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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


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Rainer Grote

XVI. Internationale Organisationen

2. Militärbündnisse

    276. Im Berichtszeitraum machte die NATO bei der Umsetzung der 1994 begonnenen706 Initiative Partnerschaft für den Frieden weitere Fortschritte. Österreich, Weißrußland und Malta schlossen sich als neue Partner der Initiative an. In dem Kommuniqu� der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 30. Mai 1995 heißt es dazu:

    "Die seit unserem letzten Treffen im Dezember erzielten greifbaren Fortschritte bei der Umsetzung der Partnerschaft für den Frieden sind ermutigend. Wir begrüßen Österreich, Weißrußland und Malta als neue Partner, deren Gesamtzahl sich somit auf 26 erhöht. Die Umsetzung individueller Partnerschaftsprogramme ist entsprechend unseren Aufträgen vom Dezember 1994 zügig vorangekommen. Es freut uns, daß der Prozeß der Verteidigungsplanung und -überprüfung auf so breites Interesse gestoßen ist. 14 Partnerländer haben sich an der gerade abgeschlossenen ersten Runde beteiligt. Auf der Grundlage eines zweijährigen Planungszyklus wird dieser Prozeß zwischen Bündnispartnern und Partnern Interoperabilität fördern und Transparenz erhöhen."707
    Am 19. Juni 1995 wurde in Brüssel das multilaterale PfP-Truppenstatut zur Zeichnung aufgelegt. Es sieht vor, daß die Parteien das NATO-Truppenstatut708 so anwenden, als seien alle Vertragsstaaten des Übereinkommens Vertragsstaaten des NATO-Truppenstatuts.709
    Die NATO bekräftigte darüber hinaus die Bedeutung eines über die Zusammenarbeit im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und die Annahme des individuellen Partnerschaftsprogramms hinausgehenden Dialogs mit Rußland.710 Zu diesem Zweck nahm der Nordatlantische Kooperationsrat (NAKR) auf seiner Tagung vom 31. Mai 1995 ein Dokument über Dialog und Kooperation mit Rußland an, in dem die Bereiche einer engeren Zusammenarbeit zwischen NATO und Rußland und die hierfür in Betracht kommenden Informations-, Konsultations- und Kooperationsverfahren aufgeführt sind.711 In ihrer Erklärung vom 5. Dezember 1995 begrüßte die Ministertagung des Nordatlantikrates die Beteiligung Rußlands an den multinationalen Streitkräften, die zur Umsetzung der militärischen Aspekte der Friedensvereinbarung für Bosnien-Herzegowina aufgestellt werden712, und führte zum Stand der Beziehungen zwischen NATO und Rußland aus:
    "Wir bekräftigen unser Eintreten für enge, weitreichende kooperative Beziehungen zwischen der NATO und Rußland einschließlich gegenseitiger politischer Konsultationen und praktischer Sicherheitskooperation, aufbauend auf der Partnerschaft für den Frieden und auf unserem erweiterten Dialog über PfP hinaus. Wir haben mit Rußland einen Dialog darüber aufgenommen, in welche Richtung unsere Beziehungen in Zukunft gehen sollten. Dazu hatten wir im September Vorschläge für ein politisches Rahmendokument erarbeitet, das Grundprinzipien für Sicherheitskooperation und für die Entwicklung dauerhafter Konsultationsmechanismen ausführt. Wir sehen einer russischen Antwort auf unsere Vorschläge zur Fortführung unseres fruchtbaren Dialogs über diese Themen entgegen. Die Beziehungen sollten transparent sein, gemeinsame Ziele widerspiegeln und sich auf strikter Einhaltung internationaler Pflichten und Verpflichtungen gründen."713

    277. Auf der Grundlage einer vom NATO-Generalsekretär vorgelegten Studie zu Prinzipien, Zielen, Kriterien und Bedingungen für die Ausdehnung der NATO nach Osten714 legte das nordatlantische Verteidigungsbündnis im Berichtszeitraum seine Strategie für den Fortgang des Erweiterungsprozesses fest. In der Erklärung der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 5. Dezember 1995 wird zu diesem Punkt ausgeführt:

