Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland 1995

Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


Inhalt | Zurück | Vor

Rainer Grote

XVI. Internationale Organisationen

3. Sonstige Organisationen

    282. In einer Erklärung zum 20. Jahrestag der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki befürwortete Außenminister Kinkel die Schaffung einer völkerrechtlichen Grundlage für die OSZE:

    "Die KSZE hat von Helsinki bis heute einen weiten Weg zurückgelegt. Aus einem losen Zusammenschluß von 35 Staaten, einem Prozeß, wurde eine Organisation mit festen Einrichtungen. Diesen Weg muß die OSZE, wie sie sich seit 1994 nennt, konsequent weitergehen.
    Mein Vorschlag ist, die OSZE ähnlich den Vereinten Nationen auf eine völkerrechtliche Grundlage zu stellen. Vor allem für Staaten, deren Einbeziehung in andere europäische und transatlantische Strukturen gegenwärtig nicht zur Diskussion steht, bedeutete dies eine willkommene politische Aufwertung ihrer OSZE-Mitgliedschaft."727

    283. Zu ihren Zielen für eine künftige Reform der OSZE führte die Bundesregierung auf eine Parlamentarische Anfrage aus:

    "Die Bundesregierung verfolgt bereits seit längerem drei vorrangige Ziele, die der Stärkung der OSZE dienen sollen: die Herbeiführung einer Rechtspersönlichkeit der OSZE, die Ausnahme vom Konsensprinzip bei Anrufung des Sicherheitsrates durch die OSZE und die Förderung der regionalen Zusammenarbeit nach dem Muster des Stabilitätspakts."728

    284. Wiederholt729 nahm die Bundesregierung im Berichtszeitraum zu dem Verhältnis zwischen OSZE, NATO und WEU Stellung:

    "Die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen um verstärkte Koordination und Kooperation zwischen den für die Sicherheit in Europa bestehenden internationalen Organisationen. Die NATO wird auch in Zukunft, vor allem wegen ihrer transatlantischen Dimension, als Bündnis zur gemeinsamen Verteidigung unverzichtbar für Sicherheit und Stabilität in Europa bleiben und darüber hinaus durch Unterstützung von Friedensmissionen der VN und der OSZE einen Beitrag zur kollektiven Sicherheit leisten. Die Westeuropäische Union ist als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als europäischer Pfeiler der NATO zentrales Element beim Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität.
    Die Bundesregierung wird sich zusammen mit den europäischen Partnerländern im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dafür einsetzen, daß die OSZE weiter institutionell und politisch gestärkt wird. Die Europäische Union hat bereits in der Vergangenheit wesentlich zum Ausbau der OSZE beigetragen. Die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO muß die jeweiligen Umstände in den Beitrittsländern berücksichtigen. Durch Kooperation im Rahmen der OSZE können diejenigen Beitrittskandidaten, die zu einem bestimmten Termin nicht beitreten wollen oder können, fest in die europäische Sicherheitsarchitektur eingebunden werden."730
    An anderer Stelle heißt es:
    "Die Bundesregierung mißt der OSZE eine wichtige Rolle für die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung bei. Die OSZE ist die einzige Sicherheitsstruktur, die alle Staaten zwischen Vancouver und Wladiwostok umfaßt. Ihre Stärkung soll sie dazu befähigen, im Zusammenwirken mit den anderen Institutionen und Organisationen unter Ausnutzung der komparativen Vorteile Stabilität und Sicherheit in Europa zu festigen und zu vertiefen. Eine hierarchische Ordnung wird dabei nicht angestrebt."731

    285. Die Bundesregierung äußerte sich während des Berichtszeitraums mehrfach732 zu parlamentarischen Anfragen betreffend die Vereinbarkeit des russischen Vorgehens in Tschetschenien mit ihren im Rahmen des KSZE-Prozesses übernommenen Verpflichtungen:

