Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law Logo Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law

You are here: Publications Archive Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.90/1

[a] Die Unschuldsvermutung ist verletzt, wenn das Gericht dem Angeschuldigten in seinem Einstellungsbeschluß nach §153 Abs.2 StPO oder in den Gründen der damit verbundenen Auslagenentscheidung strafrechtliche Schuld zuweist, ohne daß diese zuvor prozeßordnungsgemäß festgestellt wurde.

[b] Die Unschuldsvermutung verbietet es nicht, die Entscheidung über die Auslagenerstattung nach §467 Abs.4 StPO auf Erwägungen zum Tatverdacht zu stützen.

[a] The presumption of innocence will be violated if the court, before it has established a defendant's guilt in due process, attributes guilt to this defendant either in its decision to dismiss the criminal proceedings pursuant to sec.153 (2) of the Code of Criminal Procedure, or in the reasons given for not ordering the reimbursement of the defendant's expenses.

[b] The presumption of innocence does not prohibit a court from basing its decision on the reimbursement of expenses according to sec.467 (4) of the Code of Criminal Procedure on considerations of suspicion as to whether the defendant has committed a criminal offense.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 29.5.1990 (2 BvR 254/88, 1343/88), BVerfGE 82, 106 (ZaöRV 52 [1992], 416)

Einleitung:

      Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf die Einstellungs- und Auslagenentscheidung sowie deren Begründung, wenn ein Strafverfahren nach Anklageerhebung wegen Geringfügigkeit eingestellt wird (§153 Abs.2, §467 Abs.1 und 4 StPO). Gegen die Beschwerdeführerin zu 1) war wegen Betrugs durch Strafbefehl eine Geldstrafe verhängt worden. Nachdem sie Einspruch eingelegt hatte, stellte das Amtsgericht das Strafverfahren mit ihrer und der Staatsanwaltschaft Zustimmung gem. §153 Abs.2 StPO ein und erlegte die Verfahrenskosten der Staatskasse auf. Von einer Überbürdung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin auf die Staatskasse sah das Amtsgericht mit der Begründung ab, daß ihre Schuld "in hohem Maße wahrscheinlich" sei.
      Gegen die Beschwerdeführerin zu 2) war vor dem Amtsgericht ein Strafverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort anhängig. Die Hauptverhandlung wurde nach der Vernehmung von drei Zeugen ausgesetzt; zugleich verfügte der Richter die Ladung weiterer Zeugen zu einem von Amts wegen zu bestimmenden neuen Termin. Danach stellte das Gericht das Verfahren nach Maßgabe des §45 Abs.2 Nr.2 i.V.m. §47 Abs.1 Nr.2 und §109 Abs.2 JGG sowie §153 Abs.2 StPO mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und der Beschwerdeführerin ein, ohne eine neue Hauptverhandlung durchzuführen. Von einer Überbürdung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin auf die Staatskasse sah das Amtsgericht ab, "da nach den bisherigen Feststellungen die schuldhafte Begehung einer Straftat vorliegt (§467 Abs.4 StPO)".
      Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die jeweils ergangenen Auslagenentscheidungen der Amtsrichter. Beide Beschwerdeführerinnen rügen eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Nur die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) hatte Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      C. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) ist begründet. Die von ihr angegriffene Auslagenentscheidung verletzt sie in ihrem Grundrecht aus Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, weil das Amtsgericht der Wirkkraft der verfassungsverbürgten Unschuldsvermutung nicht hinreichend Rechnung getragen hat. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1) ist hingegen nicht begründet.
      I.1. Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist auch kraft Art.6 Abs.2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 19, 342 [347]; 74, 358 [370]; st. Rspr.). Aus dem Prinzip, daß keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, folgt die Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates in einem justizförmig geordneten Verfahren durchzusetzen, das eine wirksame Sicherung der Grundrechte des Beschuldigten gewährleistet ... Dem Täter müssen deshalb Tat und Schuld nachgewiesen werden ... Bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet ... Die Unschuldsvermutung schützt also den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozeßordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist ...
