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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


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Rainer Grote

XV. Europäische Gemeinschaften

3. Sonstige Entwicklungen

    263. Im Berichtszeitraum leitete die Bundesregierung das Ratifikationsverfahren zu der Vereinbarung vom 21. Juni 1994 über die Satzung der Europäischen Schulen ein.675 Bei den Europäischen Schulen handelt es sich um zwischenstaatliche, öffentliche Lehranstalten, in denen den Kindern der Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften Schulunterricht erteilt wird. Die neue Vereinbarung ersetzt die Satzung der Europäischen Schulen vom 12. April 1957676 und das zugehörige Protokoll vom 13. April 1962677. Durch die Vereinbarung werden die Europäischen Gemeinschaften Vertragsparteien der Satzung. Die Europäische Kommission erhält damit Sitz und Stimme im Obersten Rat (Art. 8), dem zentralen Lenkungsgremium der Europäischen Schulen. Des weiteren sieht die Vereinbarung zur Verbesserung der Effizienz des Lenkungsgremiums die Möglichkeit von Mehrheitsbeschlüssen (mit Zweidrittelmehrheit) im Obersten Rat vor (Art. 9). Der Umfang der Mitbestimmung von Eltern und Lehrern wird erweitert (Art. 19, 22, 23). Für Verwaltungsstreitverfahren ist eine Beschwerdekammer zuständig (Art. 27). Dagegen ist für Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung und Anwendung der Vereinbarung, die im Obersten Rat nicht beigelegt werden können, der Europäische Gerichtshof zuständig (Art. 26).

    264. Am 16. November 1995 stimmte der Bundestag den Protokollen vom 19. Dezember 1988 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 19. Juni 1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sowie zur Übertragung bestimmter Zuständigkeiten für die Auslegung dieses Übereinkommens auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu.678 Mit dem Ersten Auslegungsprotokoll wird den Obersten Gerichtshöfen der Vertragsstaaten die Möglichkeit gegeben, Fragen, die sich auf die Auslegung des Schuldvertragsübereinkommens von 1980 oder der Übereinkommen über den Beitritt der Staaten zu dem Schuldvertragsübereinkommen beziehen, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (Art. 1, 2). Außerdem sollen die zuständigen Stellen der Vertragsstaaten das Recht haben, den EuGH um Stellungnahme zu einer durch die vorstehend genannten Übereinkünfte aufgeworfenen Auslegungsfrage zu ersuchen, wenn Entscheidungen von Gerichten des betreffenden Staates der vom EuGH oder dem Obersten Gerichtshof eines anderen Vertragsstaates in dieser Frage vertretenen Auslegung widersprechen (Art. 3). Nach dem Zweiten Auslegungsprotokoll besitzt der Gerichtshof generell die Kompetenz zur Auslegung des Schuldvertragsübereinkommens (Art. 1).

    265. Auf eine Kleine Anfrage nahm die Bundesregierung zur "sozialen Dimension" der Europäischen Union Stellung. Sie erklärte, daß ursprünglich � neben der Friedenssicherung nach innen und außen � vor allem die Wirtschaftsintegration das Ziel der Gemeinschaft gewesen sei. Dies erkläre sich zum einen aus der Geschichte, zum anderen daraus, daß ohne ein gesundes Wirtschaftswachstum auch kein sozialer Fortschritt zu erzielen sei. Grundlage dieses Konzeptes sei die wechselseitige Wirkung zwischen ökonomischer und sozialer Entwicklung. Das "Europa der Bürger" stehe keineswegs nur auf dem Papier, sondern sei zu einem großen Teil bereits Wirklichkeit geworden. Deutschland habe dabei eine führende Rolle übernommen und den Ausbau der sozialen Dimension der Union als "gleichwertige Ergänzung" zur Wirtschaftsgemeinschaft mitinitiiert und mitgetragen. Meilensteine der Entwicklung seien hier die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 und das in Maastricht verabschiedete Protokoll und Abkommen zur Sozialpolitik gewesen:

