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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1997


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Roland Bank


IX. Menschenrechte und Minderheiten

5. Minderheiten

     102. Der deutsche Bundestag hat am 12. Juni 1997 dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz zur Ratifizierung des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten zugestimmt.

     Das 1993 von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Europarats initiierte und 1995 verabschiedete Rahmenübereinkommen enthält verbindliche Grundsätze zum Schutz nationaler Minderheiten und der Rechte und Freiheiten ihrer Angehörigen, ohne den Minderheiten oder ihren Mitgliedern direkte Rechte einzuräumen. Es verbietet jede Diskriminierung einer Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit sowie die Assimilierung von Angehörigen nationaler Minderheiten gegen deren Willen. Der Begriff der nationalen Minderheit ist im Übereinkommen nicht definiert. Bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde beim Generalsekretär des Europarats am 10. September 1997 hat die Bundesrepublik Deutschland folgende Erklärung abgegeben:

"Das Rahmenübereinkommen enthält keine Definition des Begriffs der nationalen Minderheiten. Es ist deshalb Sache der einzelnen Vertragsstaaten zu bestimmen, auf welche Gruppen es nach der Ratifizierung Anwendung findet. Nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland sind die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit und die Angehörigen des sorbischen Volkes mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das Rahmenübereinkommen wird auch auf die Angehörigen der traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen der Friesen deutscher Staatsangehörigkeit und der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit angewendet."171

     Zur Ausführung des Art. 11 Abs. 1 des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, der das Recht zur Führung eines Names in der Minderheitensprache betrifft, wurde ein Gesetz beschlossen. Aufgrund dieses sogenannten Minderheiten- Namensänderungs-Gesetzes können Personen, auf die sowohl das Rahmenübereinkommen, als auch deutsches Namensrecht Anwendung finden, ihren Namen in die Minderheitensprache übersetzen oder phonetisch angleichen lassen bzw. einen früher in der Sprache der nationalen Minderheit oder Volksgruppe geführten Namen annehmen.172

     In ihrer Denkschrift zum Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten würdigt die Bundesregierung die allgemeine Bedeutung des Abkommens wie folgt:

"Der Schutz nationaler Minderheiten und ihrer Rechte und Freiheiten ist für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben der Völker von grundlegender Bedeutung. Angehörigen nationaler Minderheiten muß es möglich sein, ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und zu entwickeln und dabei wirklich gleichberechtigt am Gemeinschaftsleben teilzunehmen. Ein wirksamer Schutz der Rechte und Freiheiten von Angehörigen nationaler Minderheiten ist unverzichtbare Voraussetzung eines dauerhaften inneren und äußeren Friedens. Die tiefgreifenden Umwälzungen der letzten Jahre in den Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas haben diese historische Erfahrung ebenso eindringlich bestätigt wie die ethnischen Konflikte zwischen den verschiedenen Völkern und Volksgruppen in Teilen des ehemaligen Jugoslawiens. Daher kommt dem Schutz nationaler Minderheiten im innerstaatlichen Recht und im Verwaltungshandeln besondere Bedeutung zu.

Die Fortentwicklung des allgemeinen Menschenrechtsschutzes ist ebenfalls ein wichtiger Beitrag zum Schutz nationaler Minderheiten. Ein wirksamer Schutz nationaler Minderheiten und der Rechte und Freiheiten ihrer Angehörigen erfordert allerdings zugleich spezifische Maßnahmen, die der besonderen Situation der nationalen Minderheiten und ihrer Angehörigen Rechnung tragen."173

     Im Hinblick auf die Durchführung des Übereinkommens weist die Bundesregierung darauf hin, daß die Vertragsstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum hätten. Individuelle Rechte enthalte das Rahmenübereinkommen - entsprechend dem Mandat des Wiener Gipfels - nicht.174

     Zum Anwendungsbereich des Abkommens in Deutschland führt die Bundesregierung folgendes aus:

"Die Bundesregierung sieht als nationale Minderheiten Gruppen der Bevölkerung an, die folgenden fünf Kriterien entsprechen:

- ihre Angehörigen sind deutsche Staatsangehörige,

- sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte, also eigene Identität,

