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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999


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Silja Vöneky/Markus Rau


XVII. Friedenssicherung und Kriegsrecht

4. Selbstverteidigung und andere Fälle der Gewaltanwendung

     235. In seiner Rede vor der 54. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 22. September 1999 machte Bundesaußenminister Fischer vor dem Hintergrund des militärischen Eingreifens der NATO im Kosovo-Konflikt743 folgende Ausführungen zur Praxis der humanitären Intervention durch einzelne Staaten oder Staatengruppen einerseits, den Vereinten Nationen andererseits:

     "Die Frage der Friedenssicherung stellt sich heute unter gänzlich veränderten Bedingungen als in der Gründungsphase der VN. Zum einen sind heute die meisten Konflikte inner- anstatt wie früher zwischenstaatlichen Ursprungs. Zum anderen ist die Rolle des Nationalstaats durch die gestiegene Bedeutung der Menschenrechte und die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft erheblich relativiert worden. Die Frage der Friedenssicherung stellt sich vor diesem Hintergrund zunehmend in einem Spannungsfeld zwischen der klassischen Staatensouveränität und dem Schutz der Menschenrechte.
     Was ist zu tun, wenn ganze Staaten kollabieren und die Zivilbevölkerung in nicht enden wollenden Bürgerkriegen von allen Seiten massakriert wird? Was, wenn ethnische Spannungen in einem Staat durch verbrecherische Regierungen teilweise erst hervorgerufen und dann mittels Progromen, Massenvertreibung und Massenmord beantwortet werden? Darf dann den VN die Staatssouveränität wichtiger sein als der Schutz der Menschen und ihrer Rechte? Ruanda, Kosovo und Ost-Timor sind dramatische Beispiele dafür.
     Der Kosovo-Konflikt stellt in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur dar. Die Weltgemeinschaft hat es dort nicht mehr akzeptiert, daß der Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt und Terror und Vertreibung als Mittel der Politik eingesetzt werden. Keine Regierung hat (...) das Recht, sich hinter dem Prinzip der staatlichen Souveränität zu verstecken, um die Menschenrechte zu verletzen. Die Nichteinmischung in 'innere Angelegenheiten' darf nicht länger als Schutzschild für Diktatoren mißbraucht werden. (...)
     Der Kosovo-Konflikt stellt zugleich aber auch eine Wegscheide für die Entwicklung der internationalen Beziehungen dar. Wie wird die Staatengemeinschaft künftig entscheiden (...), wenn es darum geht, massive Menschenrechtsverletzungen gegen ein anderes Volk zu unterbinden? Es sind zwei Entwicklungen denkbar:
     Entweder es bildet sich eine Praxis 'humanitärer Interventionen' außerhalb des UN-Systems heraus. Dies wäre sehr problematisch. Das Eingreifen im Kosovo erfolgte in einer Situation der Selbstblockade des Sicherheitsrats nach dem Scheitern aller Bemühungen um eine friedliche Lösung als Nothilfe und ultima ratio zum Schutz der vertriebenen Kosovo-Albaner. Die Geschlossenheit der europäischen Staaten und des westlichen Bündnisses wie auch verschiedene Resolutionen des Sicherheitsrats waren dabei von entscheidender Bedeutung. Der nur in dieser besonderen Lage gerechtfertigte Schritt darf jedoch nicht zu einem Präzedenzfall für die Aufweichung des Monopols des VN-Sicherheitsrats zur Autorisierung von legaler internationaler Gewaltanwendung - und schon gar nicht zu einem Freibrief für die Anwendung äußerer Gewalt unter humanitärem Vorwand werden. Dies würde Willkür und Anarchie Tür und Tor öffnen und die Welt ins 19. Jahrhundert zurückwerfen.
     Der Ausweg aus dem Dilemma kann deshalb nur darin liegen, das bestehende System der Vereinten Nationen derart weiterzuentwickeln, daß diese künftig im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen rechtzeitig eingreifen können, allerdings erst nach Ausschöpfung aller Mittel friedlicher Konfliktbeilegung und (...) in einem rechtlich strikt begrenzten und kontrollierten Rahmen."744



    743 Siehe dazu oben Ziff. 234.

    744 Bull. Nr. 57 vom 24.9.1999, 592.