet, die Voraussetzungen für eine baldige und sichere Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge zu schaffen. Deutschland hat mit der Aufnahme von über 400.000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien einen herausragenden Beitrag geleistet. Die UNO-Hochkommissarin für Flüchtlingsfragen, Ogata, hat ein Konzept für die Rückführung vorgelegt. Wir werden mit ihr zusammenarbeiten, weil das gerade für uns besonders wichtig ist.
    Eine schnelle Rückführung ist im Interesse der Betroffenen, ist im Interesse unserer Bürger wie auch im Interesse des Wiederaufbaus der Region. Aber natürlich werden wir niemanden vor die Tür setzen, bevor die Verhältnisse vor Ort geklärt sind."185
    Am 5. Dezember 1995 nahm der Deutsche Bundestag einen interfraktionellen Entschließungsantrag zur Lage der Menschen in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien und die Bedingungen für die rasche Hilfe beim Wiederaufbau nach dem Friedensschluß an186. Darin wurde betont, daß die nun beginnende Umsetzung der Friedensvereinbarung vom Grundprinzip der staatlichen Verantwortung für sämtliche Bürger der jeweiligen Staaten getragen werden müsse. Die Verantwortung der Regierungen beziehe sich vor allem auf die unzähligen Opfer massenhafter Flucht und gewalttätiger Vertreibung. Die geflohenen und vertriebenen Menschen blieben Bürger ihrer Länder mit allen Rechten und Pflichten. Zu diesen Rechten gehöre die prinzipielle Möglichkeit zur Rückkehr für alle, die dies wollen. Weiter heißt es in der Entschließung:
    "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, rechtzeitig geeignete Rückkehrprogramme für die in Deutschland lebenden Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien zu entwickeln. Damit soll die Rückkehrwilligkeit gefördert und die Reintegration in den Heimatländern der Flüchtlinge ermöglicht oder erleichtert werden."187


    178 BGBl. 1993 I, 1062.
    179 Dazu Walter (Anm. 10), Ziff. 70.
    180 BT-Drs. 13/190.
    181 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 13/2508, 1 f.
    182 BT-Drs. 13/2202, 2 f.
    183 ABl. Nr. L 327 vom 19.12.1994, 1.
    184 BT-Drs. 13/2190, 3 f.
    185 Bull. Nr. 100 vom 4.12.1995, 974.
    186 BT-PlPr., 76. Sitzung, 6670.
    187 BT-Drs. 13 (2978) neu, 1 f., 5.