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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


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Rainer Grote

III. Staaten und Regierungen

    12. Im Rahmen der Tibetanhörung des Deutschen Bundestages am 19. Juni 1995 nahm das Auswärtige Amt für die Bundesregierung zum völkerrechtlichen Status Tibets Stellung:

    "Die Bundesregierung achtet den Dalai Lama als Oberhaupt des lamaistischen Buddhismus. Seinen Anspruch, eine tibetische Exilregierung zu führen, erkennt die Bundesregierung in Übereinstimmung mit der gesamten Staatengemeinschaft nicht an.
    In Übereinstimmung mit der gesamten Staatengemeinschaft, einschließlich des Nachbarlandes Indien, betrachtet die Bundesregierung Tibet als Teil des chinesischen Staatsverbandes. Seit der Unterstellung Tibets unter die Oberhoheit der Manzhu-Kaiser 1720 hat China an seinen Ansprüchen auf Tibet kontinuierlich festgehalten, obwohl es aufgrund der wechselhaften inneren und äußeren Entwicklungen in den Jahren 1911-1950 die eigenen Hoheitsansprüche nicht immer im gleichen Maße durchzusetzen vermochte. Umgekehrt hat Tibet auch in Zeiten der Lockerung des chinesischen Zugriffes allenfalls eine kurzfristige de-facto-Unabhängigkeit genossen. Selbst wenn Tibet die Voraussetzungen eines unabhängigen Staates vorübergehend erfüllt haben sollte, was aus völkerrechtlicher Sicht weder eindeutig zu belegen noch zu widerlegen ist, bleibt festzuhalten, daß Tibet, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Mongolei), jedenfalls die völkerrechtliche Anerkennung als Staat durch die Staatengemeinschaft versagt blieb."

    13. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage erläuterte die Bundesregierung ihre ablehnende Haltung zu einer Zusammenarbeit mit dem im April 1995 in Den Haag konstituierten "kurdischen Exilparlament":

    "Einem derartigen Parlament kann kein Status in völkerrechtlichem Sinne zukommen. Einen kurdischen Staat, als dessen parlamentarische Vertretung ein Exilparlament auftreten könnte, gibt es nicht. [...]
    Die Bundesregierung respektiert die völkerrechtlich garantierte Souveränität und territoriale Integrität der Türkei. Aktivitäten eines 'kurdischen Exilparlaments' sind damit unvereinbar. Eine Zusammenarbeit mit einem kurdischen Exilparlament ist ausgeschlossen."28

    14. Die Bundesregierung hielt auch im Berichtszeitraum an ihrer Politik der Nichtanerkennung der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) fest. Anläßlich einer Aktuellen Stunde im Bundestag über die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern aus dem ehemaligen Jugoslawien führte der Vertreter der Bundesregierung aus, der Grund für diese Haltung liege darin, daß Ex-Jugoslawien seinerseits Bosnien-Herzegowina und Kroatien nicht anerkannt habe, die Nichtanerkennung daher auch den Schutz dieser beiden Staaten vor möglichen Agressivitäten Ex-Jugoslawiens bezwecke29. Zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union forderte die Bundesregierung daher im Berichtszeitraum die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangenen Staaten wiederholt zur gegenseitigen Anerkennung als ersten Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Friedenslösung auf30.
    Im Zusammenhang mit den Gesprächen mit der Regierung in Belgrad über die Rücknahme in Deutschland lebender jugoslawischer Staatsangehöriger ohne Aufenthaltsberechtigung erklärte die Bundesregierung im Bundestag, die Tatsache, daß solche Gespräche überhaupt geführt würden, lasse nicht den Schluß auf eine Anerkennung der Bundesrepublik Jugoslawien zu. Solange die Europäische Union die Bundesrepublik Jugoslawien völkerrechtlich nicht anerkannt habe, stelle sich nicht die Frage, ob und gegebenenfalls welche völkerrechtlichen Verträge mit Jugoslawien geschlossen werden sollen31:

    "Obwohl die sog. Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) völkerrechtlich nicht anerkannt ist, haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus pragmatischen Gründen dort ihre akkreditierten Vertreter beibehalten. Um einen darüber hinausgehenden Eindruck völkerrechtlicher Anerkennung zu vermeiden, lehnt es die Bundesregierung derzeit ab, mit der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) über den Abschluß eines völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommens zu verhandeln. Die gegenwärtigen Gespräche betreffen die Praxis der Rückübernahme und sind nach Auffassung der Bundesregierung nicht geeignet, einen darüber hinausgehenden Eindruck zu erwecken".32

