Rainer Grote
1. Staatsangehörigkeit
44. Die Bundesregierung bekräftigte im Berichtszeitraum ihre Entschlossenheit, eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorzunehmen105. In seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion auf Erleichterung der Einbürgerung unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit und dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts erläuterte Bundesinnenminister Kanther in der 18. Sitzung des Bundestages die Grundsätze der geplanten Novellierung. Dabei bekannte er sich zu dem Abstammungsprinzip als Grundlage auch des künftigen deutschen Staatsangehörigkeitsrechts:
"Die Regelungen über den Erwerb der Staatsangehörigkeit, deren Aufgabe es ist, in staatskonstitutiver Weise das Staatsvolk und damit in einer Demokratie den Träger der Staatsgewalt zu bestimmen, beruhen nach völkerrechtlichen Grundsätzen stets auf einer Prognose über die Dauerhaftigkeit des Näheverhältnisses der betroffenen Person zum jeweiligen Staat. Diese Zuordnungsprognose und damit die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitserwerbs hängt von den spezifischen geographischen, wirtschaftlichen, bevölkerungspolitischen Gegebenheiten des einzelnen Staates ab, und deshalb geben die Staaten auch unterschiedliche Antworten auf das Problem der doppelten Staatsangehörigkeit. Den deutschen Rechtsstandpunkt vertreten in Europa z.B. Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, die baltischen Staaten, Polen, Rußland, die Tschechische Republik, Luxemburg, Österreich und Spanien.
Die dauerhafte Zuordnung wird für die Bundesrepublik Deutschland beim Geburtserwerb durch die Abstammung von einem Elternteil mit deutscher Sprache gewährleistet und bei der Einbürgerung durch die dauerhafte Hinwendung zu diesem Staat, die durch die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit, also der bisherigen Zuordnung zu einem anderen Staat, dokumentiert wird. [....] In der öffentlichen Diskussion wird der Abstammungsgrundsatz häufig gegenüber dem angeblich fortschrittlichen Territorialgrundsatz [...] als Ausfluß eines überholten völkischen Denkens betrachtet. Das ist von der Sache und von der Geschichte her völlig falsch. Historisch ist das Abstammungsprinzip mit der Entstehung der republikanischen und demokratischen Staaten im 19. Jahrhundert an die Stelle des im absolutistischen Staat bevorzugten Bodenrechtsprinzips getreten."106 |
45. Der Bundesinnenminister verteidigte die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegenüber der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts:
"Was die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit betrifft, so wird sie dem Charakter der Staatsangehörigkeit als staatskonstitutiver Grundbeziehung nicht gerecht. Darauf beharren wir weiterhin. Ein Mindestmaß an Identifikation des einzelnen mit dem Gemeinwesen, dem er als Staatsangehöriger zugehören will, muß vorhanden sein und kann nicht juristisch fingiert werden. Diese Identifikation muß nachgewiesen werden. Sie ist nicht beliebig. Auch die deutsche Staatsangehörigkeit ist nicht beliebig. Sie setzt eine ungeteilte Loyalität zu diesem Staat voraus, während die doppelte Staatsangehörigkeit Loyalitätspflichten verteilt und auch Loyalitätswidersprüche ohne weiteres ermöglicht und sogar wahrscheinlich macht."107 |
"Die mit den Einbürgerungstatbeständen des Ausländergesetzes in der vergangenen Legislaturperiode eingeleitete Tendenz zur Ausgestaltung der Einbürgerung für die auf Dauer hier lebenden Ausländer als Anspruch � eine Tendenz, die in der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts fortgeführt werden soll, ergänzt durch die Einführung einer Kinderstaatszugehörigkeit � war und ist als Alternative zu den Vorstellungen des Bodenrechtserwerbs und der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit zu verstehen.
