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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1996


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Volker Röben


XVI. Internationale Organisationen

2. Militärbündnisse

    168. Die Verteidigungsminister der NATO-Staaten übertrugen bei ihrer Herbsttagung in Brüssel die "activation order", also die Kommandoübertragung für die SFOR-Operation, an den NATO-Oberbefehlshaber in Europa, General Joulwan.370

    169. Die Bundeswehr ist nach der Bundesregierung ein Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands. Auf Beschluß des Deutschen Bundestages beteilige sich die Bundeswehr, zusammen mit Verbündeten und Partnern, an der internationalen Krisenbewältigung und an internationalen Friedensmissionen im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen. Die Bundesregierung betonte, daß der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Naumann, die Auffassung der Bundesregierung wiedergegeben habe, als er auf der Leipziger Kommandeurstagung 1992 geäußert hatte, "zur Begründung unserer Existenz brauchen wir keine Risiken," daß Streitkräfte ein bedrohungsunabhängiges, konstitutives Element eines "souveränen" Staates darstellen. Gegenwärtig seien Soldaten bzw. Truppenteile der Bundeswehr außerhalb Deutschlands wie folgt im Einsatz:

      Unterstützung der internationalen Friedenstruppen IFOR zur militärischen Absicherung des Friedensvertrages für das frühere Jugoslawien mit einem Kontingent von 4.000 Soldaten;
      Teilnahme der Marine an der Operation Sharp Guard zur Durchsetzung des Embargos gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mit zwei Schiffen und drei Seefährenaufklärern;
      Unterstützung der VN-Sonderkommission UNSCOM im Irak mit Transporthubschraubern und Transall;
      Teilnahme an der VN-Beobachtermission UNOMIG in Georgien mit Sanitäts- und Beobachterpersonal.
    Die Entscheidung über den Einsatz deutscher Streitkräfte treffe die Bundesregierung mit Zustimmung des Deutschen Bundestages in den dafür vorgesehenen Fällen. Die zunehmende Verklammerung der Streitkräfte in Europa besitze eine politische Wirkkraft, die nicht hoch genug eingeschätzt werden könne. Im Rahmen der sicherheits- und militärpolitischen Gespräche mit den NATO-Verbündeten würden regelmäßig auch Fragen multinationaler und europäischer Streitkräftestrukturen besprochen. Es gebe keine supra-nationalen Sicherheitsorganisationen, welche die souveräne Entscheidungsgewalt der Bundesregierung zum Einsatz von Streitkräften außer Kraft setzen würden; die Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr verbleibe in nationaler Verantwortung. In der Debatte des Deutschen Bundestages am 29. September 1995 sei zum Ausdruck gebracht worden, daß nach Auffassung der Bundesregierung zu der im Vertrag über die Europäische Union angelegten Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik, die zu gegebener Zeit auch zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, auch die Frage nach der Rolle der Nuklearmächte Frankreichs und Großbritanniens gehöre. Zu militärischen Führungsaufgaben, die einer Lead-Nation-Funktion entsprächen, gebe es keine Planungen oder Übungen. Zwischen Beitrag im Bündnis (NATO, WEU) und Gewicht der politischen Stimme bestehe insofern ein Zusammenhang, als nur derjenige berechtigten Anspruch auf Mitsprache und Mitentscheidung erheben könne, der auch die Folgen und Risiken der Entscheidung auf sich zu nehmen bereit sei. WEU, GASP, NATO, OSZE und VN seien als Organisationen kein Militärbündnis; in jeder gelte der Primat der Politik. Die Vereinten Nationen seien die universale Organisation zur Bewahrung des Weltfriedens und der Sicherheit. Die Vereinten Nationen arbeiteten mit regionalen Organisationen und Einrichtungen zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit zusammen. Bei der Entwicklung einer dauerhaften tragfähigen Sicherheitsordnung für Europa und die Welt strebe die Bundesregierung ein Netzwerk ineinander greifender, sich gegenseitig verstärkender Institutionen an. Dabei hätten EU, WEU, NATO, OSZE, aber auch VN und Europarat jeweils spezifische Rollen zu übernehmen, um so die Arbeit der anderen zu ergänzen und zu stützen, wie es gegenwärtig beispielsweise bei der Umsetzung der zivilen und militärischen Bestimmungen des Friedensabkommens für Bosnien-Herzegowina (Dayton) das Ziel ist. Das Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) sei im Rahmen der Entscheidungen des Nordatlantikrates vom 3. Juni 1996 und der NATO-Verteidigungsminister vom 13. Juni 1996 gebilligt worden. Die Allianz werde so weiterentwickelt, daß Stäbe, Kräfte und Mittel aus der Bündnisstruktur mit Zustimmung des Nordatlantikrates auch unter Führung und Kontrolle der WEU eingesetzt werden könnten und NATO-Strukturen für verschiedene politische Zwecke flexibel nutzbar gemacht werden könnten. Seit 1995 seien auch diejenigen deutschen operativen Truppenteile der NATO zugeordnet, die in den neuen Bundesländern stationiert seien. Die WEU habe sich mit dem Konzept der "Forces