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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Volker Röben


XII. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

h) Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

       74. Das OVG Nordrhein-Westfalen hatte sich in seinem Urteil vom 31.5.1995 (17 A 3538/92 - InfAuslR 1996, 309) mit der Bedeutung von Art. 8 EMRK für den Familiennachzug in die Bundesrepublik zu befassen. Die Klägerin, eine Mutter von Flüchtlingen kurdischer Volkszugehörigkeit türkischer Staatsangehörigkeit, beantragte bei der deutschen Auslandsvertretung ein Besuchsvisum von einem Monat. Der Antrag wurde wegen Bedenken hinsichtlich der Rückkehrbereitschaft abgelehnt. Klage und Rechtsmittel blieben ohne Erfolg. Das OVG führt zur Begründung aus: Der Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AuslG greife nicht erst bei einer tatsächlich feststehenden Beeinträchtigung der Interessen der Bundesrepublik ein, sondern bereits bei einer Gefährdung. Dafür reiche es aus, wenn die auf gewichtigen Indizien fußende begründete Besorgnis bestehe, der Ausländer wolle ein von ihm beantragtes Visum nutzen, um tatsächlich nach der Einreise einen Aufenthalt zu erwirken, der vom Visum nicht gedeckt sei. Habe eine Auslandsvertretung über ein Besuchsvisum zu entscheiden, dürfe sie erst dann eine Gefährdung der Interessen der Bundesrepublik i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AuslG annehmen, wenn Zweifel an der Rückkehrbereitschaft des Antragstellers ein solches Gewicht erreichten, daß die Wahrscheinlichkeit eines beabsichtigten dauerhaften Verbleibs des Ausländers im Bundesgebiet wesentlich höher einzuschätzen sei als die Wahrscheinlichkeit seiner Rückkehr. Ob diese Voraussetzungen hier vorlagen, ließ das Gericht offen, da die Ablehnung des Visums auch als Ermessensentscheidung gerechtfertigt sei. Die Ermessensentscheidung halte sich in den Grenzen des vorrangigen Rechts. Namentlich der Anspruch auf Achtung des Familienlebens aus Art. 6 Abs. 1 GG, der auch auf Ausländer Anwendung finde, sei gewahrt. Aus dem Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK ergebe sich gleichfalls keine Verpflichtung zur Gestattung der Besuchsreise. Dabei möge es auf sich beruhen, ob Art. 8 EMRK generell über die Gewährleistungen des Art. 6 GG hinausgehe. Denn die Beklagte habe der Klägerin nicht generell den Besuch bei ihrem im Bundesgebiet lebenden Sohn ausgeschlossen, sondern die Gestattung von Voraussetzungen abhängig gemacht, die zu erfüllen ihr zumutbar seien, nämlich von der Glaubhaftmachung ihrer Rückkehrbereitschaft.

       75. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.8.1995 (1 B 119.95 - InfAuslR 1996, 393) betraf die Klage eines türkischen Staatsangehörigen gegen seine Ausweisung wegen einer Straftat. Er machte geltend, Art. 8 EMRK stehe seiner Ausweisung entgegen, da er zur Türkei keine familiären oder emotionalen Bindungen habe und auch die Sprache nicht spreche. Klage und Rechtsmittel einschließlich der Nichtzulassungsbeschwerde blieben erfolglos. Das Bundesverwaltungsgericht führte aus, die Revision werfe keine im Revisionsverfahren klärungsbedürftigen Fragen auf. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie auch des Bundesverwaltungsgerichts sei geklärt, daß Art. 8 EMRK nicht per se die Ausweisung eines Ausländers aufgrund seiner familiären Beziehungen in dem ausweisenden Staat verbiete, sondern daß das staatliche Ziel mit Art. 8 Abs. 2 EMRK vereinbar sein müsse. Zu diesen legitimen Zielen zählten die Verhinderung von Straftaten und der Schutz der öffentlichen Ordnung. Die Behauptung einer falschen Anwendung dieser Voraussetzungen durch die Tatgerichte begründe die Zulässigkeit der Revision nicht.1