Durch die Anspruchstatbestände und die Kinderstaatszugehörigkeit soll der Staatsangehörigkeitserwerb unter Vermeidung der mit dem Territorialprinzip und der Hinnahme von Mehrstaatigkeit verbundenen Nachteile erheblich erleichtert werden. Eine Kumulation beider Lösungswege liefe auf eine völlig unausgewogene Staatsangehörigkeitspolitik hinaus, die der staatskonstitutiven Aufgabe des Instituts der Staatsangehörigkeit nicht gerecht wird."108 |
46. Die Bundesregierung nahm während des Berichtszeitraums im Rahmen einer schriftlichen Anfrage auch zu dem Problem der sog. Rückbürgerung Stellung. Sie habe Anhaltspunkte dafür, daß einige Staaten ihren ehemaligen Staatsangehörigen ihre Staatsangehörigkeit häufig nach kurzer Frist erneut verliehen, nachdem sie die Betroffenen zum Zweck der Einbürgerung in Deutschland aus der Staatsangehörigkeit entlassen oder deren Verzicht auf die Staatsangehörigkeit genehmigt hätten. Um dem unverzüglichen Wiedererwerb der ursprünglichen Staatsangehörigkeit nach einer Einbürgerung, die nach deutschem Recht unter Vermeidung von Mehrstaatigkeit erfolgt sei, entgegenzuwirken, sollten die Vorschriften über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei der anstehenden Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts nach Möglichkeit dahin gehend geändert werden, daß der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit beim willentlichen Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit vorbehaltlich einer Beibehaltungsgenehmigung für dringende Ausnahmefälle auch dann automatisch eintrete, wenn der Betroffene zu diesem Zeitpunkt in Deutschland lebe. Bisher trete dieser Verlust ein, wenn der Lebensmittelpunkt des Betroffenen im Zeitpunkt des Erwerbs der anderen Staatsangehörigkeit nicht in Deutschland liege110.
47. Im Hinblick auf die doppelte Staatsbürgerschaft der deutschstämmigen Polen stellte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage klar, daß die deutschen Staatsangehörigkeitsbehörden in Polen lebenden polnischen Staatsangehörigen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit verleihen, sondern lediglich feststellen, daß bestimmte Personen von Gesetzes wegen die deutsche Staatsangehörigkeit immer noch besitzen. Es handele sich dabei vorwiegend um Deutsche aus den Gebieten des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, denen der polnische Staat nach einer gewissen Zeit seine Staatsangehörigkeit verliehen habe. Dies habe nach dem damals wie heute geltenden deutschen Recht nicht zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit geführt, weil der Erwerb der polnischen Staatsangehörigkeit regelmäßig nicht auf Antrag, sondern ohne oder sogar gegen den Willen der Betroffenen erfolgt sei:
"Jeder deutsche Staatsangehörige, und damit auch ein deutsch-polnischer Mehrstaater, hat einen Rechtsanspruch darauf, daß auf sein Verlangen seine deutsche Staatsangehörigkeit festgestellt wird. Die Versagung eines Staatsangehörigkeitsausweises würde deutschen Staatsangehörigen gegenüber in die Nähe des durch Artikel 16 Abs. 1 Satz 1 GG verbotenen Entzuges der deutschen Staatsangehörigkeit rücken, wie das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 16. September 1966 festgestellt hat."111 |
Die Bundesregierung hat aus ihren Gesprächen mit der polnischen Regierung nicht den Eindruck, daß sich aus dem derzeitigen deutschen Staatsangehörigkeitsrecht eine Belastung der deutsch-polnischen Beziehungen ergibt. In beiden Rechtsordnungen gilt das Abstammungsprinzip, und demgemäß erwerben Kinder eines Elternteils, der neben der polnischen auch noch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, durch Geburt beide Staatsangehörigkeiten. Umgekehrt gilt dies nach polnischem Recht aber auch für die hier lebenden deutsch-polnischen Doppelstaater.
Die polnische Seite hat ihr Interesse daran bekundet, daß langfristig die im Asylkompromiß der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD am 6. Dezember 1992 vereinbarte Begrenzung der automatischen Vererbbarkeit der deutschen Staatsangehörigkeit bei fehlendem Inlandsbezug realisiert wird, wie dies im Rahmen der Überlegungen für eine umfassende Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts vorgesehen ist."112 |
48. Im Berichtszeitraum setzte die Bundesregierung ihre Bemühungen fort, die sich aus dem Schlußprotokoll zum deutsch-iranischen Niederlassungsabkommen vom 17. Februar 1929113 ergebenden Hindernisse für die Einbürgerung iranischer Staatsangehöriger zu beseitigen. In Abschnitt II des Schlußprotokolls hatten sich das frühere Deutsche Reich und das damalige Iranische Kaiserreich verpflichtet, keine Angehörigen des anderen Staates ohne vorherige Zustimmung seiner Regierung einzubürgern. Die Bundesregierung bekräftigte in ihrer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage, daß sie diese Regelung für nicht mehr zeitgemäß halte.114 Durch Notenwechsel vom 28. März 1995 und 1. Mai 1995 kamen die Bundesregierung und die Regierung der Islamischen Republik Iran überein, Abschnitt II des Schlußprotokolls des Niederlassungsabkommens aufzuheben.115