Answerable to WEU" (FAWEU) ein flexibles Verfahren zur fall- und wahlweisen Bereitstellung nationaler oder multinationaler Streitkräftekontingente durch die WEU-Mitstaaten geschaffen. Der WEU würden daher nationale militärische Ressourcen nicht fest zugewiesen. Die Zuordnung von Verbänden zu Streitkräfteklassen der NATO wie auch die Benennung von Kontingenten im Rahmen des FAWEU-Konzeptes seien Planungsmechanismen. Sie bedeuteten keine Vorentscheidungen hinsichtlich des tatsächlichen Einsatzes im Einzelfall. Deutschland beteilige sich am NATO-Sicherheitsinvestitionsprogramm und an den Kosten der NATO-Militärhaushalte sowie anteilig an den Kosten verschiedener NATO-Agenturen oder Gemeinschaftsprojekten (vgl. Bundeshaushalt Kapitel 1422). Der deutsche finanzielle Beitrag zur WEU umfasse den Pflichtbeitrag auf der Grundlage des festgelegten Haushaltsschlüssels. Die Erklärung der Mitgliedstaaten der WEU vom 10. Dezember 1991, die auch in die Schlußakte der Regierungskonferenz eingegangen sei, lege fest, daß die WEU als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Mittel zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz entwickelt werde. Ein Aufbau von eigenen Fähigkeiten zur kollektiven Verteidigung sei für die WEU weder politisch gewollt noch erforderlich; die Durchführung der Beistandsgarantie der WEU liege bei der NATO. Die WEU konzentriere sich beim Ausbau ihrer operationellen Rolle auf die Entwicklung von militärischen Fähigkeiten für Krisenmanagement-Aufgaben, wie sie in der Petersberg-Erklärung vom 19. Juni 1992 definiert seien. Seit der Petersberg-Erklärung hätten innerhalb der WEU wesentliche Rahmenbedingungen für die Stärkung ihrer operationellen Handlungsfähigkeit im Spektrum der Petersberg-Aufgaben geschaffen werden können:
      Aufbau der WEU-Planungszelle und des WEU-Satellitenzentrums;
      Erarbeitung des Konzeptes der FAWEU;
      Erarbeitung der erforderlichen Grundsatzkonzepte für die Durchführung der operativen Aufgaben der WEU;
      Erarbeitung der notwendigen Verfahren für eine rasche Zusammenstellung und Zusammenführung von Streitkräftegruppierungen für WEU-Operationen;
      Stärkung der Strukturen der WEU für effizientes Krisenmanagement unter anderem durch Institutionalisierung eines politisch-militärischen Beratungsgremiums (GOL, MIL-Gruppe) und der Gruppe der militärischen Delegierten;
      Aufbau eines WEU-Lagezentrums.
    Deutschland habe zur Entwicklung der operativen Fähigkeiten der WEU durch aktive Mitwirkung in deren Gremien maßgeblich beigetragen und sei mit Personal in der WEU-Planungszelle, im WEU-Satellitenzentrum und im WEU-Lagezentrum vertreten. Der politische Rahmen für die Umsetzung des CJTF-Konzeptes sei durch den Nordatlantik-Rat in Berlin am 3. Juni 1996 verabschiedet worden. Es stelle ein Kernelement der umfassenderen Strukturreform der Allianz dar, die ebenfalls durch die NATO-Außen- und Verteidigungsminister bei ihren Frühjahrssitzungen im Juni 1996 beschlossen worden sei. Mit Zusagen von NATO-Mitgliedstaaten sei das Konzept nicht verbunden. Die Bundesregierung setze sich für eine möglichst weitgehende Verwirklichung der verteidigungspolitischen Perspektiven des EU-Vertrages ein. In diesem Zusammenhang halte die Bundesregierung am Ziel einer Integration der WEU in die EU fest. Dieses Ziel werde sich aber auf der Regierungskonferenz noch nicht verwirklichen lassen. Das Konzept der Bundesregierung ziele deshalb darauf ab, - die Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates auf die WEU zu erstrecken und die WEU damit unter das politische Dach der EU zu stellen; - in den EU-Vertrag Ziele der Petersberg-Erklärung und eine politische Solidaritätsklausel aufzunehmen; - das Integrationsziel im Vertrag festzulegen; - die Ministerräte, die ihnen nachgeordneten Gremien und die Sekretariate miteinander zu verflechten. Fast alle WEU-Vollmitglieder teilten mit Deutschland das Ziel, die WEU mittel- bis langfristig in die EU zu integrieren. Die allianzfreien EU-Partner seien zwar noch nicht bereit, sich auf das Ziel der Integration festzulegen, unterstützten aber ebenso wie die Bundesregierung eine Aufnahme der Ziele der Petersberg-Erklärung in den EU-Vertrag und die Stärkung der institutionellen Verknüpfung der WEU mit der EU im Bereich des Krisenmanagements. Die NATO-Mitgliedstaaten bekennten sich im Nordatlantik-Vertrag mehrfach zur Charta der Vereinten Nationen. Aus diesem Grunde handelten die Bündnispartner bei Einsätzen von NATO-Staaten in Ausführung eines Mandates des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Übereinstimmung mit den Regeln des NATO-Vertrages und erfüllten zugleich vereint ihre Pflichten als Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Weder die Charta der Vereinten Nationen noch der NATO-Vertrag stünden einer solchen Bündelung nationaler Beiträge entgegen. Die OSZE gehe von einem umfassenden Sicherheitsbegriff aus. Als eine regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen stelle sie ein wichtiges Bindeglied zwischen europäischer und globaler Sicherheit dar.

