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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1996


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Volker Röben


XVII. Friedenssicherung und Kriegsrecht

5. Humanitäres Völkerrecht

    195. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zur NATO-Strategie und Legalität von Kernwaffen führte die Bundesregierung aus, daß die in der Einleitung der Anfrage enthaltene Aussage, der Internationale Gerichtshof habe in seinem Rechtsgutachten die Frage, ob die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Kernwaffen mit dem Völkerrecht vereinbar sei mit "einem generellen Nein" beantwortet, nicht zutreffe.425 Zusammenfassend zu allen Einzelfragen im Zusammenhang mit der Nuklearstrategie des Bündnisses sei auf das neue strategische Konzept des Bündnisses, das zur Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 7./8. November 1991 beschlossen worden sei,426 zu verweisen. Bei jedem Waffeneinsatz sei der völkerrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Nach den allgemeinen gewohnheitsrechtlichen Regeln des humanitären Völkerrechts dürften Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele gerichtet werden. Es sei verboten, Angriffe gegen die Zivilbevölkerung als solche zu richten. Fuel Air Explosives seien durch das Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht nicht verboten. Ihr Einsatz unterliege den allgemeinen Schranken des humanitären Völkerrechts. Die Bundesregierung habe nach Veröffentlichung des IGH-Gutachtens an Konsultationen im politischen Ausschuß des Nordatlantischen Bündnisses teilgenommen. Diese hätten die Bewertung des Gutachtens durch die Bundesregierung bestätigt. Die geltende NATO-Strategie stehe im Einklang mit dem Gutachten des IGH.427 Die Erklärungen der Kernwaffenstaaten vom 4. April 1995 zu "negativen Sicherheitsgarantien" stünden dem strategischen Konzept des Bündnisses nicht entgegen. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland stelle die Bundeswehr eine begrenzte Anzahl von Tornado-Flugzeugen der Luftwaffe dem Bündnis als Trägersysteme zur Verfügung.

    196. Zum Rechtsgutachten des IGH vom 8. Juli 1996 führte die Bundesregierung ferner aus: Die Bundesregierung sehe sich durch das Gutachten in ihrer Auffassung bestärkt, daß bei Androhung des Einsatzes oder Einsatz von Nuklearwaffen die auf alle Waffen anwendbaren Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten seien.428 Der IGH habe in seinem Gutachten nicht die Aufnahme von Verhandlungen über eine weltweite Konvention zum Verbot von Atomwaffen gefordert. Er habe festgestellt, daß eine Verpflichtung der Kernwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle bestehe. Der IGH mache deutlich, daß es sich bei Art. 6 des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen nicht nur um eine prozedurale Verhandlungspflicht handele, sondern daß die Verpflichtung darin bestehe, ein bestimmtes Ergebnis - nukleare Abrüstung in allen Aspekten - zu erreichen. Die Bundesregierung habe sich seit jeher gemeinsam mit ihren Verbündeten und Partnern nachdrücklich für eine Reduzierung der Nuklearwaffen in der Welt eingesetzt. Mit der unbefristeten und unkonditionierten Verlängerung des NVV und der gleichzeitigen Annahme des Dokuments zu "Prinzipien und Zielen für die nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung" im Mai 1995 und der Annahme des Vertrages über einen umfassenden nuklearen Teststop durch die 50. VN-Vollversammlung im September 1996 konnten wichtige nichtverbreitungspolitische Schritte getan werden. Jetzt komme es vor allem darauf an, daß die Verträge zur Verminderung von Nuklearwaffen wie START II endlich in Kraft träten und strikt umgesetzt würden. Weiterhin messe die Bundesregierung der Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke (cut off ) große Bedeutung zu. Der Prozeß der nuklearen Abrüstung entsprechend den Verpflichtungen in Art. 6 NVV solle in dieser Weise wichtige weitere Impulse erhalten.

