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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998


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Karen Raible


XVI. Internationale Organisationen

2. Militärbündnisse

    214. Osterweiterung der NATO

    Auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gab die Bundesregierung am 21. Januar 1998 die Gründe für die beabsichtigte Osterweiterung der NATO an:

"Die NATO-Öffnung ist integraler Teil eines umfassend angelegten kooperativen Ansatzes der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, da sie die militärischen und militärpolitischen Aspekte einschließt. Diese zielt ab auf Stärkung von Sicherheit und Stabilität im gesamten euro-atlantischen Raum und auf Überwindung der Trennlinien des Kalten Krieges. Die auf Artikel 10 des Nordatlantikvertrags gegründete Politik der Öffnung der NATO für neue Mitglieder ist die folgerichtige Antwort der Allianz auf den legitimen Wunsch der mittel- und osteuropäischen Staaten nach Integration in die westlichen Strukturen und Institutionen. Das Recht der freien Bündniswahl gehört zu den auch in der OSZE verbürgten und von allen Teilnehmerstaaten anerkannten Rechten. Die Bundesregierung hat sich in enger Abstimmung mit ihren Bündnispartnern von Anfang an initiativ und aktiv für die Öffnung der Allianz eingesetzt."537

    Sie legte ferner dar, daß die Entscheidung zur Öffnung der NATO im Gesamtzusammenhang zu sehen sei mit der erweiterten und vertieften Kooperation mit allen Partnern im euro-atlantischen Partnerschaftsrat und der verstärkten Partnerschaft für den Frieden, mit der Sicherheitspartnerschaft mit Rußland auf der Basis der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit vom 27. Mai 1997 sowie mit der ausgeprägten Partnerschaft mit der Ukraine, die mit der am 9. Juli 1997 in Madrid unterzeichneten Charta begründet wurde. Diese Kooperationspolitik füge sich ein in die umfassende Neugestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur, die geprägt sei durch eine zunehmende Vernetzung der Aufgaben von NATO, Europäischer Union, Westeuropäischer Union und OSZE.

    Im Hinblick auf die künftigen Aspekte der NATO-Osterweiterung erklärte die Bundesregierung, daß sie sich beim NATO-Gipfel in Madrid nachdrücklich für eine substantielle Erklärung zur weiteren Offenheit der Allianz eingesetzt habe und die Politik der offenen Tür weiterhin mit Überzeugung unterstütze. Die Frage, ob ein neuer Staat gemäß Artikel 10 des Vertrags zum Beitritt einzuladen sei, werde von den Verbündeten einvernehmlich entsprechend ihrer Beurteilung, ob damit ein Beitrag zur Sicherheit und Stabilität im nordatlantischen Gebiet geleistet werde, getroffen. Es gebe keinen starren Kriterienkatalog für den Beitritt zur Allianz.

    Auf die Frage, welche politischen und militärpolitischen Ziele nach ihrer Auffassung bei Überarbeitung des strategischen Konzeptes der Allianz verfolgt werden sollte, antwortete die Bundesregierung:

"Die politischen und militärpolitischen Ziele der Überprüfung des strategischen Konzepts sind im Untersuchungsauftrag niedergelegt, der im Bündnis einvernehmlich verabschiedet wurde. Er umfaßt insbesondere die Vorgaben,
- sicherzustellen, daß das strategische Konzept in voller Übereinstimmung mit der neuen sicherheitspolitischen Lage in Europa ist,
- die kollektive Verteidigung als Kernaufgabe der Allianz sowie die unverzichtbare transatlantische Bindung zu bestätigen,
- die Elemente des strategischen Konzepts, die mit dem stehenden und vorhersehbaren strategischen Umfeld und anderen Ratsentscheidungen und Erklärungen seit 1991 in Übereinstimmung sind, zu erhalten,
- die seit 1991 im europäischen Sicherheitsumfeld eingetretenen Veränderungen zu berücksichtigen,
- die interne und externe Anpassung der Allianz sowie die Übernahme neuer Aufgaben (wie Krisenmanagement, friedensunterstützende Einsätze und Maßnahmen gegen Proliferation) zu berücksichtigen und dabei dem fortdauernden Wandlungsprozeß des Bündnisses und der Notwendigkeit, auch zukünftigen Risiken und Herausforderungen zu begegnen, Rechnung zu tragen."538

