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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Kai Peter Ziegler


X. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

f) Art. 9 EMRK als Abschiebungshindernis

       80. Der VGH Kassel verlangte in seinem Beschluß vom 19.5.1998 (10 UE 1974/97.A - NVwZ-RR 1999, 340) die Berücksichtigung der Rechtsgüter des Art. 9 Abs. 1 EMRK bei der Prüfung konventionsrechtlichen Abschiebungsschutzes nach § 53 Abs. 4 AuslG. Abschiebungsschutz komme jedoch nur in Betracht, wenn im Zielstaat das religiöse Existenzminimum nicht entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG zu Art. 16a GG gewährleistet werde. Nach erfolglosem Asylantrag wurde für einen pakistanischen Staatsangehörigen festgestellt, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Klage und Berufung des Antragstellers hatten keinen Erfolg. Für den VGH folgt aus dem Wortlaut des § 53 Abs. 4 AuslG, daß sich Abschiebungshindernisse aus sämtlichen Menschenrechten der EMRK, einschließlich Art. 9 EMRK, ergeben können. In der Rechtsprechung der EKMR und des EGMR seien Abschiebungsverbote bislang allerdings in erster Linie aus Art. 3 EMRK abgeleitet worden, der von dem absoluten Schutzgebot des Art. 15 Abs. 2 EMRK erfaßt werde. Selbst bei den absolut geschützten Rechtsgütern des Art. 3 EMRK müsse die verbotene Behandlung einen bestimmten Schweregrad erreichen, bevor sie als Verstoß gewertet werden könne. Nicht von dem absoluten Schutzgebot erfaßte Rechtsgüter wie jene des Art. 9 EMRK seien daher nicht als subjektive Rechte zwingend über § 53 Abs. 4 AuslG zu gewährleisten und könnten erst bei einer nachhaltigen und gravierenden Unterschreitung der Schutzstandards zu Abschiebungsschutz führen. Dies stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG zu Art. 16 a GG, wonach lediglich das "religiöse Existenzminimum" asylrelevant geschützt sei und wahre so das Rangverhältnis zwischen Grundgesetz und dem einfachgesetzlichen Geltungsanspruch der Konvention. Schließlich habe die EKMR den Antrag eines anderen Angehörigen der Ahmadiya-Glaubensgemeinschaft wegen Abschiebungsschutzes unter Art. 9 Abs. 1 EMRK als offensichtlich unbegründet abgewiesen.

       81. Das OVG Hamburg lehnte mit Beschluß vom 2.9.1998 (5 Bf 418/98.A - NVwZ-RR 1999, 342) einen Berufungsantrag mit der Begründung ab, daß Art. 9 EMRK nicht das Recht auf Kriegsdienstverweigerung umfasse. Nach Auffassung des Gerichtes stellt es keinen Verstoß gegen Art. 9 EMRK dar, wenn kurdische Wehrpflichtige entgegen ihrem Gewissen gezwungen würden, ihren Wehrdienst in den kurdischen Regionen abzuleisten und dort gegen ihre Landsleute zu kämpfen, weil Art. 9 EMRK das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht umfasse. Dies belegten wiederholte und bislang erfolglose Versuche sowohl der parlamentarischen Versammlung des Europarats97 als auch des Europäischen Parlaments,98 dieses Recht in der EMRK zu verankern. So habe etwa die Bundesregierung 1985 auf eine kleine Anfrage im Bundestag geantwortet, daß die Aufnahme eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die EMRK bislang keine ausreichenden Mehrheiten im Europarat habe finden können. 99 1993 habe auch das Europäische Parlament seine Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß dieses Recht in keinem internationalen Text über den Schutz der Menschenrechte verankert sei und somit in die souveräne Zuständigkeit der Staaten falle.100 Art. 9 EMRK könne deshalb nicht verletzt werden, wenn kurdische Wehrpflichtige entgegen ihrem Gewissen ihren Wehrdienst in kurdischen Regionen abzuleisten hätten.

      



      97 Empfehlung 816/77, EuGRZ 1977, 481; Feststellung vom 10.1.1987, EuGRZ 1987, 134.
      98 Empfehlung vom 7.2.1983, EuGRZ 1983, 141; Entschließung vom 13.10.1989, EuGRZ 1989, 460; Entschließung vom 11.3.1993, EuGRZ 1993, 313.
      99 BT-Drs. 10/3014.
      100 Entschließung vom 19.1.1994, EuGRZ 1994, 194.