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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.92/2

Die Gewährleistung des Asylrechts im Inland durch Art.16 Abs.2 Satz 2 GG darf nicht dadurch umgangen werden, daß deutsche Behörden Asylsuchende schon am Erreichen der deutschen Grenze hindern, wo sie Asyl beantragen könnten, indem sie Luftfahrtunternehmen deren Beförderung ohne Sichtvermerk untersagen, der in aller Regel nicht erteilt wird.

German authorities must not circumvent the guaranty of the right of asylum in Germany in Art.16 (2) (2) of the Basic Law by prohibiting airlines from transporting aliens who do not have visas, which asylum-seekers are usually unable to obtain, and thus preventing asylum-seekers from reaching the German border where they could claim asylum.

Bundesverwaltungsgericht, Beschluß vom 14.4.1992 (1 C 48.89), DVBl.1992, 844 (ZaöRV 54 [1994], 520)

Einleitung:

      Die klagende Fluggesellschaft hatte mehrfach Fluggäste aus Indien in die Bundesrepublik befördert, die nicht über die nach den deutschen Einreisebestimmungen erforderlichen Sichtvermerke verfügten. Daraufhin untersagte ihr der zuständige Bundesminister aufgrund von §18 Abs.5 Satz 1 AuslG 1965 (vgl. jetzt §74 AuslG 1990), Ausländer in das Bundesgebiet zu befördern, wenn diese nicht im Besitz einer vor der Einreise einzuholenden Aufenthaltserlaubnis sind. Im Revisionsverfahren hielt das Bundesverwaltungsgericht §18 Abs.5 Satz 1 AuslG 1965 insoweit für verfassungswidrig, als das dort vorgesehene Beförderungsverbot Asylsuchende einschließt, und legte die Sache deshalb nach Art.100 Abs.1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vor.

Entscheidungsauszüge:

      A. ... 3. Die Anordnungen sind in materiellrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden, wenn ihre Rechtsgrundlage mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
      a) Völkerrechtliche Vorschriften ... stehen der Anwendung des §18 Abs.5 Satz 1 AuslG 1965 nicht entgegen.
      aa) Der Genfer Konvention - GK - vom 28.7.1951 ... läßt sich keine Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Aufnahme von Flüchtlingen entnehmen. Das Refoulement-Verbot in Art.33 Nr.1 GK geht insoweit nicht über das Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen des Vertragsstaates hinaus ... Das folgt zum einen aus der bei der Formulierung des Art.33 GK erklärten Absicht der Vertragsstaaten, keine Aufnahmepflichten für Flüchtlinge in der GK zu verankern ..., zum anderen aus der Staatenpraxis, die bei der Auslegung der GK zu berücksichtigen ist (vgl. Art.31 Abs.3 Buchst.b des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ...). Die Staaten, insbesondere auch die Vertragsstaaten der GK, praktizieren seit langem ein Beförderungsverbot gegenüber sichtvermerkspflichtigen Ausländern, auch wenn diese Asyl begehren ... Die Zusicherung in Art.31 Nr.1 GK, keine Strafen gegen Flüchtlinge wegen unrechtmäßiger Einreise zu verhängen, stellt die Unrechtmäßigkeit der Einreise ohne gebotenen Sichtvermerk nicht in Frage ... und schließt daher auch Beförderungsbeschränkungen und -verbote gegenüber Asylsuchenden nicht aus. Unter diesen Umständen erübrigt sich die Frage, ob die GK ... als Ausdruck allgemeinen Völkergewohnheitsrechts über Art.25 Satz 2 GG Vorrang vor §18 Abs.5 Satz 1 AuslG 1965 hat.
      bb) Auch das Abkommen vom 7.12.1944 über die Internationale Zivilluftfahrt (BGBl. 1956 II S.411) steht einem Beförderungsverbot nicht entgegen. Art.13 dieses Abkommens verpflichtet vielmehr zur Befolgung nationaler Einreisevorschriften in bezug auf die Fluggäste und mutet damit den Beförderungsunternehmen einen Verzicht auf die Beförderung solcher Fluggäste zu, die derartigen Vorschriften nicht entsprechen. ...
      cc) Die Überprüfung der Flugpassagiere durch die Beförderungsunternehmen ersetzt nicht die hoheitlichen Grenzkontrollen der dafür zuständigen Stellen in der Bundesrepublik Deutschland, sondern ist in den Beförderungsvorgang eingebettet, der im Rahmen des privatrechtlichen Beförderungsvertrages erfolgt ... Das dem Beförderungsunternehmer bereits im Ausland angesonnene Verhalten kollidiert nicht mit der Souveränität anderer Staaten und verstößt daher nicht gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts über die Paßhoheit als Ausdruck staatlicher Souveränität. ...
      b) ... bb) Da die deutschen Auslandsvertretungen nicht zur Entscheidung über Asylanträge zuständig sind (§4 Abs.1 AsylVfG) und grundsätzlich keine Sichtvermerke zur Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland erteilen, führt die Sichtvermerkspflicht - und damit auch das zu ihrer Durchsetzung dienende Beförderungsverbot - tatsächlich zu der vom Gesetzgeber beabsichtigten Verhinderung oder jedenfalls wesentlichen Behinderung und Erschwerung der Einreise von Asylsuchenden nach Deutschland. ...
      B. Der Senat hält §18 Abs.5 Satz 1 AuslG 1965 für unvereinbar mit dem objektiven Wertgehalt des in Art.16 Abs.2 Satz 2 GG gewährleisteten Asylrechts, soweit das in §18 Abs.5 Satz 1 AuslG 1965 vorgesehene Beförderungsverbot Asylsuchende einschließt. Art.16 Abs.2 Satz 2 GG verbietet, daß die Asylgewährung und die dafür erforderliche Einreise aus dem Verfolgerstaat in die Bundesrepublik Deutschland durch gezielte staatliche Beförderungsbeschränkungen grundsätzlich verhindert werden.
      1. Das Bundesverfassungsgericht leitet als "Vorwirkung des Asylrechts" ... aus Art.16 Abs.2 Satz 2 GG bereits für den Asylbewerber ein mit dessen Antrag auf Asyl gesetzlich verbundenes vorläufiges Bleiberecht ab ... Nach der Rechtsprechung des Senats verbürgt der Kernbereich des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG demjenigen, der vor politischer Verfolgung Zuflucht sucht, daß er an der Grenze Deutschlands nicht zurückgewiesen wird ... Der Asylsuchende darf daher grundsätzlich ohne einen sonst erforderlichen Sichtvermerk aus dem Verfolgungsland in das Bundesgebiet einreisen ... Die Effektivität des Grundrechts aus Art.16 Abs.2 Satz 2 GG verlangt, daß eine Sichtvermerkspflicht die Asylgewährung und die dafür erforderliche Einreise in das Bundesgebiet unmittelbar aus dem Verfolgungsland nicht hindert ... Dabei wird der Zustand der Flucht nicht dadurch beendet, daß der politisch Verfolgte einen anderen Staat, der ihm Sicherheit hätte bieten können, als Fluchtweg benutzt ... und dort objektive Hindernisse für die Fortsetzung der Flucht zu überwinden sowie einen damit zwangsläufig verbundenen vorübergehenden Aufenthalt in Kauf zu nehmen hat, bevor er nach Deutschland gelangt ...