    "Wir haben die von den Partnern aufgeworfenen Fragen aufgegriffen, die nunmehr eingehender behandelt werden müssen. Dementsprechend haben wir beschlossen, daß der Erweiterungsprozeß im Jahre 1996 aus drei Elementen bestehen wird:
� Mit den Partnern, die dies wünschen, würden wir auf individueller Basis intensive bilaterale und multilaterale Konsultationen führen, aufbauend auf der Erweiterungsstudie und den Präsentationen, die in der ersten Phase stattgefunden haben. Jeder interessierte Partner könnte einen intensivierten individuellen Dialog mit der Allianz führen.
� Durch den weiteren Ausbau der Partnerschaft für den Frieden wird die Allianz ein praktisches Arbeitsprogramm annehmen, das die Bindungen zwischen der Allianz und allen unseren Partnern stärken wird. Für einige Partner werden diese Aktivitäten ihre Fähigkeiten fördern, die Pflichten einer Mitgliedschaft zu übernehmen, während sie für andere dazu dienen werden, ihre langfristige Partnerschaft mit der Allianz zu stärken.
� Die Allianz wird Überlegungen darüber anstellen, welche internen Anpassungen und sonstigen Maßnahmen erforderlich sind, um sicherzustellen, daß die Erweiterung die Effektivität der Allianz aufrechterhält. Insbesondere müssen wir prüfen, welche Auswirkungen die Erweiterung auf Ressourcen und Personalausstattung hat."715
    Auf eine Parlamentarische Anfrage hin stellte die Bundesregierung klar, daß noch keine Entscheidung darüber gefallen sei, welche Staaten wann für eine Aufnahme in das nordatlantische Bündnis in Betracht kommen. Die Bündnispartner wie die Bundesregierung sähen keine Notwendigkeit, diese Frage bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufzugreifen.716 Zu den Auswirkungen, die eine NATO-Erweiterung auf das Verhältnis zur Russischen Föderation haben könnte, erklärte die Bundesregierung:
    "Rußland hat eine wichtige Rolle für Stabilität und Sicherheit in Europa. Deshalb bemüht sich das Bündnis um ein umfassendes, kooperatives Verhältnis mit Rußland, das den russischen Sicherheitsinteressen Rechnung trägt. Der Erweiterungsprozeß ist gegen niemanden gerichtet und trägt zur Erweiterung einer breit angelegten europäischen Sicherheitsarchitektur bei."717
    Zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen EU- und NATO-Mitgliedschaft führte sie aus:
    "Aus der Sicht der Bundesregierung gibt es einen politischen Zusammenhang, jedoch kein Junktim zwischen der Erweiterung der EU und der Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO."718

    278. Im Berichtszeitraum nahm die Bundesregierung zu der Frage nach einer möglichen vertragswidrigen Verwendung der von der Bundesrepublik an die Türkei im Rahmen der NATO-Kooperation gelieferten Rüstungsgüter bei der Durchführung der Militäroperationen im Nordirak vom März/April 1995 Stellung. In ihrer Antwort auf eine entsprechende Parlamentarische Anfrage stellte sie klar, daß sich die Zusammenarbeit mit der Türkei ausschließlich an den Grundsätzen der Kooperation zwischen den Bündnispartnern innerhalb der NATO orientiere. In den Verträgen über Verteidigungs- und Rüstungshilfe habe sich die Türkei dazu verpflichtet, die aus Deutschland gelieferten Waffen und sonstigen Rüstungsgüter nur in Übereinstimmung mit Artikel 5 des NATO-Vertrages (Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff) einzusetzen. Die türkische Regierung habe diese Verpflichtung wiederholt bestätigt. Die Bundesregierung sei im übrigen sämtlichen Hinweisen auf einen vermuteten vertragswidrigen Einsatz deutscher Waffen durch die Türkei nachgegangen, ohne daß ein Beweis für diese Vermutung hätte erbracht werden können. Sie werde darauf hinwirken, daß auch in dem mit der türkischen Regierung noch abzuschließenden Abkommen über die Gewährung der finanziellen Unterstützung für den Bau von zwei Fregatten sichergestellt werde, daß die noch zu bauenden Fregatten ausschließlich in Übereinstimmung mit Artikel 5 des NATO-Vertrages verwendet würden.719