      2. Die Unschuldsvermutung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips enthält keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote; ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht bedürfen vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dies ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers. Die Ausgestaltung des Strafverfahrens läßt die Unschuldsvermutung, um deren Widerlegung oder Fortgeltung es im Strafprozeß geht, hinreichend wirksam werden ...
      Die Unschuldsvermutung verwehrt es den Strafverfolgungsorganen nicht, schon vor Abschluß der Hauptverhandlung verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung eines Beschuldigten zu beurteilen ... Die Strafprozeßordnung kennt eine Vielzahl von - unter Umständen tief in Grundrechte der Betroffenen eingreifenden - Maßnahmen und Entscheidungen, die einen näher bestimmten Tatverdacht voraussetzen (vgl. etwa §100a StPO - Überwachung des Fernmeldeverkehrs; §102 StPO - Durchsuchung; §111a Abs.1 StPO - Untersuchungshaft; §127 Abs.2 StPO - vorläufige Festnahme; §203 StPO - Eröffnung des Hauptverfahrens). Solche verfahrensbezogenen Bewertungen von Verdachtslagen sind für die Durchführung eines an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Strafverfahrens unerläßlich ... Sie verstoßen deshalb nicht gegen die Unschuldsvermutung. Sowohl das Grundgesetz (Art.104 Abs.3 GG) als auch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art.5 Abs.1 Buchst. c EMRK), deren Inhalt und Entwicklungsstand bei der Auslegung des Grundgesetzes in Betracht zu ziehen sind (vgl. BVerfGE 74, 358 [370]), sehen die Feststellung des Tatverdachts als Voraussetzung für (vorläufige) Entscheidungen im Strafprozeß vor.
      Festlegungen zur Schuld des Angeklagten zu treffen, Schuld auszusprechen und Strafe zuzumessen, ist den Strafgerichten allerdings erst erlaubt, wenn die Schuld des Angeklagten in dem mit rechtsstaatlichen Verteidigungsgarantien ausgestatteten, bis zum prozeßordnungsmäßigen Abschluß durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist ...
      3. Mit der Schuldfrage ist der Strafrichter, wenn er die Einstellung des Verfahrens gemäß §153 Abs.2 StPO beabsichtigt, in verschiedenen Verfahrensstadien befaßt.
      a) Wird ein Strafverfahren eingestellt, bevor die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist, so fehlt es an der prozeßordnungsgemäßen Grundlage für eine Erkenntnis zur Schuld. Durch den Wortlaut der für das Offizialverfahren geltenden Einstellungsvorschrift des §153 StPO hat der Gesetzgeber dem Rechnung getragen; das Gesetz verlangt hier eine nur hypothetische Schuldbeurteilung: Das Gericht hat den Sachverhalt, so wie er sich im jeweiligen Verfahrensstadium abzeichnet, daraufhin zu prüfen, ob die Schuld des Angeklagten gering wäre, wenn die Feststellungen in einer Hauptverhandlung diesem Bild entsprächen. Es darf die strafrechtliche Relevanz nicht nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld feststellen; es darf sie lediglich unterstellen ...
      Schuldzuweisungen oder -feststellungen in den Gründen eines Einstellungsbeschlusses, der vor Durchführung einer Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife ergeht, können hiernach zur Feststellung eines selbständigen Grundrechtsverstoßes führen ... In aller Regel kann sich eine Grundrechtsbeschwer zwar nur aus dem Tenor einer Entscheidung ergeben, weil dieser allein deren Rechtsfolgen verbindlich bestimmt. In einzelnen Ausführungen der Gründe kann aber dann eine Verletzung der Unschuldsvermutung liegen, wenn durch diese dem Beschuldigten strafrechtliche Schuld attestiert wird, obwohl das Verfahren eingestellt, also dem tatsächlich bestehenden Tatverdacht nicht weiter nachgegangen wird, und das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zum Nachweis der Schuld nicht stattgefunden hat. Ein derartiger richterlicher Spruch zur Schuldfrage hat Gewicht, auch wenn er dem Betroffenen im allgemeinen Rechtsverkehr nicht vorgehalten werden darf ...
      b) Anders verhält es sich regelmäßig dann, wenn die Hauptverhandlung bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden ist. Gewinnt das Gericht hier - nach dem letzten Wort des Angeklagten - die Überzeugung, daß die aus seiner Sicht feststehende Schuld gering ist, so ist es nicht gehindert, dies in den Gründen der Einstellungsentscheidung auszusprechen.