    Im Zusammenhang mit der Öffnung der NATO für Polen, die Tschechische Republik und Ungarn teilte Bundesverteidigungsminister Rühe anläßlich des deutsch-polnischen Kolloquiums am 31. März 1998 in Berlin mit:

"Deutschland hat sich von Anfang an wie wenige andere für die Integration unserer östlichen Nachbarn in die euro-atlantischen Strukturen eingesetzt. Und dies aus guten Gründen:

Erstens: Der polnische Drang nach Freiheit und Demokratie war die Initialzündung, die letztlich die Mauer in Berlin zum Einsturz brachte. Was 1989 und 1990 geschah, entsprach zutiefst historischer Logik: Polen, Ungarn und Tschechen gewannen ihre Freiheit zurück - und Deutschland seine Einheit in Freiheit. Tadeusz Mazowiecki, Vaclav Havel und Gyula Horn waren nicht nur die Wegbereiter für die Freiheit ihrer Völker; sie waren auch Wegbereiter für die Einheit der Deutschen.

Zweitens: Wenn unsere östlichen Nachbarn Mitglied von NATO und Europäischer Union werden, dann ist das ein natürlicher und historisch folgerichtiger Schritt. Polen, Tschechen und Ungarn gehören zu einem europäischen Kulturraum, zu dem die Gothik von Krakau genauso gehört wie die Gothik von Köln, Chartres oder Canterbury. Denn unsere euro-atlantischen Institutionen sind vor allem Wertegemeinschaften - Bündnisse freier Demokratien. ...

Drittens: Das deutsche Engagement für die Integration unserer östlichen Nachbarn in die euro-atlantischen Strukturen ist keinesfalls purer Altruismus - das würde uns auch niemand glauben. Unser Engagement beruht auch auf einem wohlverstandenen deutschen Eigeninteresse: Wir wollen im Osten wie schon im Westen künftig von Bündnispartnern umgeben sein. Die Perspektive einer vollen NATO-Mitgliedschaft Polens, unseres wichtigsten östlichen Nachbarn, trifft sich mit den fundamentalen Sicherheitsinteressen unseres Landes. Kulturelle Affinität und politische Erfahrung decken sich mit strategischer Einsicht."539

    Durch Gesetz vom 6. April 1998 wurde den Protokollen vom 16. Dezember 1997 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn zugestimmt.540 Mit dem Beitritt Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns zum Nordatlantikvertrag werden die Rechte und Pflichten, die sich für die Vertragsparteien aus dem Vertrag ergeben, darunter diejenigen, die sich auf die Beistandsleistungen im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung beziehen, auf Polen, die Tschechische Republik und Ungarn erstreckt. Dies bedeutet auch, daß die neuen Mitglieder Beistandspflichten für die bisherigen Mitglieder übernehmen und einen angemessenen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Allianz leisten werden.541

    215. Der Bundestag beschloß mit Zustimmung des Bundesrates am 9. Juli 1998 das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 19. Juni 1995 zwischen den Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrags und den anderen an der Partnerschaft für den Frieden teilnehmenden Staaten über die Rechtsstellung ihrer Truppen sowie das Zusatzprotokoll (Gesetz zum PfP-Truppenstatut).542 Das Übereinkommen besteht aus einem Abkommen, das die Regeln des NATO-Truppenstatuts auf alle Staaten der "Partnerschaft für den Frieden" anwendbar macht und so die Zusammenarbeit zwischen alten und neuen Partnern des Bündnisses erleichtert, sowie einem Zusatzprotokoll, das den Verzicht auf die Vollstreckung der Todesstrafe gegenüber Mitgliedern der Streitkräfte eines anderen Vertragsstaates, ihres zivilen Gefolges oder ihrer Angehörigen enthält. In ihrer Denkschrift zum Übereinkommen und dem Zusatzprotokoll führte die Bundesregierung am 24. Februar 1998 aus:

"In den zuständigen Gremien der NATO und der EU ist die Frage der Vereinbarkeit der Bestimmungen des Übereinkommens mit dem geltenden europäischen Recht aufgenommen worden. Problematisch ist dabei die Anwendung der Befreiungsvorschriften der Art. X-XII des NATO-Truppenstatuts auf die neuen Partner. Um zu vermeiden, daß die Ratifikation des Übereinkommens von einer Klärung dieser Frage abhängig gemacht wird, soll bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde eine Erklärung abgegeben werden, die deutlich macht, daß das im Aufnahmestaat geltende Recht hinsichtlich der Befreiung ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder von Steuern und sonstigen Abgaben unberührt bleibt."543

    216. Auf eine Schriftliche Parlamentarische Anfrage äußerte sich die Bundesregierung am 13. August 1998 zu den durch den ständigen NATO-Rußland-Rat auf Basis der am 27. Mai 1997 unterzeichneten "Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertragsorganisation und der Russischen Föderation" erreichten Ergebnisse:

"Das Ziel der Politik der Bundesregierung ist es, eine substantielle und kooperative Sicherheitspartnerschaft des Bündnisses mit einem demokratischen Rußland zu verankern und weiter auszubauen. Der NATO-Rußland-Rat (NRR) ist ein wichtiges Element dieser kooperativen, auf gleichberechtigter Partnerschaft beruhenden Sicherheitszusammenarbeit.

Bisher fanden je drei Treffen des NATO-Rußland-Rates auf der Ebene der Außenminister und Verteidigungsminister statt. Neben den monatlichen Treffen auf Botschafterebene tagt der NATO-Rußland-Rat ebenfalls monatlich auf der Ebene der militärischen Vertreter und zweimal jährlich auf der Ebene der Chefs der Verteidigungsstäbe. Regelmäßig tagende Expertengruppen, wie z.B. die politische/militärische Expertengruppe zur Zusammenarbeit im Bereich friedenserhaltender Maßnahmen, wurden, soweit erforderlich, geschaffen.

Seit seiner Konstituierung kennzeichnet den NATO-Rußland-Rat eine konstruktive und sachliche Atmosphäre. Die bisherige Arbeit hat maßgeblich zur Vertrauensbildung, Transparenz und Stärkung der Dialogfähigkeit beigetragen. Damit erweist sich der NATO-Rußland-Rat als wichtiger Kooperations- und Konsultationsrahmen."544

    In ähnlicher Weise ging die Bundesregierung auf eine Schriftliche Parlamentarische Anfrage hin am 13. August 1998 auf die im Rahmen der am 9. Juli 1997 in Madrid unterzeichneten "Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft zwischen der nordatlantischen Vertragsorganisation und der Ukraine" erreichten Ergebnisse ein:

"Die Ukraine ist ein bedeutender Partner des Bündnisses. Die Konsolidierung der demokratischen und wirtschaftlichen Reformen in der Ukraine ist nicht nur für die Stabilisierung dieses großen europäischen Staates selbst von größter Bedeutung, sondern hat auch stabilisierende Wirkung für ganz Europa und besonders für Mittel-Ost-Europa und die Schwarzmeerregion. Die Bundesregierung hat seit der Unabhängigkeit der Ukraine diese auf ihrem Weg zu Reformen von Staat und Gesellschaft unterstützt. Dazu gehört auch die Heranführung an die euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen. Deshalb hat sich die Bundesregierung auch für ein besonderes Verhältnis des Bündnisses mit der Ukraine eingesetzt, wie dies im Abschluß der Charta zwischen der NATO und der Ukraine zum Ausdruck gekommen ist.

Die Umsetzung der Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine wurde unmittelbar nach dem Madrider Gipfeltreffen eingeleitet."545

    217. Anläßlich der gemeinsamen politischen Erklärung der 19 Außenminister des Nordatlantikrates, der Tschechischen Republik, der Republik Polen und der Republik Ungarn zur Anpassung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) erklärte Bundesaußenminister Fischer am 8. Dezember 1998 in Brüssel:

