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255. Am 31. Dezember 1995 trat die Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei in Kraft.620 Bei den Bemühungen um die Vollendung der Zollunion stand die Einhaltung der Menschenrechte durch die Türkei im Mittelpunkt der Diskussion. Vor allem das Europäische Parlament hatte seine Zustimmung zur Zollunion von einem spürbaren Fortschritt der Türkei in der Frage der Menschenrechte abhängig gemacht.621 Aus Anlaß einer Kleinen Anfrage führte die Bundesregierung zu diesem Punkt aus:
"Die Vollendung der Zollunion mit der Türkei, die aus wirtschaftlichen und politisch-strategischen Gründen auch im europäischen und deutschen Interesse liegt, steht nicht im Widerspruch zu Bemühungen, im Dialog mit der Türkei die Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Grundfreiheiten in diesem Land zu stärken."622 |
"Ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union steht derzeit nicht zur Debatte."623 |
256. Am Rande des Europäischen Rates in Madrid wurde zwischen der Europäischen Union und MERCOSUR-Staaten ein Interregionales Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit unterzeichnet.624 Es handelt sich um das erste derartige Abkommen, das von der Union angeschlossen wurde625, und hat letztlich eine politische und wirtschaftliche Assoziation zwischen der Europäischen Union und den MERCOSUR-Staaten zum Ziel.626 Aufgrund seiner inhaltlichen Komplexität wurde das Rahmenabkommen als gemischtes Abkommen abgeschlossen.627
257. Im Berichtszeitraum schloß die Europäische Union Assoziationsabkommen mit Tunesien628 und Israel629 ab. Ein entsprechendes Abkommen mit Marokko wurde paraphiert, Verhandlungen mit Ägypten, Jordanien und Libanon über den Abschluß von Assoziationsabkommen wurden aufgenommen.630
258. Kooperationsabkommen wurden während des Berichtsjahres mit Kirgisistan631, Weißrußland632 und Kasachstan633 abgeschlossen. Diese Abkommen sind als gemischte Abkommen ratifizierungspflichtig. Um schon vor dem Inkrafttreten der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen die handelsrelevanten Teile in Kraft setzen zu können, wurden im Berichtszeitraum darüber hinaus mit Rußland, der Ukraine, Kirgisistan, Kasachstan, Weißrußland und Moldawien Interimsabkommen ausgehandelt.634 Zur Bedeutung dieser Abkommen im Vergleich zu den mit Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten geschlossenen Assoziationsabkommen führte die Bundesregierung im Rahmen einer Kleinen Anfrage aus:
"Mit einer Reihe von unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (NUS) wurden Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) unterzeichnet (Rußland, Ukraine, Weißrußland, Moldawien, Kasachstan und Kirgisistan). Der Handelsteil der PKA, der in einigen Fällen vorab durch Interimsabkommen in Kraft gesetzt wurde, sieht ebenfalls Handelserleichterungen vor. Allerdings handelt es sich bei den PKA im Gegensatz zu den Europa-Abkommen um nichtpräferenzielle Abkommen auf der Basis der Meistbegünstigung.
Bei Inkraftsetzung der Abkommen wurden bestehende mengenmäßige Beschränkungen aufgehoben; mit einigen Ländern soll 1998 geprüft werden, ob die Voraussetzungen vorliegen, Verhandlungen über eine Freihandelszone aufzunehmen."635 |
259. Die Verhandlungen zur Halbzeitüberprüfung des Lomé IV-Abkommens, das die Beziehungen zwischen der EU und 70 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik (AKP) regelt, konnten auf dem AKP-EU-Ministertreffen am 30. Juni 1995 zum Abschluß gebracht werden. Die Unterzeichnung des revidierten Abkommens mit einer Laufzeit von 1995 bis zum Jahr 2000 fand am 4. November 1995 in Mauritius statt. In dem revidierten Abkommen werden über die Wahrung der Menschenrechte hinaus künftig auch die Beachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien als "wesentliche Vertragsbestandteile" zur verpflichtenden Grundlage für die Zusammenarbeit erhoben. Im Falle einer Verletzung eines dieser Elemente durch eine Vertragspartei erlaubt eine neu aufgenommene Suspensionsklausel, das Abkommen mit dem betreffenden Staat ganz oder teilweise auszusetzen. Darüber hinaus werden eine verantwortungsbewußte Regierungsführung und die Schaffung von Rahmenbedingungen, die für die Entwicklung der Marktwirtschaft sowie des privaten Sektors günstig sind, als Ziele der Zusammenarbeit im Abkommen verankert.636
260. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschloß der Rat auf der Grundlage von Art. J.3 des Unionsvertrages mehrere gemeinsame Aktionen. Diese Beschlüsse betrafen die Änderung eines früheren Beschlusses zur Ausfuhrkontrolle von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck637, die Bekämpfung des Einsatzes von Antipersonenminen638, die Ergänzung eines früheren Beschlusses zur Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen Osten639, die Beobachtung der Wahlen zum Palästinensischen Autonomierat und die Koordinierung der Internationalen Wahlbeobachtung640, die Beförderung humanitärer Hilfe in Bosnien-Herzegowina641, die Verwaltung der Stadt Mostar durch die Europäische Union642 und die Beteiligung der Union an den Strukturen zur Umsetzung der Friedensregelung für Bosnien-Herzegowina643.
