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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998


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Karen Raible


IX. Menschenrechte und Minderheiten

3. Praxis auf europäischer Ebene

     65. Im 59. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union, der den Berichtszeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 1998 umfaßt, legte die Bundesregierung Einzelheiten der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union im Jahre 1998 dar. Ihre geschlossene menschenrechtspolitische Meinungsführerschaft zeige sich in den gemeinsamen Richtlinien zur politischen Bekämpfung der Todesstrafe, dem gemeinsamen Standpunkt betreffend die Menschenrechte, die demokratischen Grundsätze, die Rechtsstaatlichkeit und die verantwortungsvolle Staatsführung in Afrika, dem EU-Verhaltenskodex für Waffenexporte und in zahlreichen Erklärungen zu Menschenrechtsfragen in einzelnen Ländern. Beim vom Europarat durchgeführten europäischen Vorbereitungsprozeß zur Weltrassismuskonferenz der Vereinten Nationen im Jahre 2001 erweise sich die Europäische Union als treibende Kraft.142

    In den Leitlinien für eine Unionspolitik gegenüber Drittländern betreffend die Todesstrafe, die vom Ministerrat der Europäischen Union am 29. Juni 1998 verabschiedet wurden,143 geht die Europäische Union über die strengen Bedingungen der Vereinten Nationen zum Schutz von zum Tode Verurteilten hinaus, indem sie sich zum Ziel setzt, zum einen nach weltweiter Abschaffung der Todesstrafe als eine von allen Unionsstaaten mit Nachdruck vertretenen Politik zu streben und zum anderen hinsichtlich der Länder, in denen die Todesstrafe noch besteht, zur schrittweisen Einschränkung ihrer Anwendung aufzurufen und auf Einhaltung von Mindestnormen zu drängen. Die Einhaltung folgender Mindestnormen hält die Europäische Union für wichtig:
- die Todesstrafe darf nur für schwerste Verbrechen verhängt werden;
- die Todesstrafe darf nur für ein Verbrechen verhängt werden, sodaß sie zum Zeitpunkt seiner Begehung angedroht war;
- die Todesstrafe darf nicht verhängt werden gegen Personen, die zum Zeitpunkt der Begehung des Verbrechens noch keine 18 Jahre alt waren, schwangere Frauen oder Mütter von Neugeborenen, geisteskranke Personen;
- die Todesstrafe darf nur verhängt werden, wenn die Schuld des Angeklagten in eindeutiger und überzeugender Weise, die andere Erklärung des Sachverhaltes zuläßt, nachgewiesen wurde;
- die Todesstrafe darf nur aufgrund eines von einem zuständigen Gericht erlassenen rechtskräftigen Urteils im Anschluß an ein Gerichtsverfahren vollstreckt werden;
- jeder zum Tode Verurteilte hat Anspruch auf Einlegung eines Rechtsmittels bei einem höherinstanzlichen Gericht;
- jeder zum Tode Verurteilte hat gegebenenfalls Anspruch auf Vorlage einer Einzelbeschwerde nach internationalen Verfahren;
- jeder zum Tode Verurteilte hat das Recht, um Begnadigung oder Umwandlung der Strafe zu bitten;
- die Todesstrafe darf nicht in Verletzung der internationalen Verpflichtungen eines Staates vollstreckt werden;
- die Dauer, die nach der Verurteilung zum Tode vergangen ist, kann als Kriterium herangezogen werden;
- bei der Vollstreckung der Todesstrafe ist darauf zu achten, daß so wenig Leiden wie möglich zugefügt wird;
- die Todesstrafe sollte nicht als politischer Racheakt unter Verletzung der Mindestnormen verhängt werden.

     66. Auf eine Kleine Anfrage gab die Bundesregierung am 26. Februar 1998 Auskunft über die Koordination der Menschenrechtsaktivitäten der Europäischen Union und gemeinsame Initiativen auf der anstehenden 54. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf.144 Die Bundesregierung prüfe zur Zeit zusammen mit den Partnern in der Europäischen Union, in welcher geeigneten Form die Menschenrechtslage in verschiedenen Ländern behandelt werden könne.

    In bezug auf China legte sie dar, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu der Überzeugung gelangt seien, daß angesichts einer Reihe positiver Entwicklungen in den menschenrechtlichen Rahmenbedingungen weitere Verbesserungen in der Menschenrechtssituation durch eine von Dialog und Kooperation bestimmte Politik angestrebt werden sollen. Zu diesen positiven Entwicklungen gehören unter anderem die Zeichnung des Internationalen Paktes für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte durch China, die Einladung der Regierung in Peking an die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte zu einem Besuch sowie erkennbare Ansätze zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in dem Land. Wie im Vorjahr halte die Bundesregierung eine Erklärung der Europäischen Union für notwendig, China für das System der Umerziehung durch Arbeit, die exzessive Verhängung der Todesstrafe und die Verfolgung und willkürliche Verhaftung von Dissidenten zu kritisieren sowie China aufzufordern, alle Aktivitäten einzustellen, die die kulturelle, ethnische und religiöse Identität der Tibeter bedrohen.