"Heute haben die Außenminister der Mitgliedstaaten des Bündnisses und der drei Beitrittskandidaten eine wichtige Erklärung im Zusammenhang der Wiener Verhandlungen zur Anpassung des KSE-Vertrages an die neue sicherheitspolitische Lage in Europa abgegeben. Hiermit wird erneut die Bereitschaft des demnächst erweiterten Bündnisses zu militärischer Zurückhaltung unterstrichen. Darüber hinaus hat die NATO nochmals ihren Entschluß bekräftigt und verdeutlicht, im Rahmen der bevorstehenden Erweiterung des Bündnisses keine substantiellen boden- oder luftgestützten Kampftruppen in den drei Beitrittsländern dauerhaft zu stationieren. Alle KSE-Vertragsstaaten sind aufgefordert, daran mitzuwirken, daß Europa auf einem Niveau höherer konventioneller Stabilität und Sicherheit in das 21. Jahrhundert eintreten kann."546

    218. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und NATO-Einsätze ohne VN-Mandat lehnte es die Bundesregierung am 28. Dezember 1998 ab, die auf der Option eines nuklearen Ersteinsatzes beruhende Abschreckungsfähigkeit der NATO nicht mehr in das neue strategische Konzept aufzunehmen:

"Ziel der Allianz-Strategie bleibt unverändert, Frieden zu bewahren, Krieg zu verhindern, die gemeinsame Sicherheit aller Bündnispartner zu gewährleisten und Konflikte vor einer Eskalation zu bewahren. Die dazu erforderliche Abschreckungsfähigkeit muß gewährleistet bleiben. Das Bündnis unterhält dazu die erforderlichen konventionellen und nuklearen Streitkräfte und strebt in allen Bereichen, d.h. konventionell und nuklear, Sicherheit und Stabilität auf dem niedrigst möglichen, vertretbaren Streitkräfteniveau an."547

    Ferner erläuterte die Bundesregierung, daß die Allianz im neuen Sicherheitsumfeld nicht mehr in dem Maße wie zu Zeiten des Kalten Krieges auf Nuklearwaffen angewiesen sei, sondern daß der politische Zweck dieser Waffen, Wahrung des Friedens und Verhinderung von Zwang und jeder Art von Krieg, eindeutig im Vordergrund stehen müsse. Auf die Frage, ob die Bundesregierung der Auffassung sei, daß es zukünftig durchaus auch häufige Einsätze der NATO, somit auch der Bundeswehr ohne VN-Mandat geben könne, erwiderte die Bundesregierung:

"NATO-Einsätze im Rahmen von Konfliktprävention und Krisenbewältigung erfolgen in vollem Einklang mit dem Völkerrecht. Die Bundesregierung setzt sich aktiv dafür ein, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu wahren. Die Frage nach Art und Häufigkeit zukünftiger Einsätze ist hypothetisch."548

    219. In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nahm die Bundesregierung am 11. März 1998 umfassend Stellung zur künftigen Rolle der Westeuropäischen Union.549

    Dabei legte sie zunächst dar, was sie unter dem Begriff "gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik" versteht:

"Inhaltlich geht es bei der Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik der EU aus der Sicht der Bundesregierung insbesondere um die Reduzierung von Risiken für
- die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Dies schließt auch Maßnahmen zur Eingrenzung der Risiken einer Ausweitung lokaler Konflikte, Maßnahmen gegen terroristische Bedrohungen und Maßnahmen gegen Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen ein;
- die wirtschaftliche Stabilität der Union und ihrer Mitgliedstaaten unter Einschluß von Maßnahmen gegen Bedrohungen der Kommunikationswege und der Rohstoffversorgung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten;
- die demokratischen Grundlagen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten.

    Die gemeinsame Verteidigungspolitik der Europäischen Union ist nach dem Verständnis der Bundesregierung ein Teilbereich der gemeinsamen Sicherheitspolitik."550

    Weiter bekräftigte die Bundesregierung, daß sie am Ziel einer schrittweisen Integration der WEU in die EU festhalte. Das Verhandlungsergebnis von Amsterdam, insbesondere die Aufnahme der Petersberg-Aufgaben in den EU-Vertrag, die Erstreckung der Leitlinienkompetenz des Europäischen Rats auf die EU und die Konkretisierung des Auftrags, im Rahmen der GASP eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu entwickeln, habe die Weichen für eine weitere Zusammenführung der WEU mit der EU gestellt und schaffe eine Grundlage für weitere Initiativen in dieser Richtung. Deutschland werde als erste Doppelpräsidentschaft von EU und WEU im ersten Halbjahr 1999 die Gelegenheit haben, insbesondere im Rahmen der Umsetzung des in Amsterdam vereinbarten Protokolls zu Art. 17 Abs. 3 die Arbeit an der Zusammenführung von EU und WEU fortzusetzen.551

