Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland 1995

Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


Inhalt | Zurück | Vor

Rainer Grote

XVII. Friedenssicherung und Kriegsrecht

3. Kollektive militärische und nicht-militärische Maßnahmen

    300. Die NATO führte im Berichtszeitraum größere militärische Operationen in Bosnien-Herzegowina durch. Mit seinen Beschlüssen vom 25. Juli und 1. August 1995 bekundete der NATO-Rat seine Entschlossenheit, möglichen Angriffen der bosnischen Serben auf Goradze und die VN-Schutzzonen in Bihac, Tuzla und Sarajewo mit einer festen und wirksamen Reaktion, unter Einschluß von Luftangriffen auf serbische Stellungen, entgegenzutreten. Nach der Beschießung Sarajewos am 28. August 1995, die zu größeren Verlusten unter der bosnischen Zivilbevölkerung geführt hatte, flogen NATO-Luftstreitkräfte Angriffe auf militärische Ziele der Serben, darunter Luftabwehrstellungen und Munitionsdepots, in der näheren und weiteren Umgebung von Sarajewo. Am 10. September wurden 13 amerikanische Tomahawk-Raketen gegen serbische Radar- und Raketenstationen in der Nähe von Banja Luka abgefeuert. Die Kampagne, die in Zusammenarbeit mit den Bodentruppen des schnellen Einsatzverbandes (Rapid Reaction Force) erfolgte, wurde am 14. September ausgesetzt, nachdem die bosnischen Serben den Bedingungen der NATO � Abzug der schweren Waffen aus der Umgebung von Sarajewo, Beendigung des Beschusses der Stadt, Öffnung des Flughafens von und der Zufahrtsstraße nach Sarajewo � zugestimmt hatten.762 Auf ihrem Herbsttreffen würdigten die Außenminister die Rolle der Luftstreitkräfte bei der Durchsetzung des Friedens in Bosnien und nahmen zugleich zu der künftigen Rolle der NATO bei der Absicherung des Friedensabkommens von Dayton Stellung:

    "Das entschiedene Vorgehen der Allianz durch den wohlüberlegten und wirksamen Einsatz der NATO-Luftstreitkräfte zur Unterstützung einer entschlossenen diplomatischen Anstrengung waren hilfreich dabei, die Voraussetzungen zu schaffen, die den Frieden in Bosnien-Herzegowina möglich gemacht haben. Unser Ziel ist es nun, zu einem gerechten und dauerhaften Frieden in Bosnien-Herzegowina beizutragen. Alle Parteien der Friedensvereinbarung von Dayton haben die Rolle der NATO akzeptiert, die durch eine Resolution des VN-Sicherheitsrates autorisiert, neutral sowie in Umfang und Dauer begrenzt sein wird. Die NATO wird keine Lösung aufzwingen, jedoch die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Einhaltung der Vereinbarung sicherzustellen.
    Wir haben heute die militärische Planung für die Friedenstruppe (IFOR) gebilligt. Die Operation JOINT ENDEAVOUR wird die Fähigkeit der NATO unter Beweis stellen, zusätzlich zu ihren Kernfunktionen als Verteidigungsbündnis auch ihre neue Aufgaben der Krisenbeherrschung und Friedenserhaltung zu erfüllen.763

    301. Die Bundesrepublik Deutschland beteiligte sich auch im Berichtszeitraum an der Überwachung und Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Waffenembargos gegen das ehemalige Jugoslawien sowie des Handelsembargos gegen Rest-Jugoslawien. Ebenso wurde die Beteiligung an der Durchsetzung der von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen im Rahmen der gemeinsamen NATO/WEU-Operation "Sharp Guard" in der Adria fortgesetzt. Aufgrund der Resolutionen 1021 und 1022 (1995) des VN-Sicherheitsrates764 wurden die Kontrollen zur Durchsetzung der Sanktionen gegen Serbien/Montenegro am 23. November 1995 vorläufig suspendiert.765

    302. Darüber hinaus wirkte die Bundesrepublik Deutschland an der Verwaltung der Stadt Mostar durch die Europäische Union mit. Zu diesem Zweck wurden im Berichtszeitraum rund 180 Polizisten nach Mostar entsandt, darunter 65 deutsche Polizisten, die bei dem Aufbau einer einheitlichen Polizei für die Stadt mithelfen sollen.766

    303. Im Rahmen der Europäischen Union trug die Bundesregierung zwei Gemeinsame Standpunkte vom 20. November und 4. Dezember 1995 über die Verhängung von Sanktionen gegen Nigeria nach der Hinrichtung des Regimegegners Ken Saro-Wiwa mit. Zusätzlich zu den bereits im Juli 1993 von der EU verhängten Maßnahmen beschlossen die Mitgliedstaaten ein Embargo für Waffen, Munition und militärische Ausrüstung, die Verschärfung der bestehenden Visabeschränkungen für Angehörige der Regierung und des Militärs sowie ihre Familien und die Unterbrechung aller Kontakte im Bereich des Sports.767

