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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


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Rainer Grote

I. Völkerrechtsquellen, Grundlagen der völkerrechtlichen Beziehungen

    1. In seiner Rede vor der 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen wies Bundesaußenminister Kinkel auf die besondere Bedeutung der Achtung der Menschenrechte als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens der Völker hin:

    "Die universelle Erklärung der Menschenrechte steht mit gutem Grund am Anfang der Arbeit der Vereinten Nationen. Diese sind mehr als eine bloße Ansammlung souveräner Staaten � sie basieren auf der gemeinsamen Überzeugung von der Würde und dem Wert des Menschen. Und diese Überzeugung muß im Mittelpunkt aller Politik bleiben!"1
    Besondere Bedeutung komme in diesem Zusammenhang einem wirksamen Minderheitenschutz zu:
    "Vor allem muß der Minderheitenschutz gestärkt werden. 'Ethnische Säuberung' – das ist nicht der Weg zu einem friedlichen Zusammenleben – weder in Europa, noch sonstwo."2

    2. Der enge Zusammenhang zwischen Friedenssicherung, Menschenrechtsschutz und Demokratie wurde von dem Vertreter Spaniens für die Europäische Union im 3. Ausschuß der Generalversammlung herausgestellt:3

    "The interrelated character of democracy, development and human rights has been recognized by all states. We all agree on the need for integration of efforts in these areas. We also agree on the impact of those three elements on peace and security. Democracy and human rights have to be an integral part of efforts aimed at the creation of an environment for the achievement of development and in the context of prevention strategies and peace-building."4
    Im Plenum der Generalversammlung betonte der spanische Vertreter für die Europäische Union und eine Reihe weiterer europäischer Staaten (Bulgarien, Zypern, Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien und die Slowakische Republik) die Bedeutung der Schaffung demokratischer Strukturen als Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung der betroffenen Länder:
    "Democracy .... provides the only long-term basis for managing competing social interests in a way that minimizes the risks of internal conflicts. In addition, inasmuch as enhancing governance and management practices is an essential condition for the success of any strategy for development, advancing the cause of political participation has a great impact on all aspects of development efforts. Democracy itself is an important measure of development. Democracy, development and respect for human rights and fundamental freedoms are interdependent and mutually reinforcing."5

    3. Im Jahr 1995 waren Fragen der Nichteinmischung und Souveränität wiederholt Gegenstand von Stellungnahmen der Bundesregierung. In der Regierungserklärung zur Lage in Tschetschenien bekräftigte Bundesaußenminister Kinkel das Recht der Russischen Föderation zur Verteidigung ihrer territorialen Integrität:

    "Die Sezessionsbestrebungen Tschetscheniens sind von keinem Staat der Welt anerkannt worden, und das Recht Rußlands auf Wahrung seiner territorialen Integrität ist international unstreitig ... . Wir ermutigen als Deutsche nicht zur Sezession, und wir erteilen einem anderen Staat auch keine Ratschläge, auf Teile seines Staatsgebiets zu verzichten".6
    Die Bundesregierung machte jedoch zugleich deutlich, daß die Verteidigung der territorialen Integrität nicht von der Beachtung eingegangener Verpflichtungen, wie sie sich für Rußland insbesondere aus den OSZE-Vereinbarungen ergäben, entbinden könne:
    "Die Gewährleistung der Einhaltung der OSZE-Verpflichtungen ist Sache aller Teilnehmerstaaten. Niemand kann sich hier auf den Vorbehalt der Nichteinmischung berufen. Daß es sich hierbei � wie übrigens von allen unseren Partnern anerkannt � um einen Konflikt innerhalb der Russischen Föderation handelt, heißt nicht, daß wir eine für ganz Europa bedrohliche Entwicklung einfach treiben lassen und der Verletzung von Menschenrechten zusehen können."7
    In einer Rede zu den Perspektiven einer dauerhaften Friedensordnung in Europa hob der deutsche Außenminister die Einschränkungen, die sich für die staatliche Souveränität aus der Geltung regional und universell anerkannter Menschenrechte ergeben, noch deutlicher hervor:
    "Die OSZE schafft nicht nur Regeln für den Umgang von Staaten miteinander, sie setzt auch Standards für das Verhalten eines Staates gegenüber seinen Bürgern. Rußland hat in Tschetschenien Menschenrechte und Völkerrecht verletzt und auch gegen Prinzipien der OSZE verstoßen. Wer heute glaubt, innere Probleme mit dem massiven Einsatz militärischer Gewalt lösen zu können, irrt sich. Menschenrechte sind heute keine 'innere Angelegenheit' mehr!"8
    In demselben Sinne führte der deutsche Vertreter auf dem Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen aus:
    "Die Staaten organisieren ihre inneren Angelegenheiten souverän. In Sachen Menschenrechte gilt dieses Prinzip nicht. Die elementaren Menschenrechte gelten weltweit. Es gibt nirgendwo und unter keinen Bedingungen eine Rechtfertigung für Folter oder Hungertod."9
    Wie schon in den Vorjahren10, so stellte auch 1995 der Vertreter Spaniens für die Europäische Union im Hinblick auf die mit der Verabschiedung des "Cuban Liberty and Democracy Solidarity Act of 1995" durch den amerikanischen Kongreß erfolgte Verschärfung des Wirtschafts- und Finanzboykotts der USA gegen Kuba im Plenum der Generalversammlung der Vereinten Nationen klar, daß die extraterritoriale Anwendung US-amerikanischen Rechts nach Auffassung der Mitgliedstaaten der Union gegen den Grundsatz der Staatensouveränität verstoße:
    "The opposition of the European Union to the extra-territorial application of restrictive national legislation is well-known [...] We believe that such measures violate the general principles of international law and the sovereignty of independent states. The European Union therefore views in a negative light the approval by both Houses of the U.S. Congress of their respective versions of the so-called 'Cuban Liberty and Democracy Solidarity Act of 1995', and reiterates its opposition to the adoption of any measure with extraterritorial application or which is in conflict with international rules, including those of the World Trade Organization (WTO)."11