       76. Im dem dem Beschluß des Hessischen VGH vom 29.5.1995 (13 TH 310/95 - FamRZ 1995, 286-287) zugrunde liegenden Sachverhalt begehrte die Antragstellerin eine einstweilige Anordnung gegen ihre Abschiebung. Zur Begründung trug sie vor, sie habe in der gemeinsamen Strafhaftzeit einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet. Der VGH bestätigte die den Antrag ablehnende Entscheidung des VG. § 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG als Abschiebunghindernis finde im Fall der Antragstellerin keine Anwendung, da sie im Gefängnis geheiratet und zu keiner Zeit ein Familienleben mit ihrem Ehemann geführt habe. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 26.3.1992 in dem Fall Bedjaoui,2 in dem der Gerichtshof entschieden habe, daß das Recht auf ein Familienleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht durch die Verbüßung einer Haftstrafe verletzt werden dürfe, habe eine andere Fallkonstellation zum Gegenstand. In diesem Fall hätten die Beschwerdeführer ein Familienleben vor Antritt der Haftstrafe begonnen. Ferner habe der Gerichtshof seine Entscheidung, nach der die Anwendung des französischen Abschiebungsrechts unverhältnismäßig wäre, darauf gestützt, daß der Abzuschiebende in Frankreich geboren sei und dort mehr als 40 Jahre gelebt habe.

       77. Das LG Bonn wies mit Beschluß vom 5.9.1995 (1 T 657/94 - NJW 1996, 1415) den Antrag des biologischen Vaters eines Kindes, der nie mit der Kindesmutter verheiratet war, auf Umgangsgewährung ab. Das Kind wurde während der Ehe der Kindesmutter geboren. Nachdem die Kindesmutter und ihr Ehemann dem Antragsteller eine Zeitlang Umgang gestattet hatten, verboten sie ihm jeden Kontakt mit dem Kind. Ein Umgangsrecht ergibt sich nach dem LG weder aus dem BGB noch aus Art. 8 Abs. 1 i.V.m. 14 EMRK. Der Eingriff in das Recht des Antragstellers auf Familienleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, welches hier unterstellt werden solle, könne im Familienrecht des BGB gesehen werden. Art. 8 EMRK sehe jedoch die Kindessorge als die alleinige Verantwortung der Mutter und ihres Ehemannes an, wenn das Kind ehelich geboren sei, Mutter und Ehemann zusammen lebten und weder Mutter noch Kind die Vaterschaft angefochten hätten. Die Abwägung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK zwischen dem Interesse des biologischen Vaters und dem ungestörten Familienleben der Mutter, ihres Ehemannes und des Kindes falle zugunsten letzteren aus, da die Konvention und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte großes Gewicht auf das Kindeswohl legten.

       78. Demgegenüber entschied das Amtsgericht - Familiengericht - Kamen mit Beschluß vom 13.4.1995 (10 X K 2087 - FamRZ 1995, 1079) stattgebend über den Antrag eines biologischen Vaters auf gemeinsame Sorgerechtsgewährung. Die EMRK sei geltendes Recht und binde gemäß Art. 59 Abs. 2 GG alle drei Staatsgewalten. § 1705 Satz 1 BGB könne mangels ausdrücklicher Formulierung keine Rechtsgrundlage i.S.v. Art. 8 Abs. 2 EMRK für einen Eingriff in das Recht des Antragstellers auf Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK bilden. Daher würde die gerichtliche Anwendung von § 1705 Satz 1 BGB einen Eingriff in das Recht des Antragstellers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen. Dies, sowie das Recht des Antragstellers aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 auf zeitigen Rechtsschutz in Familiensachen verpflichte das Gericht zu der stattgebenden Entscheidung.

       79. In der mit Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.11.1995 (1 B 60/95 - NVwZ-RR 1995, 1097) entschiedenen Nichtzulassungsbeschwerde machte der Revisionsführer, ein italienischer Staatsangehöriger, geltend, nach dem Verlust seines Aufenthaltsrechts gemäß AufenthaltsG/EWG stelle ein Wandel in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK eine Änderung der Rechtslage dar, die ein Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens erforderlich mache. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Nichtzulassungsbeschwerde zurück. Es sei in der Rechtsprechung des Gerichts anerkannt, daß ein Rechtsprechungswandel keine Änderung der Rechtslage bedeute. Für die Rechtsprechung des EGMR gelte nichts anderes. Ferner, so führte das Bundesverwaltungsgericht aus, habe der behauptete Rechtsprechungswandel auch gar nicht stattgefunden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe stets geurteilt, daß ein Eingriff in das Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK dem verfolgten Ziel verhältnismäßig sein müsse.



      1 Das Bundesverwaltungsgericht wies mit Beschluß vom 6.3.1995 (1 B 30.95 - InfAuslR 1996, 272) eine auf die Verkennung von Art. 8 EMRK im Ausweisungsschutz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde zurück. Es sei in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wie auch des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, daß Art. 8 EMRK die Ausweisung eines Familienangehörigen nicht schlechthin untersage, sondern lediglich an die Voraussetzungen knüpfe, daß dies nur zu einem der in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugelassenen Ziele und nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erfolgen dürfe.

      2 InfAuslR 1993, 86, 88.