    "Die Bundesregierung wird auch in Zukunft konstruktiv an der Verwirklichung des neuen sozialpolitischen Aktionsprogramms der Kommission mitarbeiten. Diese Politik steht im Einklang mit der unter deutscher Präsidentschaft und auf deutsche Initiative verabschiedeten 'Entschließung des Rates vom 6. Dezember 1994 zu bestimmten Perspektiven einer Sozialpolitik der Europäischen Union: ein Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Konvergenz in der Union', die sich zum schrittweisen weiteren Ausbau eines Sockels von verbindlichen einklagbaren Mindeststandards für die Arbeitnehmer bekennt. Bei der Verwirklichung dieses Ziels wird sich die Bundesregierung von den Leitlinien dieser Entschließung leiten lassen:
� die Wettbewerbsfähigkeit der Union verbessern und Chancen für beschäftigungswirksames Wachstum stärken,
� Arbeitnehmerrechte durch soziale Mindeststandards schützen,
� das Subsidiaritätsprinzip und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten,
� schrittweise Konvergenz statt Vereinheitlichung der Sozialsysteme,
� den sozialen Dialog stärken."679
    Im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996 betonte die Bundesregierung die Notwendigkeit, zu einer gemeinsamen Sozialpolitik aller Mitgliedstaaten zurückzukehren:
    "Die Bundesregierung wird sich daher auf der Regierungskonferenz 1996 dafür einsetzen, daß das Vereinigte Königreich dem Abkommen über die Sozialpolitik 'beitritt' und damit wieder eine für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gültige Sozialpolitik möglich ist."680

    266. Im Berichtszeitraum setzte sich die Bundesregierung intensiv für die Verabschiedung einer EG-Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Entsenderichtlinie) ein, um vor allem die deutschen Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft wirksamer als bisher vor Billiglohnkonkurrenz aus anderen Mitgliedstaaten zu schützen. Eine Einigung über den von der Kommission vorgelegten Entwurf für eine EG-Entsende-Richtlinie konnte jedoch im Berichtszeitraum nicht erzielt werden. Im Integrationsbericht der Bundesregierung heißt es hierzu:

    "Eine Lösung erscheint solange ausgeschlossen, wie die Kommission offenbar auf einer obligatorischen Schwellenfrist beharrt, während mehrere Mitgliedstaaten zumindest auf der Möglichkeit einer Nullregelung bestehen."681
    Die Bundesregierung legte daher den Entwurf eines nationalen Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen vor, der die Anwendbarkeit in Deutschland zwingend geltender Arbeitsbedingungen im Bereich der Bauwirtschaft auf grenzüberschreitende Entsendefälle sicherstellen soll. Dadurch sollen "gespaltene Arbeitsmärkte" und die aus ihnen resultierenden sozialen Spannungen vermieden werden.682 Zur Frage der Vereinbarkeit einer solchen nationalen Regelung mit EG-Recht, die auch Gegenstand einer Expertenanhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung war683, führte die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung aus:
    "Mit dem vorliegenden Entwurf wird gesetzlich festgelegt, daß bestimmte wettbewerbsrelevante Arbeitsbedingungen unabhängig von der im übrigen auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Rechtsordnung auch für ausländische Arbeitgeber und ihre in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer zwingend gelten. Die deutschen Vorschriften, in denen diese Arbeitsbedingungen enthalten sind, werden als so wichtig eingestuft, daß sie sich im Weg der Sonderanknüpfung als lex fori international auch dann durchsetzen sollen, wenn auf den Sachverhalt im übrigen ausländisches Recht zur Anwendung käme.
    Diese Vorgehensweise entspricht der im Entwurf einer EG-Entsende-Richtlinie bereits angelegten Systematik [...] und stellt nach der erst jüngst wieder bestätigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes keine unzulässige Beeinträchtigung der im EG-Vertrag verankerten Dienstleistungsfreiheit des ausländischen Unternehmers dar (vgl. Urteil vom 9. August 1994, Rechtssache C 43/93, Rn. 23 � 'Van-der-Elst-Fall')."684