    279. Auf seinem Treffen in Lissabon am 15. Mai 1995, an dem erstmals Griechenland als Vollmitglied und die neuen EU-Mitglieder Österreich, Finnland und Schweden als Beobachter teilnahmen, faßt der Ministerrat der Westeuropäischen Union mehrere Beschlüsse zum Ausbau der operationellen Strukturen der WEU. Dem Ständigen Rat als zentralem Führungs- und Entscheidungsgremium wird eine "politisch-militärische Gruppe" als ständiges Beratungsgremium zur Beobachtung von Krisensituationen, zur Überwachung von WEU-Operationen und zur Behandlung laufender politischer Angelegenheiten zugeordnet. Ferner wurde die Einrichtung eines Lagezentrums und einer in der Planungszelle angesiedelten Arbeitseinheit für die Auswertung nachrichtendienstlicher Informationen beschlossen.720 In einer Rede zum Konzept einer kooperativen Sicherheitsstruktur in Europa wies Bundesaußenminister Kinkel auf die Bedeutung der operativen Handlungsfähigkeit der WEU für die Erfüllung der ihr im Rahmen der europäischen Sicherheitsarchitektur zugedachten Aufgaben hin:

    "Die WEU muß die ihr zugedachte Doppelrolle als verteidigungspolitischer Arm der EU und als europäische Säule der Atlantischen Allianz ausfüllen und der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU die dringend notwendigen operativen Fähigkeiten verfügbar machen."721
    Er stellte jedoch zugleich klar, daß weitere Fortschritte notwendig sind, vor allem im Hinblick auf eine engere Verzahnung von WEU und NATO:
    "Wir müssen die operationellen Fähigkeiten der WEU weiter ausbauen. Der entscheidende Durchbruch hierfür kann nur mit der wechselseitigen Nutzung der vorhandenen Strukturen durch NATO und WEU gelingen. Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um die derzeitigen Probleme mit dem Konzept der 'Combined Joint Task Forces' rasch zu lösen. Dies muß in den nächsten Monaten ein Schwerpunkt unserer Bemühungen zur operationellen Stärkung der WEU sein."722
    Zu ihrer längerfristigen Konzeption für die weitere Entwicklung der WEU erklärte die Bundesregierung:
    "Die Bemühungen der Bundesregierung um die Entwicklung einer europäischen 'Verteidigungsidentität' konzentrieren sich auf:
� die Stärkung der operativen Rolle der Westeuropäischen Union � komplementär zur NATO � für die in der Petersberg-Erklärung definierten Aufgaben (humanitäre Missionen, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Maßnahmen, Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung),
� die schrittweise Integration der Westeuropäischen Union in die Europäische Union.
� Nach einer Integration der Westeuropäischen Union in die Europäische Union wird die Zuständigkeit für Entscheidungen zum Einsatz militärischer Mittel innerhalb des Petersburg-Aufgabenspektrums beim Rat der Europäischen Union liegen. Dieser wird über militärische Einsätze im Konsens entscheiden. Es muß das Prinzip gelten, daß kein Staat gegen seinen Willen zur Entsendung von Truppen gezwungen werden kann."723

    280. Am 28. März 1995 unterzeichnete die Bundesregierung das Geheimschutzübereinkommen der WEU.724 Das Abkommen dient der Schaffung einheitlicher Sicherheitsgrundsätze und -mindeststandards, zu deren Einhaltung die Vertragsstaaten sich verpflichten, so daß jeder Vertragsstaat darauf vertrauen kann, daß seine die WEU betreffenden Geheimnisse auch innerhalb der Organisation als Ganzes wirksam geschützt werden (Art. 1, 2). Außerdem verpflichten sich die Vertragsparteien, alle ihre Staatsangehörigen, die in Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit Zugang zu vertraulichen Informationen oder Unterlagen haben oder haben können, in angemessener Weise einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen, bevor sie ihre Tätigkeit aufnehmen (Art. 3).