    15. Im Berichtszeitraum nahm die Europäische Union im Namen ihrer Mitgliedstaaten wiederholt zum Friedensprozeß im Nahen Osten Stellung. Mit Erklärung vom 15. Mai 1995 wandte sich die Europäische Union gegen die Verletzung des Status quo in der Stadt Jerusalem durch die Enteignung von Land zum Zwecke des Ausbaus israelischer Siedlungen:

    "Die Europäische Union erinnert an die von Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation eingegangene Verpflichtung, die Grundsatzerklärung vom 13. September 1993 zu respektieren und die Verhandlungen fortzuführen. Die Europäische Union äußert ihre tiefe Besorgnis über den Beschluß der israelischen Behörden, die Enteignung von 53 Hektar Land in Ost-Jerusalem zu genehmigen, die zugunsten der Siedlungen Ramot und Gilo für den Bau neuer Häuser genutzt werden sollen.
    Die Europäische Union vertritt die Auffassung, daß diese gegen den Geist der Grundsatzerklärung und die Aufrechterhaltung des status quo in der Stadt Jerusalem verstoßende Maßnahme den Friedensprozeß gefährden könnte.
    In der Überzeugung, daß eine völlige Einstellung der Arbeiten in Verbindung mit den Siedlungen für Fortschritte im Friedensprozeß unverzichtbar ist, fordert die Europäische Union die israelischen Behörden auf, ihre Absicht aufzugeben, die Enteignung der besagten 53 Hektar Land in Ost-Jerusalem zu genehmigen".33
    Für die Europäische Union begrüßte der spanische Vertreter im 3. Ausschuß der Generalversammlung der Vereinigten Nationen die Unterzeichnung des Interimsabkommens zwischen Israel und der PLO am 24. September 1995:
    "The European Union expresses its deepest satisfaction at the signing of the Interim Agreement between Israel and the PLO. This paves the way for the second phase of Palestinian autonomy as envisaged in the Declaration on Principles. In applauding the political courage shown by both parties, we urge Isrealis and Palestinians to continue working with the same determination to implement the provisions of the agreement and to refrain from any action on the ground that might affect the status quo which must prevail until the conclusion of the ongoing negotiations, in particular on issues related to settlements, the international status of Jerusalem and the refugees".34
    Im Plenum setzte sich die Europäische Union für eine umfassende Nahost-Friedenslösung ein, die auch die volle Wiederherstellung der Souveränität, Unabhängigkeit, territorialen Integrität und nationalen Einheit des Libanon einschließt35. Darüber hinaus bekräftigte sie ihre Auffassung von der Rechtswidrigkeit der israelischen Besetzung der Golan-Höhen:
    "The European Union furthermore reiterates its well-known position that the Israeli occupation of the Syrian Golan and the extension of Israeli law, jurisdiction and administration to this territory are illegal. It is our view that a solution has to be found between the parties in accordance with international law and taking into account the legitimate concerns of both sides."36

    16. Im Hinblick auf die Lage im früheren Jugoslawien unterstrich die Europäische Union ihr Eintreten für eine Gesamtlösung des Konflikts, welche die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit aller Staaten innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen sowie die Achtung der Menschenrechte garantiert37. Daher sprach sie ihr Bedauern über die von den kroatischen Stellen in Ostslawonien durchgeführten militärischen Operationen zur Rückeroberung der von kroatischer Seite beanspruchten Gebiete aus38. Entschieden wandte sich die Europäische Union gegen Bestrebungen zu einem Zusammenschluß der selbstproklamierten Serbischen "Republiken" Krajina und Bosnien-Herzegowina:

    "Die Europäische Union hat die Absicht der beiden 'Parlamente' in Knin und Pale zur Kenntnis genommen, die selbstproklamierten Serbischen 'Republiken' Krajina und Bosnien-Herzegowina zusammenzuschließen.
    Sie möchte daran erinnern, daß eine solche Entscheidung, sollte sie getroffen werden, im Gegensatz zu dem insbesondere durch die Resolutionen 981 und 990 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. März bzw. 27. April 1995 vorgegebenen Rahmen stünde und warnt vor der Gefahr einer militärischen Eskalation.
    Die Europäische Union betont, daß sie an der territorialen Unversehrtheit Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas und der Achtung ihrer internationalen Grenzen festhält; sie ist der Auffassung, daß eine solche Entscheidung null und nichtig wäre."39
    In der Erklärung der Bundesregierung zur Friedensvereinbarung für Bosnien (Dayton-Abkommen)40 führte Bundesaußenminister Kinkel am 30. November 1995 vor dem Deutschen Bundestag aus, das Abkommen entspreche der von Deutschland und Frankreich entscheidend mitformulierten Position der Europäischen Union:
    "Bosnien-Herzegowina bleibt als Völkerrechtssubjekt in seinen 1992 international anerkannten Grenzen erhalten. Im Verhältnis der Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens zueinander gelten die internationalen Standards der UN-Charta und der Helsinki-Schlußakte, das heißt: der Grundsatz der Achtung souveräner Gleichheit, territorialer Integrität, der politischen Unabhängigkeit und der friedlichen Streitbeilegung."41