Darüber hinaus legte der Rat auf der Grundlage von Art. J.2 des Unionsvertrages eine Reihe von gemeinsamen Standpunkten zur Außen- und Sicherheitspolitik fest. Diese gemeinsamen Standpunkte beschäftigen sich mit der Suspendierung von Handelssanktionen gegen die BRJ (Serbien und Montenegro)644, der Lage in Burundi645, dem Einsatz von Blendlasern646, der Festigung des Friedens- und Demokratisierungsprozesses in Angola647 und der Verhängung von Sanktionen gegen Nigeria nach der Hinrichtung des Ogoni-Führers Ken Saro-Wiwa und acht weiterer Oppositioneller648.
Im Berichtsjahr gab die Europäische Union ferner zahlreiche Stellungnahmen zu aktuellen außenpolitischen Entwicklungen ab. Diese Erklärung betrafen u.a das russische Vorgehen in Tschetschenien649, die kroatische Militäroffensive in Westslawonien und in der Krajina650, die Entwicklung der Situation in Bosnien-Herzegowina651, den Beitritt Algeriens652, Argentiniens653 und Chiles zum Atomwaffensperrvertrag654, die unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages655, die Lage im Südchinesischen Meer656, die Situation in Burundi657 und Ruanda658, den Friedensprozeß in Angola659, die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Sierra Leone660, den Bürgerkrieg in Sri Lanka661, die türkische Intervention in Nordirak662, den Friedensprozeß im Nahen Osten663, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und Vietnam664, den Putsch in Sao Tom� und Principe665 und den Staatsstreich auf den Komoren666. Wiederholt nahm die Europäische Union zur möglichen Verabschiedung des Helms-Burton-Gesetzentwurfs durch den Kongreß der Vereinigten Staaten Stellung.667 Sie äußerte sich darüber hinaus mehrfach zur Situation der Menschenrechte in einzelnen Staaten668 und zu Fortschritten im Demokratisierungsprozeß u.a. in Niger669, Äthiopien670 und Tansania671.
261. Die Bundesregierung unterstrich im Berichtszeitraum bei verschiedenen Gelegenheiten, daß eine Reform der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu ihren europapolitischen Prioritäten gehört.672 Es müsse erreicht werden, daß gemeinsames außenpolitisches Handeln sichtbarer und effizienter werde:
"Die Einbeziehung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in den einheitlichen institutionellen Rahmen dient einem kohärenteren Handeln der Union in den Außenbeziehungen. Mit gemeinsamen Aktionen und Standpunkten verfügt die Union über zwei neue Verfahren, die ihre Handlungsfähigkeit erhöhen können und zu einer stärkeren Bindewirkung für die Mitgliedstaaten führen. [...] Die gegenwärtigen Verfahren sind jedoch häufig sehr schwerfällig. Deshalb und in Erwartung der EU-Erweiterung nach 1996 ist der Ausbau funktionierender Entscheidungsmechanismen im Bereich der GASP besonders wichtig.
Die Regierungskonferenz 1996 soll dazu dienen, die Sichtbarkeit, Kontinuität, Kohärenz und Effizienz der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik deutlich zu erhöhen. Die Bundesregierung hat in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, daß sie für eine weitere Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eintritt. Dies soll vor allem durch Nutzung von Gemeinschaftsverfahren geschehen. Deshalb tritt die Bundesregierung dafür ein, auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verstärkt mit Mehrheit (ggf. mit qualifizierter Mehrheit) zu entscheiden. Dabei muß es nach wie vor Ausnahmen geben, z.B. in Fragen der Verteidigungspolitik. Für die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist die Entwicklung einer kohärenten, langfristig konzipierten außenpolitischen Perspektive von entscheidender Bedeutung. Die Bundesregierung prüft deshalb zur Zeit Vorschläge, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik durch eine angemessene Analyse- und Planungskapazität zu verbessern."673 |
262. Zum künftigen Verhältnis zwischen EU und Westeuropäischer Union (WEU) erklärte die Bundesregierung:
"Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union umfaßt nach dem EU-Vertrag 'sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte'. Ein Element der Verwirklichung dieser verteidigungspolitischen Perspektive des EU-Vertrages muß aus der Sicht der Bundesregierung die institutionelle Überführung der Westeuropäischen Union in die Europäische Union sein, die dadurch über eine eigene militärische Handlungsfähigkeit verfügen würde. [...]
Die Bundesregierung befürwortet eine engere politisch-organisatorische und personelle Verzahnung als Zwischenschritt zur vollen Integration der Westeuropäischen Union in die Europäische Union. Als ersten Schritt tritt sie für die Einbeziehung der Westeuropäischen Union in die Leitlinienkompetenz des Europäischen Rats ein. Die Bundesregierung setzt sich darüber hinaus für eine strukturelle Verklammerung der Entscheidungs- und Arbeitsgremien von Europäischer Union und Westeuropäischer Union ein. Da die Verantwortung für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik primär beim Rat liegt, kommt eine personelle Verzahnung in erster Linie zwischen dem Sekretariat der Westeuropäischen Union und dem Ratssekretariat der Europäischen Union in Betracht. Dabei ist sicherzustellen, daß durch eine geeignete organisatorische Verzahnung mit der Europäischen Kommission auch deren Beiträge in die Entscheidungsfindung einfließen."674 |