- sie wollen diese Identität bewahren,

- sie sind traditionell in Deutschland heimisch,

- sie leben hier in angestammten Siedlungsgebieten."175

     Diese Kriterien würden von der dänischen Minderheit ebenso wie vom sorbischen Volk erfüllt. Die Tatsache, daß Friesen und Sinti und Roma nicht unter den Begriff der nationalen Minderheit subsumiert werden, wird von der Bundesregierung mit einer Differenzierung zwischen den Begriffen der "Volksgruppe" und der "nationalen Minderheit" begründet:

"Die Friesen im Nordwesten der Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen leben ebenso wie die Dänen und Sorben in angestammten Siedlungsgebieten. Die Mehrheit der Friesen betrachtet sich nicht als nationale Minderheit, sondern als Volksgruppe im deutschen Volk mit besonderer Sprache, Herkunft und Kultur. Die deutschen Sinti und Roma sind ebenso eine Volksgruppe, die traditionell in Deutschland heimisch ist. Sie leben aber nicht in einem oder mehreren angestammten Siedlungsgebieten, sondern nahezu in ganz Deutschland, meist in kleinerer Zahl. Wie die Dänen und Sorben wollen auch diese Volksgruppen ihre eigene Identität erhalten. Sie erwarten und erhalten hierfür staatlichen Schutz und staatliche Förderung.

Das besondere Konzept des Rahmenübereinkommens, das den Staaten einen breiten Gestaltungsspielraum beläßt, ermöglicht es, das Übereinkommen auf alle diese vier traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen anzuwenden. Damit ist zugleich die Anwendung auf sämtliche in Deutschland heimischen Volksgruppen sichergestellt."176

     Abschließend würdigt die Bundesregierung das Übereinkommen als einen wichtigen Beitrag zu Frieden, Stabilität und demokratischer Sicherheit in Europa. Die Grundsätze und Prinzipien des Rahmenübereinkommens seien in der Bundesrepublik Deutschland im wesentlichen bereits erfüllt. Neben dem Grundrechtsschutz enthalte das deutsche Recht außerdem verfassungs- und einfachrechtliche Vorschriften, die ganz spezifisch dem Schutz der nationalen Minderheiten und traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen dienten. Nicht zuletzt komme dem Rahmenübereinkommen mit Blick auf die deutschen Minderheiten in den Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas Bedeutung zu, deren Schutz bislang - neben dem nationalen Recht der Wohnsitzstaaten und überwiegend auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention - meist durch bilaterale Verträge gewährleistet sei.177

     103. Auf eine Kleine Anfrage äußerte sich die Bundesregierung zum Zentrum für Minderheitsfragen. Das "European Centre for Minority Issues" (ECMI), das in Flensburg ansässige Europäische Zentrum für Minderheitsfragen, soll nach Auskunft der Bundesregierung zur friedlichen Koexistenz von Mehrheitsvölkern und Minderheiten in Europa beitragen. Die Bundesregierung weist die Auffassung zurück, daß die Beschränkung der Arbeit des ECMI auf "nationale Minderheiten" und "traditionelle (autochtone) Volksgruppen" geeignet sei, ökonomische, soziale, kulturelle oder religiöse Konflikte innerhalb einer Gesellschaft zu ethnisieren. Wegen der von ethnischen Konflikten in Teilen Europas ausgehenden Gefahren für den Frieden hätten Maßnahmen zur Konfliktentschärfung und -bewältigung "besondere Bedeutung".178

     Aufgabe des ECMI sei es unter anderem, durch seine wissenschaftliche Arbeit zu solchen Konfliktlösungen beizutragen. Sie trage auch dadurch zum Schutz nationaler Minderheiten und traditioneller Volksgruppen bei, indem Projekte der "Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen" (FUEV) gefördert würden. Hierbei handele es sich um einen Dachverband von nahezu 100 Minderheitenorganisationen in 29 Staaten. Der Verband sei demokratisch verfaßt und strebe entsprechend seiner Satzung "das harmonische und gutnachbarschaftliche Zusammenleben von Mehrheitsvolk und Minderheit" an.179

     104. Das in Kiew am 3. September 1996 unterzeichnete Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der in der Ukraine lebenden Personen deutscher Abstammung, welches durch Austausch gleichlautender Noten zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Ukraine am 30. Juli 1997 ergänzt wurde, ist am 1. August 1997 in Kraft getreten.180