      4. Die Unschuldsvermutung schließt nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen. Die Unschuldsvermutung verbietet, gegen den Beschuldigten Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion gleichkommen, oder ihm in einer strafgerichtlichen Entscheidung Schuld zuzuweisen, ohne daß ihm in dem gesetzlich dafür vorgeschriebenen Verfahren strafrechtliche Schuld nachgewiesen worden ist. Rechtsfolgen, die keinen Strafcharakter haben, können darum auch in einer das Verfahren abschließenden Entscheidung an einen verbleibenden Tatverdacht geknüpft werden.
      Allerdings muß dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, daß es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage. Dieser Unterschied muß auch in der Formulierung der Gründe hinreichenden Ausdruck finden. Dabei ist der Sinnzusammenhang der gesamten Entscheidungsgründe zu würdigen. Unabhängig davon sollten die Gerichte im Blick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung darauf Bedacht nehmen, nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden; dies gilt insbesondere bei Formblättern.
      5. Die Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit und die damit verbundene Auslagenentscheidung folgt diesen Grundsätzen.
      a) Die Einstellung nach §153 Abs.2 StPO beendet das Strafverfahren ohne Schuldspruch. Sie erfolgt in der Regel in einem Stadium, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen der Schuldspruchreife noch nicht vorliegen. Deshalb verlangt das Gesetz nicht eine - regelmäßig unzulässige - Schuldfeststellung, sondern das hypothetische Urteil, daß "die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre". Damit setzt es voraus, daß durch das Verfahren bis zur Einstellung ein Tatverdacht nicht ausgeräumt worden ist. Nach einhelliger Ansicht darf das Verfahren nach §153 Abs.2 StPO nicht eingestellt werden, wenn ein Tatverdacht nicht (mehr) begründet werden kann ... In einem solchen Fall wäre nicht die Einstellung des Verfahrens nach Ermessensgrundsätzen, sondern ein Freispruch geboten. Nur fortbestehender Tatverdacht kann die verfahrensrechtliche Grundlage für die vom Gesetz geforderte hypothetische Schuldbeurteilung bilden. Ohne die Feststellung, wessen der Angeschuldigte noch verdächtig ist, könnte nicht beantwortet werden, ob die Schuld als gering anzusehen wäre, falls sich der noch bestehende Verdacht bei weiterer Verfahrensdurchführung bis zur Schuldspruchreife bestätigen sollte.
      Daraus folgt: Die Einstellung läßt die Schuldfrage offen; der Angeschuldigte wird weder schuldig geprochen noch in einer dem Freispruch vergleichbaren Weise rehabilitiert. Das Gesetz trägt jedoch in §153 Abs.2 StPO einem Interesse des Angeschuldigten, den Tatverdacht auszuräumen, dadurch Rechnung, daß hier die Einstellung - anders als die Einstellung eines Privatklageverfahrens nach §383 StPO - nur mit Zustimmung des Angeschuldigten erfolgen darf. Die Zustimmung zur Einstellung enthält kein Eingeständnis strafrechtlicher Schuld ... Das Zustimmungserfordernis erklärt sich vielmehr daraus, daß die Einstellung in ihrer Rehabilitationswirkung hinter dem Freispruch zurückbleibt.
      b) Wird das Verfahren nach §153 Abs.2 StPO eingestellt, so kann das Gericht entgegen §467 Abs.1 StPO davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, weil es das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, die dies nach seinem Ermessen zuläßt (§467 Abs.4 StPO). Von welchen Erwägungen sich das Gericht bei dieser Auslagenentscheidung leiten lassen darf, ist §467 Abs.4 StPO nicht zu entnehmen.