    197. Die Bundesregierung brachte einen Gesetzentwurf zur Änderung des Anhangs I des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Rotkreuzabkommen von 1994 in den Bundestag ein. Anhang I des Zusatzprotokolls I enthält Vorschriften über die Kennzeichnung von Personal, Material, Einheiten, Transportmitteln und Einrichtungen, die nach den Genfer Rotkreuzabkommen und nach dem Zusatzprotokoll I geschützt sind. Seine Änderung wurde notwendig, um eine Reihe einschlägiger technischer Bestimmungen internationaler Organisationen wie der ITU, der internationalen Seeschiffahrtsorganisationen (IMO) und der internationalen Zivilluftfahrtsorganisationen (ICAO) in den Text des Anhangs zu übernehmen. Die Bundesrepublik hat bei der Änderung des Anhangs maßgeblich mitgewirkt.429

    198. Die Bundesregierung setzte sich für eine Verbreitung des humanitären Völkerrechts in allen staatlichen Bereichen und auf allen staatlichen Ebenen ein. Sie komme hierbei ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach, denn die vier Genfer Abkommen und die beiden Zusatzprotokolle verpflichteten alle Vertragsparteien, den Wortlaut der Abkommen weitestmöglich zu verbreiten. Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern würden sowohl die für Zwecke des Zivilschutzes ausgebildeten Schwesternhelferinnen als auch Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk im Rahmen ihrer theoretischen Ausbildung über grundlegende Bestimmungen des humanitären Völkerrechts unterrichtet. Helfer der Freiwilligen Feuerwehren würden auf Kosten des Bundes hierüber ebenfalls informiert. In den Ausbildungsgängen aller Laufbahngruppen des Bundesgrenzschutzes werde das humanitäre Völkerrecht unterrichtet. Multiplikatoren aus Behörden, Betrieben, Organisationen und Verbänden sowie Medienvertretern werde die Akademie für Notfallplanung und Zivilschutz ab 1997 fünf Seminare "Humanitäres Völkerrecht" mit dem Ziel anbieten, Kenntnisse über die Genfer Abkommen zu vermitteln. Bisher seien entsprechende Kenntnisse in Lehrveranstaltungen der Katastrophenschutzschule des Bundes und der Länder vermittelt worden. Aspekte des humanitären Völkerrechts würden bei der vom Bund für Zivilschutzzwecke geförderten Erste Hilfe-Ausbildung der Bevölkerung durch die Hilfsorganisationen nahegebracht. Das Bundesministerium des Innern stelle dem DRK für das amtliche Auskunftsbüro (AAB) nach dem dritten und vierten Abkommen von 1996 341.000 DM zur Verfügung. Die Vermittlung von Kenntnissen über das humanitäre Völkerrecht gehöre seit Bestehen der Bundeswehr zum festen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung aller Soldaten. Die Einsatz- und Ausbildungsunterlagen, die in Form von Dienstvorschriften für diese Ausbildung zur Verfügung gestellt würden, berücksichtigten das humanitäre Völkerrecht. Wehrpflichtige erhielten im Rahmen der Grundausbildung Unterricht über das humanitäre Völkerrecht. Das humanitäre Völkerrecht gehöre zum Kern der Unteroffiziers- und Offiziersausbildung. Es sei Bestandteil von Verwendungslehrgängen am VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr. Das Zentrum Innere Führung biete Seminare zur Weiterbildung im humanitären Völkerrecht an. Die Truppe werde unmittelbar vor einem konkreten VN-Einsatz im Rahmen der Kontingentsausbildung im humanitären Völkerrecht unterrichtet. Die militärische Ausbildung sei an den Erfordernissen des humanitären Völkerrechts ausgerichtet. In erster Linie berieten und unterrichteten die Rechtsberater, Rechtslehrer und Rechtsdozenten der Bundeswehr über das humanitäre Völkerrecht. Die Verbreitung von Kenntnissen über das humanitäre Völkerrecht in den Streitkräften, im Zivilschutz und im DRK werde wesentlich unterstützt durch die Zeitschrift "Humanitäres Völkerrecht", die vom DRK und dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum herausgegeben werde und die "Bochumer Schriften zur Friedenssicherung und zum Humanitären Völkerrecht" des genannten Instituts unterstützt.430



    425 BT-Drs. 13/5689, 7; s. Rz. 199.
    426 Abgedruckt im Bull. vom 13.10.1991, 1039 f.
    427 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 13/6170, 5.
    428 BT-Drs. 13/5689, 7.
    429 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Anhangs I des Zusatzprotokolls I, BR-Drs. 596/96 vom 16.8.1996.
    430 Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Parlamentarische Anfrage, BT-Drs. 13/ 6197, 2.