    4. Mehrfach nahm die Bundesregierung im Berichtszeitraum zum Selbstbestimmungsrecht der Völker Stellung. So wies sie in ihrer Stellungnahme im Rahmen der Tibetanhörung des Deutschen Bundestages am 19. Juni 1995 darauf hin, daß sie den tibetischen Anspruch auf Autonomie, insbesondere im kulturellen und religiösen Bereich, als adäquaten Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des tibetischen Volkes unterstütze, damit aber keine Anerkennung eines Rechts Tibets auf Lösung aus dem chinesischen Staatsverband verbunden sei. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zu ihrer Haltung zum "Kurdischen Exilparlament" führte die Bundesregierung aus:

    "Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß das Recht auf Selbstbestimmung untrennbar mit der uneingeschränkten Ausübung der Menschenrechte zusammenhängt. Die Bundesregierung hat sich stets für die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte insbesondere auch für die Kurden in der genannten Region eingesetzt. Ein Recht auf Gründung eines unabhängigen Staates läßt sich allerdings nach ganz überwiegender Auffassung der Staatengemeinschaft aus dem Selbstbestimmungsrecht nicht ableiten."12
    Die Bedeutung eines demokratischen Staatsaufbaus und eines wirksamen Minderheitenschutzes für die Lösung möglicher Konflikte zwischen dem Selbstbestimmungsrecht einerseits und dem Anspruch der souveränen Staaten auf Wahrung ihrer territorialen Integrität andererseits hob der Vertreter Spaniens für die Europäische Union im 3. Ausschuß der Generalversammlung hervor:
    "The exercise of the right of self-determination is intrinsically linked to the enjoyment of other human rights, notably the right to freedom of expression and freedom of peaceful assembly and association ... . In this context, we recall that democratic and representative political structures as well as the respect for human rights, including a special attention to the rights of persons belonging to minorities, can be of paramount importance to ward off any potential conflict between the right of self-determination and the territorial integrity of sovereign and independent states".13

    5. Im Hinblick auf den internationalen Terrorismus befürwortete der spanische Vertreter im 6. Ausschuß der Generalversammlung im Namen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Koordinierung der einzelstaatlichen Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung, betonte aber zugleich die Notwendigkeit, bei der Umsetzung dieser Bestrebungen die einschlägigen Regeln des Völkerrechts und die grundlegenden Menschenrechte zu wahren. Darüber hinaus sprach sich die Europäische Union gegen die Erstreckung der Geltung von Menschenrechtsverträgen auf Einzelpersonen oder Untergrundbewegungen aus:

    "The European Union continues to maintain the firm position that coordination of States� efforts against international terrorism is necessary to combat it effectively. Furthermore, the fight against terrorism should be carried out in conformity with the relevant provisions of international law and with full respect for human rights and fundamental freedoms.
    Furthermore, given that States have legal responsibility for the protection of human rights, the European Union is of the opinion that the violation of international instruments on the protection of human rights cannot be ascribed to illegal groups or to individuals".14

    6. Im Berichtszeitraum setzte sich die Bundesregierung weiterhin nachdrücklich für die Schaffung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung von Kriegsverbrechen ein. In seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen führte der Bundesaußenminister dazu aus:

    "Wer foltert, wer die Menschenrechte mit Füßen tritt, darf nicht ruhig schlafen können! [...] Kriegsverbrecher müssen wissen, daß sie international strafrechtlich verfolgt werden. Deshalb tritt Deutschland nachdrücklich für die Errichtung eines Ständigen Internationalen Strafgerichthofes ein."15
    Der Vertreter Spaniens wies im Namen der Europäischen Union darauf hin, daß die Arbeit der ad-hoc-Tribunale, wie sie zur Verfolgung von Kriegsverbrechen in Ruanda und dem früheren Jugoslawien eingesetzt worden seien, auf die Dauer nicht ausreiche, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts wirksam zu begegnen:
    "The establishment of the international tribunals on former Yugoslavia and Rwanda is a cornerstone of efforts to fight impunity of crimes against humanity and serious violations of human rights and international humanitarian law. However, ad hoc tribunals cannot be the answer in every case for crimes that affront the conscience of humankind. A permanent International Criminal Court should be established to respond to atrocities that are perpetrated across the world and to take care of the concerns that have led to the establishment of the ad hoc tribunals and at the same time draw on the experience of those tribunals."16