      Die verfassungsrechtliche Unschuldsvermutung verbietet nicht, die Entscheidung über die Auslagenerstattung nach §467 Abs.4 StPO auf Erwägungen zum Tatverdacht zu stützen. Die Versagung des Auslagenersatzes ist keine Strafe und auch keine strafähnliche Sanktion, die einer Strafe gleichgeachtet werden kann. Denn die Gerichte lehnen es damit lediglich ab, die notwendigen Auslagen zu Lasten der Allgemeinheit zu erstatten. Das der Strafe innewohnende sozialethische Unwerturteil ist mit der Versagung des Ersatzes von Auslagen nicht verbunden.
      Darin unterscheidet sich der hier zu beurteilende Fall von den Sachverhalten, die Gegenstand der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1987 (BVerfGE 74, 358 ff.) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. März 1983 (EuGRZ 1983, S.475 ff. - Minelli) waren. Dort hatten die Strafgerichte dem Privatbeklagten die Gerichtskosten des Privatklageverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Privatklägers auferlegt und dies mit Schuldzuweisungen an den Privatbeklagten begründet. Im Lichte der Besonderheiten des Privatklageverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht diese Kostenüberbürdung aufgrund ihrer Verbindung mit der Schuldfeststellung als strafähnliche Sanktion angesehen ... Im Gegensatz dazu hat die hier zu beurteilende Entscheidung, daß der Angeschuldigte seine notwendigen Auslagen selbst zu tragen habe, von vornherein keinen strafähnlichen Charakter (ebenso EGMR, EuGRZ 1987, S.399 [403, Nr.63] - Lutz; S.405 [409, Nr.40] - Englert; S.411 [414, Nr.40] - Nölkenbockhoff).
      Die Berücksichtigung und Bewertung von Verdachtsgründen bei der Auslagenentscheidung nach §467 Abs.4 StPO stellt keine durch die Unschuldsvermutung verbotene Schuldfeststellung oder -zuweisung dar. Die Feststellung eines Tatverdachts ist etwas substantiell anderes als eine Schuldfeststellung oder -zuweisung ... Dieses Ergebnis entspricht auch der Auslegung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die als Auslegungshilfe bei der Ermittlung der Tragweite des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsgrundsatzes und der daraus abgeleiteten Unschuldsvermutungen heranzuziehen ist (vgl. EGMR, EuGRZ 1987, S.399 [403, Nr.63] - Lutz; S.405 ff. [409, Nr.40] - Englert; S.410 [414, Nr.40] - Nölkenbockhoff; zur Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe vgl. BVerfGE 74, 358 [370]).
      c) Die Unschuldsvermutung ist erst dann verletzt, wenn das Gericht dem Angeschuldigten in den Gründen eines Einstellungsbeschlusses oder der damit verbundenen Auslagenentscheidung - über Verdachtserwägungen hinaus - strafrechtliche Schuld zuweist, ohne daß diese zuvor prozeßordnungsgemäß festgestellt wurde ... Durch eine derartige Feststellung wird, auch wenn sie nur im Rahmen der Gründe geschieht und die Versagung der Auslagenerstattung nicht darauf beruht, der Angeschuldigte in der Sache als schuldig behandelt und damit in seinem Grundrecht verletzt ...
      Vor Abschluß der Hauptverhandlung ist eine hinreichende prozessuale Grundlage für Schuldfeststellungen nicht gegeben. Die Zustimmung des Beschuldigten zur Einstellung des Verfahrens kann weder als Schuldeingeständnis noch als Einverständnis mit der Feststellung strafrechtlicher Schuld in den Gründen des Einstellungsbeschlusses oder der damit verbundenen Kostenentscheidung gewertet werden.