     Das Abkommen bezieht sich auf ukrainische Staatsangehörige, die ihren ständigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Ukraine haben und sich nach ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Kriterien der deutschen nationalen Minderheit zuordnen, sowie Personen deutscher Abstammung, die entweder in den Jahren 1992 bis 1995 in die Ukraine zur ständigen Wohnsitznahme zugesiedelt sind oder die aus dem heutigen Hoheitsgebiet der Ukraine zwangsweise umgesiedelt wurden, und deren Nachkommen, die während der Geltungsdauer dieses Abkommens dorthin zurückkehren (Art. 1).

     Unter ausdrücklicher Anerkennung der in den OSZE-Dokumenten niedergelegten Standards zum Schutz nationaler Minderheiten (Art. 3) werden im Hinblick auf die durch das Abkommen geschützten Personen folgende Rechte anerkannt: das Recht, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiter zu entwickeln (Art. 4); sich privat und in der Öffentlichkeit ihrer Muttersprache frei zu bedienen, in ihr Informationen auszutauschen und zu verbreiten sowie dazu Zugang zu haben (Art. 5); ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten entsprechend den allgemein anerkannten internationalen Standards im Bereich der Menschenrechte unter geltender Gesetzgebung der Ukraine voll und wirksam auszuüben (Art. 6). Die Ukraine verpflichtet sich, den Personen deutscher Abstammung, die aus dem heutigen Hoheitsgebiet der Ukraine zwangsweise umgesiedelt wurden und die nunmehr zurückkehren möchten, die Wiederansiedlung und die Wiedereingliederung in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen und zu fördern. Weiterhin verpflichtet sich die Ukraine, den deutschstämmigen Personen, die in den Geltungsbereich des Abkommens fallen, den zügigen Erwerb der ukrainischen Staatsangehörigkeit zu ermöglichen (Art. 7). Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die Ansiedlung und die Integration der genannten Personen durch wirtschaftliche und finanzielle Hilfeleistung, kulturelle Maßnahmen sowie die Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen zu unterstützen (Art. 8).

    In den zum Abkommen ausgetauschten Verbalnoten stellen die Regierungen der beiden Staaten fest, daß die gegenwärtige Lage der in den Jahren 1992 bis 1995 in die Ukraine zugesiedelten Deutschen, insbesondere derjenigen, die bislang noch nicht im Besitz der ukrainischen Staatsbürgerschaft sind, zusätzlicher Anstrengungen zur beschleunigten Integration in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bedarf. Insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, zum Beispiel bei Pacht und Erwerb von Grund und Boden sowie der Gründung wirtschaftlicher Unternehmen gibt es offenbar rechtliche Defizite zu Lasten der deutschstämmigen Personen die nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen.181

     105. Für die Hilfen zugunsten der Deutschen in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) standen nach Angaben der Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Jahr 1997 rund 100 Mio. DM zur Verfügung. Bei den Hilfen handele es sich vor allem um gemeinschaftsfördernde und soziale Maßnahmen, um wirtschafts- und landwirtschaftsbezogene Hilfen, um Baumaßnahmen und zum Teil um infrastrukturelle Hilfen. Die Unterstützung erfolge grundsätzlich im Einvernehmen mit dem jeweiligen Staat. Die Bundesregierung erläutert weiter, die seit 1990 durchgeführten Hilfsmaßnahmen hätten das Ziel, den Angehörigen der jeweiligen deutschen Minderheit eine Zukunftsperspektive für das Leben in der jetzigen Heimat aufzuzeigen und ihnen eine Alternative zur Aussiedlung nach Deutschland zu geben.182



    171 BGBl. 1998 II, 57.
    172 BGBl. 1997 II, 1406.
    173 BT-Drs. 13/6912 vom 11.2.1997, 19.
    174 Ibid., 21.
    175 Ibid., 21.
    176 Ibid., 21.
    177 Ibid., 29.
    178 BT-Drs. 13/7598 vom 7.5.1997, 4.
    179 Ibid.
    180 BGBl. 1998 II, 87.
    181 Bull. Nr. 71 vom 10.9.1997, 854 f.
    182 BT-Drs. 13/8104 vom 26.6.1997, 3.