    7. Im Rahmen der Aussprache über den Tätigkeitsbericht der ILC im 6. Ausschuß der UN-Generalversammlung begrüßte der deutsche Vertreter die Entscheidung der ILC, das Verbrechen der Aggression in den von ihr vorgelegten Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind aufzunehmen, wies jedoch zugleich auf die mit der präzisen rechtlichen Definition dieses Straftatbestandes verbundenen Schwierigkeiten hin:

    "My delegation would like to express its appreciation of the efforts undertaken by the Special Rapporteur to give the concept of agression a structure and a definition that is practical in the context of criminal law. We also believe that the crime of agression must form an integral part of the Draft Code. It seems obvious that agression constitutes a crime of such gravity that it would threaten to victimize mankind as a whole.
    At the same time, it seems to be a particularly elusive task to define agression in terms precise enough to establish individual responsibility and to provide for safeguards against arbitrary application. The new text of article 15, paragraph 2 of the Draft Code defines agression as 'the use of armed force by a State against the sovereignty, territorial integrity or political independence of another State, or in any other manner inconsistent with the Charter of the United Nations.' The last part of this definition reflects established language that has often been used by the United Nations. However, for the specific purposes of criminal law, it appears to be too vague and ambiguous.
    Although we are aware of the difficulties that lie in the task of defining agression for the purposes of international criminal law, we strongly feel that additional efforts are needed in order to define those elements of fact and personal behaviour that, in their combination, constitute the possibly most serious crime against the peace and security of mankind. It seems clear that any qualification of individual behaviour as a crime of agression has to be preceded by a determination that a State has performed an agression. Such a determination necessarily involves far-reaching implications for international peace and security. Given the 'primary responsibility for the maintenance of international peace and security' conferred to the Security Council by Article 24 of the Charter, the question arises whether the fact of an agression by a State can be determined without engaging the responsibility of the Security Council. This question apparently was already briefly discussed in the Commission. It may need further examination."17


    1 Bull. Nr.76 vom 4.10.1995, 751.
    2 Ibid.
    3 Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen hat 1995 eine Sammlung der Redebeiträge der Vertreter Deutschlands in der Generalversammlung der Vereinten Nationen und ihren Unterorganen unter dem Titel "Position of Germany 1995" herausgegeben. Dabei wurden die Äußerungen im Plenum und in den Ausschüssen jeweils getrennt paginiert. Die Angabe der Seitenzahlen in den nachfolgenden Anmerkungen erfolgt daher stets unter Bezugnahme auf den Ausschuß oder das Plenum, in dem die Stellungnahme abgegeben wurde. Im zweiten Halbjahr 1995 hatte Spanien die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union inne. In dieser Funktion äußerte sich der spanische Vertreter in der Generalversammlung und ihren Ausschüssen im Namen der Europäischen Union zu einer Vielzahl von Fragen. Da diese Stellungnahmen auch den Standpunkt der Bundesrepublik Deutschland zu den angesprochenen Themen wiedergeben und aus diesem Grund in die Sammlung "Position of Germany 1995" Eingang gefunden haben, werden sie nachfolgend ebenfalls umfassend berücksichtigt.
    4 Position of Germany (Anm. 3), 3. Ausschuß, 82.
    5 Position of Germany (Anm. 3), Plenum, 64.
    6 Bull. Nr. 5 vom 23.1.1995, 33 f.
    7 Ibid., 34.
    8 Rede des Bundesaußenministers auf der Tagung für europäische Sicherheitspolitik am 5.2.1995, Bull. Nr. 12 vom 16.2.1995, 97.
    9 Ansprache des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Blüm vom 6.3.1995, Bull. Nr. 22 vom 21.3.1995, 178.
    10 Vgl. dazu Tobias Stoll, VRPr. 1994, ZaöRV 56 (1996), 998�1203, Ziff. 2; Christian Walter, VRPr. 1993, ZaöRV 55 (1995), 1095-1245, Ziff. 3.
    11 Position of Germany (Anm. 3), Plenum, 46 f.
    12 BT-Drs. 13/1646, 4.
    13 Position of Germany (Anm. 3), 3. Ausschuß, 5. Siehe auch Walter (Anm. 10), Ziff. 4; Stoll (Anm. 10), Ziff. 83.
    14 Position of Germany (Anm. 3), 6. Ausschuß, 40 f.
    15 Bull. Nr. 76 vom 4.10.1995, 751.
    16 Position of Germany (Anm. 3), 3. Ausschuß, 60.
    17 Position of Germany (Anm. 3), 6. Ausschuß, 7 f.