      Das Verbot der Beförderung asylsuchender Ausländer ohne Sichtvermerk in das Bundesgebiet verhindert oder behindert die durch Art.16 Abs.2 Satz 2 GG gewährleistete Einreisemöglichkeit, da einerseits die deutschen Auslandsvertretungen grundsätzlich keine Sichtvermerke zur Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland erteilen und dazu auch nicht verpflichtet sind, andererseits die Luftfahrtunternehmen aufgrund des gegen sie erlassenen Verbotes die Beförderung von Asylsuchenden ohne Sichtvermerk ablehnen müssen. Politisch Verfolgte haben auf ihrer Flucht häufig auch tatsächlich keine Gelegenheit, sich einen Sichtvermerk zu verschaffen, sei es, daß sie eine deutsche Auslandsvertretung nicht erreichen, sei es, daß sie die Prüfung ihres Antrages nicht abwarten können. Bei dieser durch das Gesetz bezweckten und bewirkten Sachlage ist einem Asylsuchenden die Einholung eines Sichtvermerks vor Einreise in die Bundesrepublik Deutschland weder möglich noch zumutbar, so daß hier eine dahin gehende Verpflichtung entfällt. ...
      2. Ausgehend von dem Grundsatz, daß die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Asylrechts ebenso wie die anderer Grundrechte Geltung auch im jeweils einschlägigen Verfahrensrechts beansprucht ..., muß der Gesetzgeber das Asylverfahren in einer Weise regeln, die der Bedeutung des Asylrechts gerecht wird und eine zuverlässige und sachgerechte Prüfung von Asylgesuchen ermöglicht. ... Mit Art.16 Abs.2 Satz 2 GG läßt sich nicht vereinbaren, daß Asylbegehren als offensichtlich rechtsmißbräuchlich außer acht gelassen und vor Durchführung einer inhaltlichen Prüfung durch die dafür zuständige Behörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Asylsuchende ergriffen werden ... Die Sorge vor einer massenhaften Inanspruchnahme des Asylrechts ... kann daher allein keine Einreisebeschränkungen rechtfertigen, die das Asylrecht wie das Asylbewerberrecht für die Betroffenen praktisch beseitigen würden. Mit der durch das Beförderungsverbot i.V. mit der Sichtvermerkspflicht erstrebten und bewirkten pauschalen Abwehr des Zustroms von Asylsuchenden wird aber die individuelle Überprüfung des einzelnen Asylantrages, insbesondere auch des erfolgversprechenden Asylbegehrens, wesentlich erschwert und u.U. sogar unmöglich gemacht.
      3. ... Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit grundsätzlich die territoriale Begrenzung der deutschen Rechtsordnung einer über die Grenzen hinausreichenden Verpflichtung der deutschen Staatsgewalt aus der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes entgegensteht ... Ein Anspruch auf Asylgewährung wird jedenfalls erst mit dem Erreichen der Bundesrepublik Deutschland erworben ... Eine Hilfeleistung an Asylsuchende außerhalb Deutschlands, etwa durch Bereitstellung geeigneter Transportmöglichkeiten oder durch Übernahme der Flugkosten, ist nach Art.16 Abs.2 Satz 2 GG selbstverständlich nicht geboten ... Eine Vorwirkung des Asylrechts in dem Sinne, daß jedermann überall in der Welt einen Anspruch auf Asyl oder auf Zulassung zum Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland hat, besteht nicht ... Hier handelt es sich jedoch weder um die Ausweitung des Asylrechts zu einem Einwanderungsrecht für jedermann noch um die Ausdehnung des Geltungsbereichs von Art.16 Abs.2 Satz 2 GG über die Bundesrepublik Deutschland hinaus. Vielmehr geht es darum, daß die Gewährleistung des Asylrechts im Inland, insbesondere das Zurückweisungsverbot für Asylsuchende an der deutschen Grenze, umgangen wird, wenn auf Veranlassung deutscher Behörden Asylsuchende vor der deutschen Grenze an der Einreise in das Bundesgebiet gehindert werden, indem Luftfahrtunternehmen ihre Beförderung ohne den i.d.R. nicht erteilten Sichtvermerk ablehnen müssen. Gegen deren Einreise werden Barrieren vor der deutschen Grenze errichtet, die nach Erreichen des Bundesgebietes aufgrund der Asylgewährleistung des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG nicht mehr errichtet werden dürften. Fehlende Sichtvermerke sollen bei Asylsuchenden ein Beförderungsverbot in die Bundesrepublik Deutschland auslösen, obwohl die Verfassung Asylsuchenden die Einreise ohne Sichtvermerk grundsätzlich gewährleistet. Diesen sich aus der Rechtsgrundlage des Beförderungsverbotes zwangsläufig ergebenden Widerspruch zur Asylgewährleistung in Art.16 Abs.2 Satz 2 GG hält der Senat für verfassungswidrig. ...
      4. Das völkerrechtliche Institut des Asylrechts, an das Art.16 Abs.2 Satz 2 GG anknüpft ..., gebietet keine abweichende Beurteilung. Das Völkerrecht enthält nur die Befugnis der Staaten zur Asylgewährung auf eigenem Territorium, ohne diese zur Aufnahme von Flüchtlingen zu verpflichten. Staatliche Beförderungsbeschränkungen vor Erreichen des eigenen Staatsgebietes sind daher nicht völkerrechtswidrig. Das Asylrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG reicht nicht nur subjektiv, sondern auch inhaltlich weiter als das Völkerrecht, weil es Asylsuchenden grundsätzlich die Einreise und ein vorläufiges Bleiberecht gewährleistet.