    "Die Bundesregierung kann in der Verlegung russischer Truppen nach Tschetschenien keine Verletzung eines internationalen Vertrages erkennen. Insbesondere erfaßt der Vertrag vom 19. November 1990 über konventionelle Streitkräfte in Europa diesen Tatbestand nicht.
    Die russische Regierung hat es jedoch unterlassen, ihrer gegenüber allen KSZE-Staaten bestehenden Notifizierungspflicht gemäß Absatz (38) ff. des � politisch verbindlichen � Wiener Dokuments 1992 über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen nachzukommen. Außerdem hätte sie gemäß Absatz (45) des Wiener Dokuments 1992 angesichts der Größenordnung der verlegten Streitkräfte Vertreter der Teilnehmerstaaten zur Beobachtung einladen müssen. Die Verlegung der Truppen als solche unterliegt keiner Beschränkung.
    Der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle, Botschafter Dr. Holik, hat anläßlich der rüstungskontrollpolitischen Konsultationen mit dem russischen Vizeaußenminister Mamedov am 22. Dezember 1994 in Bonn auf dieses Versäumnis der russischen Regierung hingewiesen und angemahnt, die KSZE-Teilnehmerstaaten nachträglich gemäß Wiener Dokument 1992 zu unterrichten. Eine solche Notifikation ist bis heute nicht erfolgt."733

    286. Gegenstand einer Stellungnahme der Bundesregierung waren im Berichtszeitraum ferner die finanziellen Auswirkungen der Erweiterung des Europarates. In diesem Zusammenhang äußerte die Bundesregierung sich auch zu den gegenwärtigen und künftigen Aufgaben des Europarates:

    "Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hat der Europarat seinen festen Platz als Institution in Europa gefunden, die individuelle Menschenrechte durch ein bindendes Kontrollsystem schützen kann. Er gibt gerade den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas die Möglichkeit, an der Gestaltung eines gemeinsamen Europas auf der Grundlage von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit mitzuarbeiten. Der Wiener Europaratsgipfel vom Oktober 1993 bezeichnet ihren Beitritt daher als einen 'zentralen Faktor des europäischen Aufbauwerks'.
    Nachdem in den letzten Jahren bereits eine Reihe von MOE-Staaten beigetreten sind, liegen dem Europarat derzeit acht weitere Beitrittsanträge von Staaten aus dieser Region vor. Der Europarat hat die politische Verantwortung, ihre Aufnahme durch Heranführung an die Europaratsstandards mit geeigneten Maßnahmen zu fördern. Entsprechende Programme stellen daher � neben der klassischen intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten � den Kern der Aktivitäten des Europarats dar. [...]
    Die fortschreitende Erweiterung macht den Europarat zunehmend zu einer Institution für die Behandlung von Fragen mit gesamteuropäischer Dimension. Auch künftig wird der Schwerpunkt seiner Wirksamkeit auf der Wahrung und Weiterentwicklung der grundlegenden Werte und Errungenschaften der europäischen Demokratien und der Einbeziehung der neuen mittel- und osteuropäischen Mitglieder in diese Wertegemeinschaft liegen."734


    727 Bull. Nr. 61 vom 4.8.1995, 605.
    728 BT-Drs. 13/3112, 4.
    729 Rede von Außenminister Kinkel vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 19.6.1995 in Paris, Bull. Nr. 51 vom 26.6.1995, 460; Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zum Thema "Bundesregierung und NATO-Osterweiterung", BT-Drs. 13/3112, 3 f.; Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996, BT-Drs. 13/3198, 16.
    730 BT-Drs. 13/3198, 16.
    731 BT-Drs. 13/3112, 3.
    732 BT-Drs. 13/214, 1; 13/718. Vgl. ferner die Regierungserklärung von Bundesaußenminister Kinkel im Deutschen Bundestag vom 19.1.1995, Bull. Nr. 5 vom 23.1.1995, 33.
    733 BT-Drs. 13/214, 1. Nach Auskunft der Bundesregierung vom 9.3.1995, BT-Drs. 13/718, 3, ist eine Notifizierung der Truppenverlegung auch in dem Zeitraum nach der Beantwortung der ersten Parlamentarischen Anfrage nicht erfolgt.
    734 BT-Drs. 13/1689, 1 f.