    17. Im Rahmen einer Gemeinsamen Erklärung über die Grundlagen der Beziehungen vom 11. Oktober 1995 verständigte sich die Bundesregierung mit der Regierung der Republik Moldau darauf, die zwischen der Bundesrepublik und der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geschlossenen völkerrechtlichen Verträge im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Moldau so lange anzuwenden, bis beide Seiten im Einklang mit ihrer nationalen Gesetzgebung etwas Abweichendes vereinbaren.42 Eine vergleichbare Vereinbarung traf die Bundesregierung mit der Regierung Aserbeidschans.43

    18. Im Zusammenhang mit Klagen griechischer Staatsangehöriger gegen den deutschen Staat auf Entschädigung für die ihnen während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg zugefügten Schäden nahm die Bundesregierung in einer Verbalnote vom 18. Oktober 1995 zum Prinzip der Staatenimmunität Stellung:

    "Verfahren vor griechischen Gerichten, in denen über Ansprüche griechischer Privatpersonen gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Ereignissen während des Zweiten Weltkriegs verhandelt wird, sind nicht mit dem Völkerrecht vereinbar und entsprechende Klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland vor griechischen Gerichten daher unzulässig. Der im Völkerrecht allgemein gültige Grundsatz der Staatenimmunität steht der Prozeßführung vor Gerichten eines Staates entgegen, soweit sie sich gegen einen fremden Staat richtet und sich auf dessen hoheitliches Handeln (acta iure imperii) bezieht. Die Vorkommnisse, die den geltend gemachten Forderungen zugrunde gelegt werden, fallen zweifellos in diesen Bereich. Im übrigen können materielle und immaterielle Schäden, die durch eine kriegsführende Macht verursacht worden sind, nach geltendem Völkerrecht nicht als Einzelansprüche der Geschädigten gegen den verantwortlichen Staat erhoben werden."


    28 BT-Drs. 13/1646, 1 f.
    29 Erklärung von Staatssekretär Lintner in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 8.3.1995 zu dem Beginn von Verhandlungen der Bundesregierung mit der Regierung in Belgrad über die Rückführung von Asylbewerbern und/oder Bürgerkriegsflüchtlingen, BT-PlPr., 23. Sitzung, 1613.
    30 Erklärung vom 6.2.1995, Bull. Nr. 12 vom 16.2.1995, 99; Erklärung vom 29.5.1995, Bull. Nr. 46 vom 7.6.1995, 416; Erklärung vom 2.6.1995, Bull. Nr. 49 vom 14.6.1995, 448.
    31 Erklärung von Staatssekretär Lintner in der Bundestagssitzung vom 8.3.1995, BT-PlPr., 23. Sitzung, 1613.
    32 Antwort der Bundesregierung auf eine Schriftliche Anfrage, BT-Drs. 13/1605, 8 f.
    33 Bull. Nr. 42 vom 24. 5.1995, 371.
    34 Position of Germany (Anm. 3), 3. Ausschuß, 6.
    35 Position of Germany (Anm. 3), 3. Ausschuß, 83.
    36 Ibid.
    37 Erklärung der Europäischen Union vom 29.5.1995, Bull. Nr. 46 vom 7.6.1995, 416.
    38 Erklärung vom 4.5.1995, Bull. Nr. 41 vom 17.5.1995, 363.
    39 Erklärung vom 2.6.1995, Bull. Nr. 49 vom 14.6.1995, 448.
    40 ILM 35 (1996), 75 ff.
    41 Bull. Nr. 100 vom 4.12.1995, 974.
    42 BGBl. 1996 II, 768.
    43 Nummer 16 der Gemeinsamen Erklärung über die Grundlagen der Gemeinsamen Beziehungen vom 22.12.1995, BGBl. 1996 II, 2471.