    170. In Beantwortung der Kleinen Anfrage zur deutschen Beteiligung an den britisch-französischen Gesprächen zur Kooperation im Nuklearwaffenbereich führte die Bundesregierung aus: An den bilateralen britisch-französischen Gesprächen zur Kooperation im Nuklearwaffenbereich seien Vertreter der Bundesrepublik Deutschland nicht beteiligt. Die britische und französische Regierung hätten im November bzw. Dezember 1995 die NATO-Bündnispartner und die Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union über die grundsätzliche Zielrichtung und den Rahmen dieser bilateralen Gespräche unterrichtet. Danach fänden diese Besprechungen seit 1992 im Rahmen der Joint Nuclear Commission mehrere Male im Jahr unter Beteiligung von Angehörigen der britischen und französischen Außen- und Verteidigungsministerien statt.371

    171. Die Begründung des Gesetzentwurfes zum Geheimschutzübereinkommen der WEU, den die Bundesregierung in den Bundestag eingebracht hatte, stellt folgende Erwägungen heraus: Die der Westeuropäischen Union (WEU) nach dem Vertrag über die Europäische Union und der anläßlich des Vertragsschlusses abgegebenen Erklärung zur Rolle der WEU und zu ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz übertragenen Aufgaben beinhalten, daß Maßnahmen zur Erreichung der gesteckten Ziele den Austausch geheimhaltungsbedürftiger Information und Unterlagen zwischen den Vertragsparteien und den Organen und Einrichtungen der WEU erfordern. Der Austausch geheimhaltungsbedürftiger Informationen (Verschlußsachen) setzt voraus, daß dies auf der Basis einheitlicher Mindestmaßstäbe der Sicherheit geschieht, zu deren Einhaltung sich die Vertragsstaaten verpflichten, so daß jeder Vertragsstaat darauf vertrauen kann, daß seine die WEU betreffenden Geheimnisse auch innerhalb der Organisation als ganzes wirksam geschützt werden. Die Bundesregierung wie auch ihre WEU-Partnerstaaten haben großes Interesse an der völkerrechtlich verbindlichen Festschreibung der Geheimschutzverpflichtungen. Das Übereinkommen beinhaltet darüber hinaus die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten, ihre Staatsangehörigen einer Sicherheitsprüfung zu unterziehen, die in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit Zugang zu Verschlußsachen benötigen. Sicherheitsüberprüfungen stellen ihrer Natur nach einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Rechtsstaatliche Grundsätze gebieten es daher, auch diese völkerrechtliche Verpflichtung durch Vertragsgesetz in innerstaatliches Recht umzusetzen.372 Der Bundesrat beschloß in seiner 696. Sitzung am 3. Mai 1996, zu dem Gesetzesentwurf "Entwurf eines Gesetzes zu dem Geheimschutzübereinkommen der WEU vom 28. März 1995 gemäß Art. 76 Abs. 2 GG" wie folgt Stellung zu nehmen:

    "Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Ratifizierungsverfahren zu den Geheimschutzübereinkommen der WEU vom 28. März 1995 durch eine Protokollerklärung klarzustellen, daß Art. 2 des Geheimschutzübereinkommens nicht dahin gehend zu verstehen ist, daß von der WEU-Ebene unmittelbar Einfluß auf die nationalen Aufgaben des Verfassungsschutzes der Länder ausgeübt werden kann."373

    172. In seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen bekräftigte Bundesaußenminister Kinkel seine Überzeugung, daß die ersten der mittel- und osteuropäischen Nachbarn den euroatlantischen Institutionen bald angehören würden. Dabei dürfe Rußland nicht vergessen werden: "Auch das russische Volk muß ein Gewinner der osteuropäischen Einigung sein." Die von der NATO angestrebte besondere Partnerschaft mit Rußland sei für den Frieden in Europa eine zentrale Frage. Deshalb sollten die Eckpunkte für eine Charta zwischen der NATO und Rußland möglichst schnell erarbeitet werden.374



    370 FAZ vom 18.12.1996, 6.
    371 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 13/5918.
    372 BT-Drs. 13/5320.
    373 BR-Drs. 215/96.
    374 FAZ vom 26.9.1996, 2.