    304. Im Zusammenhang mit der Übernahme des Vorsitzes im VN-Sanktionsausschuß für den Irak durch die Bundesrepublik Anfang 1995 nahm die Bundesregierung auf eine Parlamentarische Anfrage zur Fortdauer des Handelsembargos gegen den Irak Stellung:

    "Bislang haben sich weder die für die Umsetzung von Resolution 687 wesentlich verantwortliche Abrüstungskommission der Vereinten Nationen für den Irak (UNSCOM) noch der Sicherheitsrat in seiner Gesamtheit in der Lage gesehen, eine Erfüllung der einschlägigen Voraussetzungen für eine Aufhebung der Embargoregimes gegen den Irak zu konstatieren. Insbesondere bei der Aufklärung früherer Waffenprogramme bestehen noch Defizite. Die Bundesregierung ist bemüht, in ihren Kontakten mit irakischen Gesprächspartnern den Irak zu kooperativer Zusammenarbeit und Erfüllung aller Voraussetzungen der einschlägigen VN-Resolutionen anzuhalten."768
    Die Bundesregierung bekräftigte, daß auch ihrer Auffassung nach erst die Voraussetzungen der Resolutionen der Vereinten Nationen erfüllt sein müssen, ehe das Embargo gegen den Irak aufgehoben werden kann. Zu der Forderung nach der Freigabe irakischer Konten in der Bundesrepublik erklärte sie:
    "Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die von irakischen Gläubigern in Deutschland gehaltenen Konten so lange gesperrt bleiben müssen, bis der Irak die ihm vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auferlegten Auflagen erfüllt hat. Da die Kontensperre auf Beschlüssen des VN-Sicherheitsrates beruht, zu deren Umsetzung die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist, kann eine Freigabe der Konten erst erfolgen, nachdem der VN-Sicherheitsrat entsprechende Beschlüsse gefaßt hat."769
    Weiter führte die Bundesregierung aus, daß bislang über 40 deutsche Experten im Rahmen multinational zusammengesetzter UNSCOM-Inspektionsteams zur Überprüfung der Einhaltung des abrüstungspolitischen Teils von Resolution 687 im Irak bei Vor-Inspektionen tätig gewesen seien. Außer personeller Unterstützung und gelegentlicher Stellung von Geräten (z.B. für Laboranalysen) habe sie keine materiellen Beiträge geleistet.770 Zur Anwesenheit von Bundeswehrsoldaten im Irak erklärte sie:
    "Völkerrechtliche Grundlage für die Anwesenheit des Kontingents von jeweils 31 Bundeswehrsoldaten im Irak (sie unterliegen in der Regel einer sechswöchigen Rotation) ist Resolution 687, deren Regelungen für die Bundesrepublik Deutschland wie für alle anderen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Einklang mit der Charta verbindlich sind. Hinzu tritt die Absprache der Bundesregierung mit der UNSCOM, die vom Sicherheitsrat beschlossenen Abrüstungsmaßnahmen im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen."771
    Bei dem Bundeswehrkontingent handele es sich um einen Bestandteil der Heeresfliegertruppe. Das Kontingent befinde sich seit September 1991 im Irak und sei in Bagdad stationiert. Mit drei der UNSCOM zugeordneten Hubschraubern leisteten die Bundeswehrsoldaten die gesamte Lufttransportunterstützung, die sich im Rahmen der Erfüllung des Mandats aus Resolution 687 ergebe.772


    762 Zur Entwicklung im einzelnen s. Marc Weller, Peace-Keeping and Peace-Enforcement in the Republic of Bosnia and Herzegovina, ZaöRV 56 (1996), 70-177, 153 ff.
    763 Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 5.12.1995, Bull. Nr. 106 vom 15.12.1995, 1057.
    764 Dazu bereits oben XIV.2., Ziff. 235.
    765 Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der Westeuropäischen Union für die Zeit vom 1.1.1995 bis 30.6.1995, BT-Drs. 13/2248, 1 f.; Bericht für die Zeit vom 1.7. bis 31.12.1995, BT-Drs. 13/3827, 2.
    766 Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der Westeuropäischen Union vom 1.7. bis 31.12.1995, BT-Drs. 13/3827, 2.
    767 BT-Drs. 13/4327, Anlagen 1 und 2.
    768 BT-Drs. 13/1361, 3.
    769 Ibid., 5.
    770 Ibid., 5 f.
    771 Ibid., 6.
    772 Ibid.