    Auf die Frage, ob die Bundesregierung die Auffassung teile, daß nur jene Staaten Mitglied der WEU werden können, die zugleich auch Mitglied der NATO sind bzw. werden, erwiderte die Bundesregierung:

"Voraussetzung für eine Vollmitgliedschaft in der Westeuropäischen Union ist aus der Sicht der Bundesregierung die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Die Mitgliedschaft in der NATO ist eine zusätzliche Bedingung, mit der sichergestellt werden soll, daß der Geltungsbereich der Beistandsgarantie nach Art. 5 des NATO-Vertrages den Bereich nach Art. V des modifizierten Brüsseler Vertrages immer voll abdeckt."552

    Darüber hinaus gab die Bundesregierung Auskunft über die Definition verschiedener Begriffe in den sogenannten Petersberger Aufgaben der WEU. Zum Begriff des "peace keeping" führte sie aus:

"Die WEU hat den Begriff 'peace keeping' nicht gesondert definiert und verweist in einem 1994 von der WEU verabschiedeten Dokument über die Rolle der WEU bei friedenserhaltenden Aufgaben darauf, daß der Begriff 'peace keeping' nicht abstrakt bestimmbar ist, sondern sich dessen Verständnis kontinuierlich fortentwickelt. In Anlehnung an die vom Generalsekretär der Vereinten Nationen vorgelegte 'Agenda for Peace' wird 'peacekeeping' im Zusammenhang folgender Handlungsoptionen gesehen:
- vorbeugende Diplomatie ('preventive diplomacy');
- Konfliktverhütung ('conflict prevention') gemäß der VN-'Agenda for Peace';
- Friedenserhaltung ('peace keeping') im engeren Sinn in Fortentwicklung von Kap. VI der VN-Charta, d.h. Maßnahmen zur Eindämmung, Entschärfung oder Beendigung von Feindseligkeiten mit Zustimmung der Konfliktparteien;
- Friedenskonsolidierung ('post conflict-peace building'), d.h. Maßnahmen nach einem Konflikt, die der Wiederherstellung der Infrastruktur, dem Wiederaufbau zur Festigung der politischen Lage dienen können, damit ein Rückfall in den Konflikt vermieden wird."553

    Zum Begriff "rescue tasks" teilte die Bundesregierung mit:

"Die Petersberg-Erklärung vom Juni 1992 legt als einen der Aufgabenbereiche der WEU 'humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze' ('humanitarian and rescue tasks') fest. In zwei Dokumenten aus den Jahren 1995 und 1996 sind diese Aufgaben wie folgt präzisiert worden:
- Schaffung eines sicheren Umfeldes zur Durchführung einer humanitären Operation;
- Bereitstellung spezifischer Hilfe und logistischer Unterstützung für humanitäre Hilfsmaßnahmen;
- Katastrophenhilfe;
- Such- und Rettungsaufgaben einschließlich Evakuierungsoperationen;
- Flüchtlingshilfe."554

    Dagegen erklärte die Bundesregierung zum Begriff "peace-making":

"Die Petersberg-Erklärung der WEU vom Juni 1992 differenziert nicht zwischen 'tasks of combat forces in crisis management' einerseits und 'peacemaking' andererseits, sondern spricht von 'Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens ('tasks of combat forces in crisis management, including peacemaking'). Eine verbindliche Definition dieses Begriffes ist bisher durch die Entscheidungsgremien der WEU nicht erfolgt. Insbesondere gibt es bisher in der WEU keine verbindliche Definition des Begriffes 'peacemaking'. Zum Zeitpunkt der Petersberg-Erklärung wurden in der WEU hierunter friedenserzwingende Maßnahmen nach Kap. VII der VN-Charta verstanden, während in den VN mit diesem Ausdruck auch Maßnahmen zur Einwirkung auf verfeindete Parteien beschrieben werden, die mit den friedlichen Mitteln des Kap. VI der VN-Charta zu einem Übereinkommen (Herstellung von Waffenstillstand, Friedensschluß) führen sollen. Die Bundesregierung versteht unter dieser Petersberger-Aufgabe in Abgrenzung zu den auf Kap. VI der VN-Charta aufbauenden friedenserhaltenden Maßnahmen in erster Linie friedenserzwingende Maßnahmen, die unter Kap. VII der VN-Charta fallen. Sie schließt aber nicht aus, daß die WEU auch im Bereich des 'peacemaking' im Sinne der VN tätig wird."555