    267. Gegenstand einer lebhaften Diskussion im Parlament685 und in der Öffentlichkeit war im Berichtszeitraum eine Entscheidung des EuGH, in der das Gericht die Unvereinbarkeit einer sog. Quotenregelung im Bremischen Gesetz zur Gleichstellung von Mann und Frau im öffentlichen Dienst vom 20. November 1990 mit den Bestimmungen der Richtlinie 76/207/EWG über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Berufsleben feststellte.686 Nach der für EG-widrig befundenen Regelung waren Frauen bei der Übertragung von Tätigkeiten einer höheren Vergütungsgruppe bei gleicher Qualifikation vorrangig zu berücksichtigen, wenn sie in dieser Gruppe nicht mindestens zur Hälfte repräsentiert waren. Zu den Auswirkungen dieser Entscheidung auf die nationale Frauenförderung erklärte Bundesfamilienministerin Nolte im Deutschen Bundestag:

    "Weder die staatliche Frauenförderung insgesamt noch die Instrumente der Frauenförderung im Zweiten Gleichberechtigungsgesetz werden durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Frage gestellt. Dieses Urteil kann und darf deshalb nicht zum Anlaß genommen werden, Frauenförderung zurückzuschrauben. Auch nach dem Luxemburger Richterspruch bleibt die Frauenförderung dringend notwendig und möglich."687

    268. Die Bundesregierung begrüßte die zwischen Kanada und der Europäischen Union zur Beilegung des Fischereikonflikts um die Fangquoten für den Schwarzen Heilbutt getroffenen Vereinbarungen. Diese Vereinbarungen betreffen neben einer Heraufsetzung der EU-Fangquote eine verbesserte Kontrolle bei der Einhaltung der Fangbestimmungen, u.a. durch die Anwesenheit eines Beobachters auf jedem Schiff und die Entsendung zusätzlicher Inspektionsschiffe688:

    "Die Bundesregierung hält diese Bestimmungen für eine wichtige Verbesserung der NAFO-Regelungen und hat ihre Einführung im Rahmen der EU aktiv unterstützt. Über weitere Maßnahmen, wie eine Begrenzung des Fischereiaufwandes, der Anzahl der Schiffe und/oder der Fangtage, wird derzeit nachgedacht."689


    675 BT-Drs. 13/3106. Mit Gesetz vom 31.10.1996 hat der Bundestag der Vereinbarung zugestimmt, BGBl. 1996 II, 2558.
    676 BGBl. 1965 II, 1042.
    677 BGBl. 1969 II, 1302.
    678 BGBl. 1995 II, 914.
    679 BT-Drs. 13/2040, 2 ff.
    680 BT-Drs. 13/3198, 21.
    681 56. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union, BT-Drs. 13/4176, 59.
    682 BT-Drs. 13/2414.
    683 Woche im Bundestag 13/95 vom 5.7.1995, 12.
    684 BT-Drs. 13/2414, 7.
    685 Debatte zum Thema "Frauenförderung in der Europäischen Union" im Plenum des Deutschen Bundestages am 26.10.1995, PlPr., 64. Sitzung, 5512 ff.
    686 EuGH, Rs. C-450/93, Slg. 1995, I-3051.
    687 PlPr., 64. Sitzung, 5513.
    688 Vgl. Verordnungen (EG) Nr. 3067-3070/95 vom 21.12.1995, ABl. Nr. L 329 vom 30.12.1995, 1, 3, 5 und 11.
    689 Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zum Thema "Schutz von Mensch und Natur vor den Folgen der Überfischung der Meere", BT-Drs. 13/2582, 28.