    281. Auf eine Parlamentarische Anfrage äußerte sich die Bundesregierung zu den Plänen für ein eigenes Satellitensystem der WEU. Für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union habe die Schaffung von gemeinsamen Informationsmöglichkeiten entscheidende Bedeutung. Die Bundesregierung prüfe daher die Möglichkeiten für eine deutsche Beteiligung an einem europäischen System von Erdbeobachtungssatelliten mit sicherheitspolitischer Zielsetzung. Die WEU habe in einer Studie die technische Realisierbarkeit eines europäischen Satellitensystems festgestellt und führe nun Vorarbeiten für eine diesbezügliche Entscheidung des Ministerrates durch.725 Zu den möglichen Aufgaben eines solchen Satellitensystems erklärte die Bundesregierung:

    "Grundlegender Zweck ist die Stärkung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit Europas. Ein WEU-Satellitensystem soll in erster Linie die Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen unterstützen und zur Früherkennung, Beobachtung und Bewältigung von Krisen beitragen. Daneben wird es in gewissem Maß in der Lage sein, Umweltschädigungen zu beobachten. Der Aufbau eines solchen Systems würde dazu beitragen, die operativen Fähigkeiten der WEU � in ihrer Rolle als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Mittel zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz � zu verbessern. Dadurch würde eine auf Gegenseitigkeit beruhende Partnerschaft mit den USA möglich, die bisher allein Satelliteninformationen beschaffen können. [...]
    Wenn die WEU Friedensmissionen unterstützt oder sie als Mandatsnehmer der Vereinten Nationen oder der OSZE selbst durchführt, wird die satellitengestützte Aufklärung dazu dienen, die politische und militärische Führung ohne großen Zeitverzug mit Lageinformationen zu versorgen, was für die Planung, Durchführung und erfolgreiche Beendigung der Mission unerläßlich ist."726


    706 Dazu eingehend Stoll (Anm. 10), Ziff. 294, 295.
    707 Bull. Nr. 48 vom 12.6.1995, 426.
    708 BGBl. 1961 II, 1190.
    709 Fleck (Anm. 21), 398.
    710 Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 30.5.1995, Bull. Nr. 48 vom 12.6.1995, 426.
    711 Ibid., 429 f.
    712 Bull. Nr. 106 vom 15.12.1995, 1053.
    713 Ibid., 1054.
    714 Auf die Ergebnisse der Studie ging die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zum Thema "Bundesregierung und NATO-Osterweiterung" näher ein, BT-Drs. 13/3112.
    715 Bull. Nr. 106 vom 15.12.1995, 1055.
    716 BT-Drs. 13/3112, 6.
    717 Ibid.
    718 Ibid.
    719 BT-Drs. 13/3008, 3, 5.
    720 Kommuniqué des Ministerrates der WEU vom 15.5.1995, Bull. Nr. 46 vom 7.6.1995, 401; Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der Westeuropäischen Union für die Zeit vom 1.1. bis 30.6.1995, BGBl. 13/2248, 1.
    721 Rede anläßlich der Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union am 19.6.1995 in Paris, Bull. Nr. 51 vom 26.6.1995, 461.
    722 Ibid.
    723 Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996, BT-Drs. 13/3198, 15. Zum Verhältnis zwischen WEU und EU siehe auch bereits oben XV.2., Ziff. 262.
    724 BGBl. 1997 II, 1381. Das Zustimmungsgesetz ist am 17.7.1997 ergangen, BGBl. 1997 II, 1380.
    725 BT-Drs. 13/1681, 1.
    726 Ibid., 4 f.