      II. 1. Für die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1) gilt demnach:
      Das Amtsgericht hat die Einstellung des Verfahrens damit begründet, die Angeschuldigte sei hinreichend verdächtig, ein Vergehen nach §263 StGB begangen zu haben. Es wurde davon abgesehen, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, weil die Schuld der Angeschuldigten in hohem Maße wahrscheinlich sei. Diese Ausführungen verstoßen bei einer Gesamtschau nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip. Für sich betrachtet, ist es zwar im Blick auf die Unschuldsvermutung bedenklich, daß das Gericht an zwei Stellen den Begriff "Schuld" verwendet. Bei einer Würdigung der gesamten Beschlußgründe ergibt sich aber doch hinreichend deutlich, daß das Gericht lediglich einen Tatverdacht festgestellt und bewertet hat. Die Aussage, die Schuld erscheine gering, folgt unmittelbar auf die Feststellung, die Angeschuldigte sei eines Vergehens nach §263 StGB hinreichend verdächtig. Aus diesem Zusammenhang läßt sich ersehen, daß es sich bei der Schuldbewertung lediglich um die von §153 StPO geforderte, auf der zuvor festgestellten Verdachtslage beruhende hypothetische Beurteilung handelt. Soweit das Gericht bei der Begründung der Auslagenentscheidung von "Schuld" spricht, ergibt sich aus dem damit verbundenen Wahrscheinlichkeitsurteil sowie aus dem Zusammenhang mit der vorangegangenen Feststellung des Tatverdachts hinreichend, daß hier lediglich die Stärke des Tatverdachts bewertet worden ist. Die unzulängliche Wortwahl rechtfertigt es daher nicht, die Ausführungen des Gerichts im Ergebnis als eine gegen die Unschuldsvermutung verstoßende Schuldzuweisung anzusehen (vgl. EGMR, a.a.O., S.403 [Nr.62]; S.409 [Nr.39]; S.414 [Nr.39]).
      2. Die von der Beschwerdeführerin zu 2) angegriffene Entscheidung verstößt hingegen gegen die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Unschuldsvermutung. Das Amtsgericht hat die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführerin mit der Begründung versagt, "nach den bisherigen Feststellungen" liege "die schuldhafte Begehung einer Straftat" vor. Es hat damit strafrechtliche Schuld festgestellt, obwohl das Verfahren noch nicht bis zur Schuldspruchreife durchgeführt worden war. Die Formulierung "nach den bisherigen Feststellungen", die auf das Ergebnis der Hauptverhandlung Bezug nimmt, rückt die Erklärung, es liege eine schuldhafte Begehung einer Straftat vor, nicht in den Bereich einer bloßen Verdachtserwägung, zumal jeder das Verfahren nach §153 StPO beendende Beschluß sich auf den zur Zeit der Entscheidung vorliegenden Erkenntnisstand bezieht. Die sprachliche Wendung, daß eine schuldhafte Begehung der Straftat vorliege, ist mithin eine Feststellung von Schuld.

Abweichende Meinung des Richters Vizepräsident Mahrenholz:

      Der Senat hat nach meinem Urteil nicht überzeugend zu begründen vermocht, worin sich die in den beiden Fällen gebrauchten Wendungen unterscheiden. Zu Recht hält er den richterlichen Ausspruch "Nach den bisherigen Feststellungen ..." für einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. Aber ist das soziale Unwerturteil über die andere Beschwerdeführerin geringer, wenn es zu ihr heißt "Die Schuld ist in hohem Maße wahrscheinlich."? Im Falle Lutz (EGMR, EuGRZ 1987, S.399) hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Formulierung des Landgerichts, der Beschwerdeführer wäre "mit annähernder Sicherheit verurteilt worden" (a.a.O., S.403 [Nr.62]), nicht beanstandet, ebensowenig wie im Fall Nölkenbockhoff die Formulierung, die Verurteilung des Angeklagten sei "annähernd sicher zu erwarten gewesen" (a.a.O., S.414 [Nr.39]). Auf beide Urteile stützt sich der Senat. Hingegen hat die dritte Kammer des hier erkennenden Senats eine Kostenentscheidung aufgehoben, in der es hieß, "die Verurteilung sei im Falle der Durchführung einer Hauptverhandlung als sicher erschienen" (NStZ 1988, S.84). Im Falle Minelli hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte es als Verletzung der Unschuldsvermutung bezeichnet, wenn das Geschworenengericht feststellt, das Verfahren hätte "sehr wahrscheinlich zu einer Verurteilung" des Beschwerdeführers geführt. Trotz der Wortwahl sei das Geschworenengericht "zu Würdigungen, die mit der Unschuldsvermutung unvereinbar sind", gekommen (EuGRZ 1983, S.479 f. [Nr.38]). Hierin eine Linie zu finden, ist unmöglich.