    Außerdem teilte die Bundesregierung mit, daß sie der rechtlichen Auffassung sei, daß der WEU-Vertrag nach 50jähriger Laufzeit erstmals im Jahre 1998 gekündigt werden könne:

"Die 50-Jahres-Frist, nach deren Ablauf gem. Art. XII Abs. 3 WEU-Vertrag ein Ausscheiden von Vertragsparteien unter Einhaltung einer einjährigen Kündigungsfrist möglich ist, hat am 25. August 1948 mit Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde gem. Art. X Abs. 2 des Brüsseler Vertrages in der Fassung vom 17. März 1948 zu laufen begonnen und endet am 24. August 1998.

Die entgegenstehende Auffassung, daß aufgrund des Abschlusses des 'Protokolls zur Änderung und Ergänzung des Brüsseler Vertrages' vom 23. Oktober 1954 die Frist von neuem zu laufen begonnen haben soll, greift nicht, da durch dieses Protokoll der Vertrag von 1948 nicht aufgehoben und durch einen neuen Vertrag ersetzt, sondern modifiziert und ergänzt wurde.

Demgemäß wird in Art. J.4 Abs. 6 des Vertrages über die Europäische Union der 'Termin 1998 im Zusammenhang mit Art. XII des Brüsseler Vertrages in seiner geänderten Fassung' ausdrücklich von den Vertragsparteien nochmals festgestellt und bekräftigt."556

    In diesem Zusammenhang fügte die Bundesregierung hinzu, daß sich für sie die Frage einer Kündigung des WEU-Vertrages derzeit nicht stelle. Allerdings habe der von der Bundesregierung gemeinsam mit fünf anderen EU-Mitgliedstaaten auf der Regierungskonferenz eingeführte Protokollentwurf zur schrittweisen Integration der WEU in die EU im Rahmen der dritten Stufe die Kündigung des WEU-Vertrags vorgesehen.

    Abschließend äußerte sich die Bundesregierung zur Aufrechterhaltung bestimmter Bestimmungen des WEU-Vertrags:

"Die rüstungskontrollpolitischen Bestimmungen der Protokolle II-IV zum geänderten Brüsseler Vertrag sind durch Beschlüsse des Rats der WEU, mit denen die konventionellen Rüstungsbeschränkungen aufgehoben oder durch neuere, inhaltlich und in den Verifikationsverfahren weitergehendere Rüstungskontrollvereinbarungen ersetzt wurden, materiell obsolet geworden. Das in seinem Zuständigkeitsbereich auf Inspektionen der deutschen chemischen Industrie beschränkte Rüstungskontrollamt der WEU wurde nach Inkrafttreten des universelleren Chemiewaffen-überein-kommens im November 1997 durch Beschluß des Rats der WEU aufgelöst. In diesem Zusammenhang hat der Rat festgestellt, daß das Protokoll IV keine Rechtswirkung mehr entfalte. Die Bundesregierung sieht deshalb keine Veranlassung, diese Bestimmungen bei einer Integration der WEU in die EU in den EU-Vertrag oder in ein Zusatzprotokoll zu diesem Vertrag zu überführen."557

    Die in Art. 10 des geänderten Brüsseler Vertrags enthaltene Unterwerfung der Mitgliedstaaten unter die Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes sollte nach Auffassung der Bundesregierung erhalten bleiben. Jedoch müsse die Frage, ob und in welcher Form diese Bestimmungen bei Integration der WEU in die EU in den EU-Vertrag oder ein Zusatzprotokoll zu diesem Vertrag überführt werden sollten, im Lichte der weiteren Entwicklung der Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs entschieden werden.