    In bezug auf Algerien werde die Bundesregierung sich dafür einsetzen, daß die algerische Regierung zu ihrer Verpflichtung steht, mit den Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten, um Menschenrechtsverletzungen wirksam vorzubeugen. Andere Stellungnahmen der Bundesregierung betrafen Afghanistan und die Türkei.145

    67. Zum Abschluß des deutschen Vorsitzes im Europarat hob Bundesaußenminister Kinkel in der 102. Sitzung des Ministerkomitees am 5. Mai 1998 drei Punkte hervor, die Weiterentwicklung der Menschenrechte und der Demokratie in ganz Europa, die Notwendigkeit einer besseren Arbeitsteilung zwischen den Institutionen sowie die erforderlichen Reformen des Europarates. Von der Schaffung des Ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erhoffe er sich eine erhebliche Verkürzung der Verfahren. Außerdem solle der Europarat enger mit der OSZE, der Europäischen Union und den Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Der Europarat müsse seinen Erfahrungsvorsprung beim Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Prozeß der Osterweiterung der Europäischen Union einbringen. Auf Grundlage der engeren Kooperation mit den Vereinten Nationen werde der Europarat die für 2001 geplante Weltrassismuskonferenz intensiv vorbereiten. Zu den notwendigen Reformen des Europarats zählen nach Ansicht Kinkels die Verbesserung der Arbeitsmethoden, die Funktion des Europarates im europäischen Konzert sowie die Rolle der Parlamentarischen Versammlung. Weiterhin würdigte Kinkel die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch Rußland:

"Für uns Deutsche war die Aufnahme in den Europarat 1950 der erste große Schritt zurück in die Gemeinschaft der europäischen Völker. Wir haben uns aufgrund dieser Erfahrung für die rasche Aufnahme der Mittel-, Ost- und Südosteuropäischen Länder eingesetzt. Mit inzwischen 40 Mitgliedstaaten und 6 weiteren Beitrittskandidaten ist die europäische Familie nirgendwo sonst so komplett wie hier."146

    68. In ihrer Anwort auf eine Kleine Anfrage betreffend die Europäische Sozialcharta ging die Bundesregierung am 3. September 1998 auf die Bedeutung der Europäischen Sozialcharta auf der Ebene der Europäischen Union ein.147 In der Präambel zum EU-Vertrag und in Art. 136 der durch den Vertrag von Amsterdam konsolidierten Fassung des EG-Vertrages werde zwar auf die sozialen Grundrechte, "wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 1989 festgelegt sind", verwiesen. Aufgrund des nur programmatischen Charakters dieser Vorschriften können daraus keine unmittelbaren Rechte und Verpflichtungen abgeleitet werden. Ferner stelle die Europäische Sozialcharta auch kein Vorbild für die Schaffung eines rechtsverbindlichen Systems sozialer Grundrechte und sozialer Standards in der Europäischen Union dar, da die in der Europäischen Sozialcharta enthaltenen Gewährleistungen hinsichtlich der rechtlichen Ausgestaltung nicht mit dem System der Arbeits- und Sozialstandards in der Europäischen Union vergleichbar sind:

"Gemäß den Regelungen im Anhang zur ESC enthält diese rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters, die der Vertragsstaat mit der Ratifizierung eingeht, jedoch keine unmittelbar anwendbaren Individualrechte. Der einzelne Bürger erhält durch die ESC in Verbindung mit dem Vertragsgesetz somit keine Rechte. Demgegenüber sind die Arbeits- und Sozialstandards in der EU in einem mehrstufigen Verfahren als Mindeststandards entwickelt worden. 11 Mitgliedstaaten der EG hatten im Dezember 1989 die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (EG-Sozialcharta) angenommen, die den Weg zu konkreten Regelungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Rahmen ihrer Zuständigkeit ebnete."148

    69. Am 3. November 1998 wurde zu Beginn der 103. Sitzung des Ministerkomitees des Europarates der neue Ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eröffnet. Der neue Ständige Gerichtshof für Menschenrechte wird als nunmehr einziges und ständiges Gremium Beschwerden wegen der Verletzung von Menschenrechten in den 40 Mitgliedstaaten des Europarates prüfen.149



    142 BT-Drs. 14/711.
    143 Dokumentennummer 9199/98, PESC 155 vom 3.6.1999.
    144 BT-Drs. 13/9991.
    145 WIB 5/98, 57.
    146 Bull. Nr. 31 vom 13.5.1998, 373 f.
    147 BT-Drs. 13/11415, 5 f.
    148 Ibid., 5.
    149 FAZ vom 4.11.1998.