      Doch auch wenn man in den hier beurteilten Entscheidungen unterschiedlich manifeste Verdachts-(Schuld-)qualifikationen erblickt, hätte die Beachtung der Unschuldsvermutung zur Aufhebung der Auslagenentscheidung im Falle der Beschwerdeführerin zu 1) führen müssen. Es handelt sich nicht um vorläufige Verdachtsfeststellungen im Verlaufe eines Strafverfahrens (wie etwa bei der Eröffnung des Hauptverfahrens [§203 StPO] oder beim Haftbefehl [§112 StPO] mit dem Ziel der Aufklärung des Verdachts). Vielmehr geht es hier um hoch bewertete und definitiv festgestellte Schuldwahrscheinlichkeit ohne Urteilsspruch. Sieht eine Strafprozeßordnung die Verfahrenseinstellung trotz starker Verdachtsmomente vor ..., gebietet die Unschuldsvermutung, sich sozialethischer Unwerturteile in solchen verfahrensabschließenden Entscheidungen einschließlich der Kostenentscheidungen zu enthalten. Dem Gewicht der mit richterlicher Autorität ausgestatteten Beurteilung, mit hoher Wahrscheinlichkeit sei jemand einer Straftat schuldig, kann sich niemand entziehen. Wird der Betroffene mit einer solchen Entscheidung in seinem sozialen Umfeld konfrontiert - bei Privatklageverfahren die Regel und im Offizialverfahren dort, wo ein Nebenkläger aufgetreten ist - bleibt ihm nur die ohnmächtige Erklärung, in Rechtssinne sei er aber nicht schuldig.
      Auf diese hauchdünne Differenz von unanfechtbar festgestellter Schuld und unanfechtbar festgestellter höchstwahrscheinlicher Schuld soll der Angeschuldigte nach der Senatsentscheidung verwiesen sein. Sie wird nicht erträglicher dadurch, daß die Verfahrenseinstellung an seine Zustimmung gebunden ist (§153 Abs.2 StPO). Denn mit ihr will der Angeschuldigte vielfach lediglich dem - öffentlichen - Strafverfahren entgehen, weil er einen Freispruch nicht für sicher hält oder weil er weitere Auslagen für die Verteidigung ersparen will ... Den Betroffenen auf die Möglichkeit zu verweisen, die Zustimmung zu verweigern, hieße deshalb, ihn ohne Rücksicht auf seine konkrete Prozeßsituation vor eine unzumutbare Alternative zu stellen.
      Folgt man der Auffassung des Senats, darf der Richter Schuld zwar nur nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung feststellen (§261 StPO); höchstwahrscheinliche Schuld soll sich aber nach dem Inhalt einer aus den Akten geschöpften Überzeugung zuweisen lassen. Damit wird die Unschuldsvermutung ihres Sinnes beraubt. Sie verpflichtet den Staat, im Strafprozeß die Schuld des Angeklagten zu beweisen. Sie ist Schutz des Unschuldigen bis zur endgültigen Feststellung von Schuld. Bis zu diesem Zeitpunkt ist er "ohne Schuld", er ist nicht "wahrscheinlich schuldig" oder "höchstwahrscheinlich schuldig". Die Unschuldsvermutung verbietet jede Zweideutigkeit neben der verfassungsrechtlich gewährleisteten Alternative "unschuldig oder schuldig" und ist damit mehr als bloß prozeßrechtliche Voraussetzung von Urteilsfolgen strafrechtlicher Art.Sie begleitet, mit den Worten des Richters des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Cremona, den Angeklagten während des gesamten Verfahrens bis zur Verurteilung (EuGRZ 1987, S.404, Abw. M.).