    220. Am 17. März 1998 erklärte Bundesaußenminister Kinkel aus Anlaß des 50. Jahrestages der Westeuropäischen Union:

"Seit den 80er Jahren verknüpft die WEU mit neuem Schwung die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union mit dem militärischen Handlungspotential der WEU-Mitgliedstaaten und der NATO. Mit der unter deutscher Präsidentschaft im November 1997 verabschiedeten 'Erfurter Erklärung' hat die WEU im letzten Jahr an politischer und militärischer Handlungsfähigkeit gewonnen: Die Präsidentschaften von EU und WEU werden ab 1999 harmonisiert. Eine straffere Organisationsstruktur und eine engere Verzahnung der WEU mit der NATO machen die WEU fähig, in Krisensituationen schnell und wirkungsvoll zu handeln. Und: In Erfurt wurde die vertiefte Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen assoziierten Partner in die militärische Zusammenarbeit beschlossen. Damit leistet die WEU einen wichtigen Beitrag bei der Heranführung dieser Staaten an die westeuropäischen und transatlantischen Sicherheits-strukturen."558

    221. In seiner Rede vor der WEU-Versammlung am 1. Dezember 1998 in Paris faßte der Staatsminister im Auswärtigen Amt Verheugen das Programm der Bundesrepublik Deutschland während ihrer Präsidentschaft in der WEU und EU zusammen:

"Deutschland wird während seiner Präsidentschaft in der WEU und EU die Parameter der europäischen Berufung der WEU weiterentwickeln und vertiefen: wir wollen den Prozeß der Heranführung der WEU an die EU fortführen - insbesondere im Lichte des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrages. Wir wollen die operationellen Fähigkeiten der WEU fortentwickeln und stärken, insbesondere durch die Verzahnung der WEU mit der NATO. Hierzu gehört vor allem der Abschluß des Rahmenabkommens möglichst vor dem NATO-Gipfel im nächsten Jahr.

Wir wollen die Möglichkeiten der WEU als Forum für die Einbeziehung der Länder Mittel- und Osteuropas in die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Europa und zur Ergänzung des sicherheitspolitischen Dialogs mit Rußland und der Ukraine voll nutzen. Die WEU ist zu einem gewichtigen Element in der Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geworden. Die deutsche Präsidentschaft wird ihren Beitrag dazu leisten, der WEU den ihr zukommenden wichtigen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu geben."559

    222. Die Bundesregierung veröffentlichte zwei Berichte über die Tätigkeit der Westeu-ro-päischen Union für die Zeit vom 1.1.-30.6.98560 bzw. vom 1.7-31.12.98561.



    537 BT-Drs. 13/9693, 1 f.

    538 Ibid., 13 f.

    539 Bull. Nr. 23 vom 1.4.1998, 261.

    540 BGBl. 1998 II, 362. Vgl. Bank (Anm. 1), Ziff. 240-242.

    541 Vgl. die Denkschrift der Bundesregierung vom 9.2.1998, BT-Drs. 13/9815, 16 f.

    542 BGBl. 1998 II, 1338. Vgl. hierzu auch Grote (Anm. 315), Ziff. 276.

    543 BT-Drs. 13/9972, 14.

    544 BT-Drs. 13/11361, 2.

    545 Ibid., 7 f.

    546 Pressearchiv des Auswärtigen Amtes (Anm. 10): http://www.auswaertiges-amt.de/6_archiv/98/p/P981208a.htm.

    547 BT-Drs. 14/241, 3.

    548 Ibid., 5.

    549 BT-Drs. 13/10106.

    550 Ibid., 2 f.

    551 Ibid., 5.

    552 Ibid., 7 f.

    553 Ibid., 15 f.

    554 Ibid., 16.

    555 Ibid., 16 f.

    556 Ibid., 20 f.

    557 Ibid., 22.

    558 Pressearchiv des Auswärtigen Amtes (Anm. 10): http://www.auswaertiges-amt.de/6_archiv/98/p/P980317B.html.

    559 Pressearchiv des Auswärtigen Amtes (Anm. 10): http://www.auswaertiges-amt.de/6_archiv/98/r/R981201a.htm.

    560 BT-Drs. 13/11463 vom 6.10.1998.

    561 BT-Drs. 14/346 vom 28.1.1999.