      Der Straßburger Gerichtshof hatte dies im Fall Minelli noch ebenso gesehen. Der Maßstab des Gerichts gipfelt in dem Satz: "Es genügt, wenn eine Begründung den Gedanken aufkommen läßt, das Gericht betrachte den Angeklagten als schuldig" (EuGRZ 1983, S.479 [Nr.37]). In der Subsumtion führte der Gerichtshof aus, das Schweizer Geschworenengericht habe in jenem Fall festgestellt, daß der von Minelli geschriebene Artikel "sehr wahrscheinlich zu einer Verurteilung" des Beschwerdeführers geführt hätte. Indem es von diesen Gründen ausgegangen sei, habe das Geschworenengericht das von Privatanklägern angeprangerte Verhalten als erwiesen dargestellt. Obschon ein formelles Urteil fehle und obschon in der Wortwahl eine gewisse Vorsicht beachtet worden sei, seien die Würdigungen des Geschworenengerichts mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar (a.a.O., S.479 f. [Nr.38]).
      Diesen Teil des Urteils hat der Senat in seiner Entscheidung vom 26. März 1987 (BVerfGE 74, 358 [374]) maßstäblich in Bezug genommen. Dieser Bezugnahme wegen traf er jene inzwischen schon klassische Feststellung, daß bei der Auslegung des Grundgesetzes auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen sei [sic], sofern dies nicht zu einer Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führe. Deshalb diene insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes (S.370). Eine solche Erklärung in diesem Beschluß wäre kaum verständlich, wenn der Unterschied zwischen den vom Senat beurteilten Fällen, in denen die Instanzgerichte lapidar von "Schuld" sprachen, und dem Fall Minelli vom Senat qualitativ verstanden worden wäre. Wohlüberlegt hatte der Senat seinerzeit in demjenigen Satz, der die Minelli-Entscheidung in Bezug nahm, formuliert, Schuld dürfe dem Beschuldigten in den Entscheidungsgründen nicht "attestiert" werden (S.374). Eben dieses Wort faßte den Minelli-Fall und die drei Privatklage-Fälle, die der Senat zu entscheiden hatte, zusammen. Auf die Feststellung des Senats (C.I.5.b.), daß eine Entscheidung, der Angeschuldigte habe seine eigenen Auslagen zu tragen, "von vornherein keinen strafähnlichen Charakter" haben könne, kommt es also nicht an. Die Begründung ist das Entscheidende.
      Expressis verbis hat die Europäische Kommission für Menschenrechte in der Beurteilung der Fälle Englert, Lutz und Nölkenbockhoff das Minelli-Urteil in gleicher Weise verstanden, so daß nach ihrer Auffassung eine Verletzung der Unschuldsvermutung vorlag (Art.6 Abs.2 EMRK, Report Nr.42 zu Fall Englert).
      Die vom Europäischen Gerichtshof im Minelli-Fall gezeigte Sensibilität in der Handhabung des Maßstabs der Unschuldsvermutung hat inzwischen die gesamte obergerichtliche Rechtsprechung erfaßt, selbst wo die Entscheidungen vereinzelt ohne die Berufung auf die Unschuldsvermutung auszukommen meinen (vgl. OLG Hamm, NJW 1986, S.734; OLG Zweibrücken, NStZ 1987, S.425 und NStZ 1989, S.134; OLG München, NStZ 1989, S.134). Zu dieser neueren Linie der Rechtsprechung steht die Senatsentscheidung quer. Sie steht ebenso quer zur nahezu gesamten Wissenschaft, desgleichen zu dem strengen Verständnis des Bundestages von der Unschuldsvermutung, die er von der 5. Legislaturperiode an, als er §467 StPO unter Berufung auf Art.6 Abs.2 EMRK reformierte, bis zur Gegenwart durchgehalten hat (vgl. u.a. BTDrucks. zu V 2600, 2601, S.19 ff.; 10/6124, S.16), und nicht zuletzt zur Auffassung der Bundesregierung (BTDrucks. 10/1313, S.7; 10/5305, S.22).
      Es ist Sache des Gesetzgebers, in einer unanfechtbaren Formulierung des §467 Abs.4 StPO zu bestimmen, wie weit die Auslagenerstattung in Fällen der Einstellung nach §153 StPO gehen soll. Interessen der Staatskasse können zwar die Auslagenerstattung Angeschuldigter begrenzen, nicht aber die für sie streitende Unschuldsvermutung.